Zu Beginn der Lektüre des Buches „Erzählende Affen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig mit dem Untertitel „Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen“ frage ich mich kurz, warum ich mir gut 500 Seiten eines Stoffes aneignen möchte, der doch gar nicht im Fokus meines Interesses zu stehen scheint.
Aber nach wenigen Seiten der Lektüre haben die Autorinnen mich mit Sätzen, wie den folgenden, bereits eingefangen:
„Ein Großteil unserer kognitiven Kapazitäten ist genau damit beschäftigt: eine möglichst stimmige Selbsterzählung zu pflegen.“
„Geschichten sind so etwas wie die die Atemzüge des Geistes.“
„Die Nachrichtenwerttheorie fasst bestimmte Werte, die ein Ereignis erfüllen muss, um in einer Medienlandschaft als publizistisch relevant zu gelten – zum Beispiel ‚geografische Nähe‘, ‚Prominenz‘ oder ‚Schaden‘. Je näher, prominenter und konfliktreicher ein Ereignis ist, desto berichtenswerter erscheint es.“
„Auch deshalb erzählen wir Geschichten: Um der Angst vor dem Tod eine Hoffnung entgegensetzen zu können. Die Hoffnung, nicht vergessen zu werden.“
Wir schreiben und erzählen gegen die unerträgliche Zufälligkeit des Seins an. Es soll etwas von uns zurückbleiben. Es lässt sich nicht genau nachvollziehen, wann die Menschen die Fiktion entdeckt haben, aber es war sehr schnell deutlich: „Die Kraft der Fiktion entfaltet sich erst durch (…) magische Identifikation, denn sie erlaubt, dass wir die bessere Version unserer selbst imaginieren.“ Denn: „Die Magie von Literatur besteht darin, visuelle und akustische Telepathie zu betreiben.“
Die Autorinnen belegen im Anhang ihre Quellen, aus denen sie zitieren und viele große Wahrheiten aneinanderreihen. Sie zitieren Hannah Arendt, die die Genauigkeit der Übersetzung von Eudaimonie anmahnt: nicht als Glück oder Glückseligkeit, sondern als eine Vollkommenheit, die erst nach dem Tod und durch Erzählung erreicht werden kann. „Die Essenz eines Menschen … lässt nichts zurück als eine Geschichte“.
Wenn wir die bessere Version unserer selbst imaginieren, tun wir dies nach den Autorinnen in der folgenden Weise: „Die Antwort des erzählenden Affens lautet: Wir sind jene Person, von der wir meinen, dass wir sie auf der Bühne des Bewusstseins der anderen darstellen. Wir sind, was wir glauben, was andere sich von uns erzählen…Wir haben ein Set an Geschichten, die wir über uns erzählen, wenn wir jemanden auf einer Party neu kennenlernen, bei einem Bewerbungsgespräch oder bei einem Date. Wir haben ein Set an Geschichten, die wir über uns erzählen, als Beschreibungen dessen, wer wir zu glauben sein. Wo wir herkommen, was wir erreicht und erlebt haben, was wir noch vorhaben – diese kleinen und großen Storys wiederholen wir, manchmal sogar wörtlich, im Laufe unseres Lebens unendlich oft, vor uns selbst und anderen. Eine Kongruenz zwischen dieser Selbsterzählung und dem, wie andere uns beschreiben würden, ist uns so wichtig wie kaum ein anderer sozialer Zusammenhang.“
Die Autorinnen beschreiben die Stationen von Heldenreisen, denn wir unternehmen schon mit der Lektüre dieses Buches eine solche.
„Mich mit einer anderen Meinung auseinanderzusetzen, die meiner eigenen widerspricht, bedeutet also auch immer eine punktuelle existentielle Krise, weil ich gezwungen bin, eine andere Version von mir zu imaginieren und folglich infrage zu stellen, wer ich selbst eigentlich gerade bin.“ Das kann ein sehr schmerzhafter Prozess sein und solche Auseinandersetzungen laufen bei weitem nicht immer friedvoll ab.
