Sogar mein altes Fischer Lexikon aus den späten siebziger Jahren verzeichnete Mafra bereits: „Ort in Portugal, nordwestl. von Lissabon, 7000 E. (1975); riesige Klosteranlage, 1717 – 35 von dt. Baumeistern (J. F. und J. P. Ludwig) nach dem Vorbild von → El Escorial.“ Ein Farbfoto auf der nächsten Seite des Lexikons zeigt den prächtigen Bau.
Der Bau gründete sich auf dem Versprechen des damaligen portugiesischen Königs, Dom João V.: Würde seine junge österreichische Gattin, ihm endlich das erste Kind schenken, sollte in Mafra ein Kloster errichtet werden. Dieses Versprechen oder auch ganz natürliche Umstände hatten die Geburt von Maria Bàrbara zur Folge. Sechs Jahre nach diesem Versprechen begannen die Bauarbeiten.
José Saramago berichtet von diesem Bau, seiner offiziellen Einweihung am 22. Oktober 1730, als der Bau noch nicht fertiggestellt war, aber wann wurde ein Bau schon jemals pünktlich fertiggestellt? Saramago berichtet jedoch in diesem Roman „Das Memorial“ über viel mehr.
Der König und der Bau dieser Klosteranlage sind nur ein Zweig der Geschichte. Drei Menschen, die alle mit B im Vornamen beginnen, sind die anderen Äste der Geschichte. Da ist der Pater Bartolomeu, er ist im Palast wohlgelitten, nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Erfinder. Er hat den Traum vom Fliegen, erhält Unterstützung von seiner Majestät und wird eines nicht so fernen Tages den „Dufthauch von Ketzerei“ um sich verbreiten. Die Inquisition lauert schließlich überall. Er ist der Beichtvater Blimundas, die über eine besondere Gabe verfügt: im nüchternen Zustand vermag sie durch Mensch und Materie zu schauen. Eines Tages wird sie diese Fähigkeit ihrem „Gatten“ Baltasar „vorführen“. Dabei wird sie allerdings ihn nicht anschauen, denn sie hat sich geschworen, nicht in das Innere dieses Mannes zu blicken.
„Die Frau, die da auf der Türschwelle sitzt, hat im Bauch einen Knaben, doch dem Kind hat sich die Nabelschnur zweimal um den Hals gewickelt, möglich, dass es überlebt, möglich, dass es stirbt, ich finde es nicht heraus …der junge Mann dort, der mich anschaute, hat ein von der Lustseuche zerfressenes wie eine Brunnenröhre nässendes Glied, mit Lappen umwickelt, trotzdem wirft er mit Blicken um sich, … Und wie soll ich glauben, dass dies alles wahr ist, da du mir lauter Dinge sagst, die mein Auge nicht sieht, fragte Baltasar, und Blimunda erwiderte: Bohr mit deinem Stachel ein Loch an dieser Stelle da, du wirst eine Silbermünze finden, und Baltasar grub und stieß auf die Münze. Hast dich getäuscht, Blimunda, es ist eine Goldmünze.“
Baltasar, der hat in einem Krieg seine linke Hand verloren, eine Prothese erhalten, die sowohl mit einem Haken als auch mit einem Stachel versehen sein kann. Mit dem Haken kann er Arbeiten verrichten, mit der Spitze töten. Baltasar und Blimunda lernen sich kennen, als sie beide der Verbrennung von Ketzern und der Verschiffung von weniger schuldigen Menschen beiwohnen. Blimundas Mutter wird nach Angola verbracht. Der Mann sieht die Frau und diese den Mann und schon stehen sie nebeneinander und später traut sie der Pater Bartolomeu. Sie werden ihm helfen das Luftschiff zu bauen und es gemeinsam fliegen.
