Vor einigen Jahren fiel mir in der Buchhandlung meines Vertrauens ein dickes Buch des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewskij auf, dessen Titel ich nicht kannte: „Ein grüner Junge“. In meinem Wegbegleiter für große Literatur, dem großartigen Buch „Die wunderbaren Falschmünzer“ von Rolf Vollmann fehlte dieser Roman. Ich kaufte das Buch und dann blieb es zunächst einmal liegen.

Der Roman ist ein spätes Werk des Autors und hat nie die Bedeutung seiner anderen großen Romane erlangt. Zu Unrecht.

Der Roman ist ein großes Lektürevergnügen.

Ein junger Mann, Arkadij, ein Grünschnabel oder wie Dostojewskij es selbst auf Seite 604 meiner Ausgabe beschreibt: „ein Mensch mit Ihrem noch nicht infizierten Verstand und Ihrem liebevollen, unverdorbenen, frischen Herzen…“

Arkadij erzählt uns ein Jahr seines Lebens. Er ist unehelicher Sohn eines Adligen und einer ehemaligen Magd. Sie ist mit einem früheren Leibeigenen verheiratet, der sich auf eine lebenslange Pilgerschaft begeben wird, um seinem Herrn die Frau zu überlassen. Wersilow, der Gutsherr, ist verheiratet, hat zwei eheliche Kinder und wird mit der ehemaligen Dienerin auch noch eine Tochter zeugen.

Arkadij lernt seinen Vater erst spät kennen und will ihm näherkommen. Er schreibt die Begebenheit eines Jahres nieder: „Übrigens deutet auch alles, was ich bis jetzt geschrieben habe – anscheinend mit übertriebener Akribie -, auf die Zukunft hin und wird dann notwendig sein. Zu seiner Zeit wird sich alles bewähren; ich brachte es nicht fertig, mich zu beschränken; und wenn man es langweilig findet, so bitte ich, nicht weiterzulesen.“ Ja, unser Arkadij schildert sehr ausführlich, was passiert. Der große Dostojewskij greift in seine Trickkiste, um die Lesenden an den Roman zu binden: „Das alles habe ich erst nachträglich kombiniert und – mich nicht getäuscht. … Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, als ich angefangen habe zu schreiben: Es bleibt doch im Inneren unermesslich viel mehr als das, was man in Worte fassen kann.“

Was sich vor uns abspielt ist ein großes Theaterstück mit vielen auch sehr überraschenden Wendungen. Verzweifelten Menschen, die drohen, irre zu werden. „Ich sage abermals vorab: In dieser ganzen letzten Zeit, und bis zu der Katastrophe, kam es irgendwie dazu, dass ich mit Menschen zusammentraf, die so erregt waren, dass sie beinahe geisteskrank wirkten und ich Gefahr lief, unbeabsichtigt von ihnen angesteckt zu werden.“

Unser Autor spielt mit uns: „Knappheit ist die erste Bedingung für das Künstlerische.“ Oder „Die Einfachheit, mon cher, ist in Wirklichkeit das größte Raffinement.“

Es ist ein Vergnügen, sich dem kurvenreichen Parcours dieses Romans zu überlassen. Das Frauenbild entspricht dem des 19.Jahrhunderts „… und außerdem ist der Mensch eine so komplexe Maschine, dass man ihn in manchen Fällen nicht durchschauen kann, zumal, wenn dieser Mensch – eine Frau ist.“ Und: „Oh, ich fühlte, dass sie log (wenn auch aufrichtig, denn man kann auch aufrichtig lügen) …“

Mit Wersilow, seinem Vater, den er verehrt, diskutiert er über Russland und seine Menschen: „Kaum gerät der Russe auch nur ein Haarbreit aus der üblichen, durch die Gewohnheit für ihn zum Gesetz gewordenen Bahn – und schon weiß er nicht mehr, was er tun soll. In der Bahn ist alles ganz klar: Einkommen, Rang, gesellschaftliche Stellung, Equipage, Besuche, Dienst, Gattin – und bei der leisesten Störung -, was bin ich? Ein dürres, vom Winde gejagtes Blatt.‘“

Und: „‚Die heutige Zeit‘, begann er, nachdem er etwa zwei Minuten geschwiegen und unablässig irgendwohin in die Luft gestarrt hatte, ‚die heutige Zeit ist die Epoche des goldenen Mittelmaßes und der Gefühlsarmut, der Vorliebe für Ignoranz, Faulheit, der Unlust zu handeln und des Anspruchs auf Fix-und-Fertiges. Niemand will sich Gedanken machen; nur selten kommt jemand auf eine eigene Idee.‘ … ‚Heute werden die Wälder Russlands abgeholzt, sein Boden ausgelaugt, in eine Steppe verwandelt und für die Kalmücken zugerichtet. Steht ein Mensch mit einer Hoffnung auf und pflanzt ein Bäumchen – schon lachen ihn alle aus: <Wirst du denn jemals seine Früchte erleben?> Andererseits debattieren Menschen guten Willens darüber, was in tausend Jahren sein wird.‘“

Ja und dann lese ich Sätze, die mich an die Suche nach der späteren verlorenen Zeit erinnern: „Es gibt nichts Schöneres, Tatjana Pawlona, als wenn man sich auf einmal, mitten in den Kindheitserinnerungen, für einen Augenblick in den Wald versetzt, tief ins Gesträuch, und eigenhändig Haselnüsse pflückt…“

Dieser Roman benötigt ein Personenverzeichnis, dieser Roman, grandios übersetzt von Swetlana Geier, benötigt Anmerkungen, auch diese fehlen nicht und erschließen dem Lesenden die Rückgriffe auf andere Romane des Autors und Bezüge auf andere Autoren.

Ich fühlte mich gut unterhalten und gehe gebildeter aus der Lektüre hervor. Wie sagt unser Grünschnabel? „Bildung ist niemals hinderlich.“

Auf Seite 705 lese ich: „Es ist ein sonderbarer Zustand, wenn man sich entschließen muss und sich nicht entschließen kann.“ Sich zur Lektüre dieses Romans zu entschließen, fällt leicht! Einfach lesen und sich vergnügen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert