Das ist der Untertitel eines Reiseberichts der besonderen Art: „Die Ringe des Saturn“. Der Autor ist W. G. Sebald.

In zehn Kapiteln erzählt der Autor von einer Wanderung durch die Grafschaft Suffolk. Doch, wie es bei Sebald nun einmal ist, beschreibt er nicht nur die Landschaft, die wenig lieblich zu sein scheint, sondern er schweift ab. „Gegen die Landseite zu ist nichts als graues Wasser, Marschland und Leere.“

Ihm reicht ein Blick auf das „deutsche Meer“, wie er die Nordsee öfters nennt, um auf eine weit zurückliegende Seeschlacht zu sprechen zu kommen. Gedanken an bereits verstorbene Weggefährten führen ihn zu einem im frühen siebzehnten Jahrhundert geborenen Gelehrten, Thomas Browne. Lassen das Anatomiegemälde Rembrandts in den Mittelpunkt des Interesses geraten. Er zitiert dann Browne, das nichts Bestand habe auf dieser Welt: „Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der Zerstörung. Es verläuft nämlich die Geschichte jedes einzelnen, die jedes Gemeinwesens und die der ganzen Welt nicht auf einem stets weiter und schöner sich aufschwingenden Bogen, sondern auf einer Bahn, die, nachdem der Meridian erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit.“

Er bringt uns Brownes Erkenntnisse weiter näher: „Der Arzt, der die Krankheiten in den Körpern wachsen und wüten sieht, begreift die Sterblichkeit besser als die Blüte des Lebens. Ihn dünkt es ein Wunder, dass wir uns halten auch bloß einen einzigen Tag. Gegen das Opium der verstreichenden Zeit, schreibt er, ist kein Kraut gewachsen.“ Und weil dies so ist, dürften wir Erdlinge auch keinen Anspruch auf irgendwelche Werke erheben: „Den eigenen Namen auf irgendein Werk zu setzen, sichert niemandem das Anrecht auf Erinnerung, denn wer weiß, ob nicht gerade die besten spurlos verschwunden sind.“

Man könnte dieses Buch auch den Titel „Erinnerungsschatten“ geben. Seine Berichte über Besuche bei Menschen, deren Namen ich noch nie vorher gehört oder gelesen hatte, gehören zu den großartigen Momenten, die ein lesender Mensch, erleben kann.

„Wie ich an jenem Abend in Southwold so dasaß auf meinem Platz über dem deutschen Ozean, da war es mir auf einmal, als spürte ich ganz deutlich das langsame Sichhineindrehen der Welt in die Dunkelheit.“

„Gleich einer Schleppe wird der Nachtschatten über die Erde gezogen, und da nach Sonnenuntergang fast alles von einem Weltgürtel zum nächsten sich niederlegt, so fährt er fort, könnte man, immer der untergehenden Sonne nachfolgend, die von uns bewohnte Kugel andauernd voller hingestreckter, wie von der Sense Saturns umgelegter und geernteter Leiber erblicken – einen endlos langen Kirchhof für eine fallsüchtige Menschheit.“

„Wahrscheinlich sind es verschüttete Erinnerungen, die die eigenartige Überwirklichkeit dessen erzeugen, was man im Traum sieht.“

Sebald döst vor dem Fernsehapparat nach einer anstrengenden Wanderung in seiner Unterkunft ein. Es läuft eine Dokumentation in der BBC über Roger Casement, der 1916 wegen Hochverrats in London hingerichtet wurde.

Von Casement wendet er sich Joseph Conrad zu. Die erzählerische Verknüpfung beider Lebensläufe nachzuverfolgen, bleibt den Lesenden vorbehalten.

So hangelt sich der Autor ständig von Ast zu Ast: „Mitte Januar 1891 kommt er (Joseph Conrad) in Ostende an, in demselben Hafen, den in wenigen Tagen ein gewisser Joseph Loewy an Bord des nach Boma gehenden Dampfschiffs ‚Belgian Prince‘ verlässt. Loewy, ein Onkel des damals siebenjährigen Franz Kafka, weiß als ehemaliger Panamist genau, was ihn erwartet.“

Sebald kommt auf eine Erzählung Borges zu sprechen und nutzt diese Erzählung zu einer Auseinandersetzung über die Darstellung von Geschichte und der Frage nach der Bedeutung der Zeit.

„Kunst der Repräsentation der Geschichte: Sie beruht auf einer Fälschung der Perspektive. Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war.“

„Und mit der Auflösung der Zeit lösten auch alle anderen Verhältnisse sich auf.“

„Die Leugnung der Zeit“

Ab S. 210 schreibt Sebald „In Memoriam Michael Hamburger“. Ein grandioses Porträt!

Sebald wendet sich der Frage zu: Warum schreiben? „…aus Gewohnheit oder aus Geltungssucht, oder weil man nichts anderes gelernt hat, oder aus Verwunderung über das Leben, aus Wahrheitsliebe, aus Verzweiflung oder Empörung, ebensowenig wie man zu sagen vermöchte, ob man durch das Schreiben klüger oder verrückter wird. Vielleicht verliert ein jeder von uns den Überblick genau in dem Maß, in dem er fortbaut am eigenen Werk, und vielleicht neigen wir aus diesem Grund dazu, die zunehmende Komplexität unserer Geisteskonstruktionen zu verwechseln mit einem Fortschritt an Erkenntnis, während wir zugleich schon ahnen, dass wir die Unwägbarkeiten, die in Wahrheit unsere Laufbahn bestimmen, nie werden begreifen können.“

Ich fand Sätze, wie: „Der reale Verlauf der Geschichte ist dann natürlich ein ganz anderer gewesen, weil es ja immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, bereits auf die nächste Katastrophe zugeht.“ Und bin plötzlich in der grausamen Gegenwart des Jahres 2023 angelangt.

W. G. Sebald ist einer unserer größten Schriftsteller gewesen. Tief beeindruckt lege ich das Buch aus der Hand!

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