Saramago nimmt uns mit zum Fronleichnam Umzug, zum Stierkampf, zu den bereits erwähnten Verbrennungen. Und wie er das alles schildert, in einer barockisierenden Sprache, die der Übersetzer Andreas Klotsch so wundervoll im Deutschen zum Klingen bringt: Büßerprozession „…der Ehemann tut, als wache er gerade auf, die Ehefrau tut, als habe sie ihn versehentlich geweckt; falls er fragt: Und, wie war’s?, wissen wir bereits, was sie erwidern wird, zum Umfallen müde fühle sie sich, die Füße schmerzten entsetzlich, sie habe ganz taube Knie, aber die Seele getröstet, und sie nennt die magische Zahl, sieben Kirchen habe sie aufgesucht …“
„… es ist der große, nicht endende Austausch unter Frauen, nichtig mutet er den Männern an, sie ahnen nicht, dass ebendieses Reden die Welt in ihrer Kreisbahn hält, würden nicht die Frauen untereinander reden, die Männer hätten den Sinn für ein Zuhause und den Planeten längst verloren.“
„… aber diese Leute aus dem Volk sind nicht zimperlich, die setzen oder legen sich wohin auch immer, am besten noch der Mann sein Haupt einem Weib in den Schoß, dies wohl war die letzte Geste, als die Wasser der Sintflut die Welt schon ertränkten.“
Domenico Scarlatti taucht auf. Er ist der Lehrer der Maria Bàrbara. Er und der Pater freunden sich an, der Pater wird Scarlatti sogar den künstlichen Vogel zeigen; der Komponist spielt auf einem herbeigeschafften Cembalo eigene Kompositionen und man tauscht sich aus: „… die Musik ist ein weltlicher Rosenkranz aus Tönen, Mutter unser, die du bist auf Erden: … Wohlbedachte Worte dies, die mein oberflächliches Reden zurechtrücken, die Menschen haben gemeinhin den Fehler, dass sie statt der Wahrheit eher das sagen, was der andere vermeintlich gern hört.“ „Ich wünschte mir, meine Musik vermöchte eines Tages Satz, Gegensatz und Schlussfolgerung zu geben, wie es Predigt und Rede tun.“ „Besieht einer sich das Was und Wie genauer, dann allerdings Senhor Scarlatti, erkennt er, dass da zumeist Qualm gegen Nebel gesetzt wird und die Schlussfolgerung ein Nichts ist.“ Die Lesenden spüren den „Dufthauch der Ketzerei“.
Wie schon angedeutet, werden die drei B mit dem Luftschiff abheben. Es ist Ketzerei, aber: „… doch nun ist der Pater in der wohlbekannten Lage des Schöpfers, der sich von seinem Kinde nicht trennen kann, des Träumers, dem der Traum abhandengekommen.“ Nur wenige werden das Gerät am Himmel sehen: „… einzig eine Frau, die auf einem Stoppelfeld liegt, unter einem Mann, sie meint am Himmel etwas vorbeiziehen zu sehen, hält es aber für ein Blendwerk ihrer Lust.“ Und Saramago beschreibt einen Sonnenuntergang zum Niederknien: „Die Sonne ruht über dem Meereshorizont wie eine Apfelsine auf dem Handteller, sie ist eine aus der Schmiedeglut gezogene erkühlende Metallscheibe, schon schmerzt ihr Strahlen die Augen nicht mehr, weiß war sie, dann kirschfarben, rot, dann blutrot, noch glänzt sie, matt, sie verabschiedet sich, lebt wohl, bis morgen; …“
Was kann ich noch berichten? Der Autor beschreibt den Transport eines Steins – für die Empore über dem Portikus der Kirche. Ein Stein, tonnenschwer aus einem Stück. Dabei sterben Menschen bei, modern ausgedrückt, Arbeitsunfällen. Und während der tagelangen Schufterei haben die Menschen Erkenntnisse, die eingestreut werden: „… ein geübter Magen weiß im Wenig Viel zu finden, …“
„Die Anstrengung wurde reinste Erschöpfung.“ „… jedermanns Welt ist das, was er sieht.“
Noch eine kleine Erzählung aus dem wundervollen Roman: Der König im Gespräch mit dem Kämmerer. Denn natürlich wird der Bau teurer als geplant, er verschlingt Unsummen. Es geht um die Frage, ob man genug Geld habe. Und unser Autor, der immer wieder mit uns Lesenden spielt, schreibt: „Dieses Zwiegespräch ist nicht echt, ist erfunden, ist verleumderisch und auch äußerst unmoralisch, es respektiert nicht Thron und nicht Altar, es lässt einen König und einen Schatzmeister wie Maultiertreiber in der Schenke reden, …
„… meine buchhalterische Praxis sagt mir tagtäglich, dass am schlimmsten jener dran ist, dem es nicht an Geld fehlt, dies ist der Fall in Portugal, das ein Sack ohne Boden ist, zum Schlund hinein und zum offenen Arsch hinaus, mit Verlaub Majestät.“
Wenn man dann noch einen kleinen Absatz, keine halbe Buchseite, über den Tod des Vaters von Baltasar liest, weiß man, spürt man, ein Glanzstück der Prosa vor sich zu haben.
Ein berauschender Roman, ein großes Stück Weltliteratur.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.