Wir lernen die Bedeutung der Wahl von Metaphern, die vom (politischen) Gegner gegen uns gerichtet werden können, am Beispiel des Krankenversicherungsgesetzes von Präsident Obama in den USA oder von Warmherzigkeit als Beispiel für eine gelungene Metaphernwahl: „Metaphern wie diese formen unser Verständnis der Wirklichkeit und beeinflussen grundlegend, wie wir denken und argumentieren.“
Natürlich geht es um neue Medien. Die Autorinnen bezeichnen sie als „Turbotechniken“: „Was per kleiner Daumenbewegung jederzeit für Sie abrufbar ist, ist ein so unfassbarer Überfluss, dass er jedem Menschen aus früheren Zeiten wie ein narratives Schlaraffenland vorkommen müsste, wie pure Magie.“
Ich lerne die Herkunft des Begriffs Selfie kennen. Ich lese über die Fotos, die in sozialen Netzwerken gepostet werden: „Und so wird auch unsere Selbstdarstellung zur Selbsterzählung, bis hin zu einzelnen Fotos – in der Regel nicht von öden Straßen fremder Länder, sondern von dem Gegenstand, von dem wir bewusst oder unbewusst am liebsten erzählen, sofern wir soziale Medien benutzen und welches für uns am verfügbarsten ist: uns selbst.“
Auch das alte Watzlawicksche Axiom (‚man kann nicht nicht kommunizieren‘) scheint sich in den sozialen Medien noch einmal zu bestätigen: „Man kann nicht nicht erzählen. Im digitalen Zeitalter kann man sich nicht nicht spiegeln. Der erzählende Affe scheint in ein Spiegelkabinett gefallen zu sein.“
Ich kann hier immer nur mit wenigen Zitaten Ausschnitte aus der Fülle dieses großartigen Buches anklingen lassen: „Nicht wenige anthropologische Theorien gehen davon aus, dass wir Menschen unsere Sprache und Erzählungen überhaupt erst entwickelt haben, um zu lügen – dass der wichtigste Grund für das Wachstum unseres Gehirns ausgerechnet jener war, andere besser täuschen und Täuschungen besser erkennen zu können.“
„Wir erzählen uns heute tatsächlich Fiktionen über unser Zusammenleben, die denen vor tausend Jahren sehr ähnlich sind. Weil sie die wahren Gründe für Ungerechtigkeiten so schön verschleiern. Weil sie uns entlasten, etwas daran zu ändern. Weil wir sie glauben wollen.“
Die Autorinnen greifen dankenswerterweise auch Verblendungen und Lügengebäude wie den Rassismus, den Faschismus und den Neoliberalismus und dessen Mythos der Meritokratie auf. Zum letzten Punkt zitieren sie Christian Stöcker: „Ökonomen haben Modelle auf der Behauptung aufgebaut, dass Mehrwollen eine unveränderliche menschliche Grundeigenschaft sei. Wir haben ein Wirtschaftssystem auf diesem Dogma aufgebaut, das Menschen nachweislich keineswegs glücklicher macht. Gleichzeitig droht es, unseren Planeten mittelfristig unbewohnbar zu machen. Wie kann es sein, dass wir unsere eigene Umwelt womöglich irreversibel zerstören, während mehr als die Hälfte allen Besitzes in den Händen von einem Prozent der Weltbevölkerung landet?“
Der erzählende Affe wäre unvollständig, wenn er sich nicht mit den großen Lügnern unserer Zeit auseinandersetzen würde: Trump: „Er startete seine Amtszeit mit durchschnittlich fünf Lügen pro Tag und arbeitete sich auf das Fünffache hoch, so der der letzte Stand der Lügenmessung. …Trumps notorisches Fiktionalisieren der politischen Wirklichkeit ist ein typisches Beispiel für Protofaschismus.“
Eine nicht widerlegte Lüge erinnere an Schrödingers Katze: „Eine nicht belegte Wahrheit und eine nicht widerlegte Lüge können gleichzeitig existieren. Wichtig ist nicht, was am Ende stimmt, sondern was die Lüge anrichten kann.“ Und: „Ein ähnliches Verhältnis zur Wahrheit haben auch Wladimir Putin, Jair Bolsonaro und Recep Tayyip Erdoğan. Sie alle machen sich die Wirklichkeit mit ihrer Sprache untertan.“
Die Autorinnen schreiben auch über Sex, das Internetz („Doping unserer Moderne: das Internet.“) und über die Coronazeit und die Erderhitzung. Sie fragen sich, wie ein Narrativ aussehen könnte, dem die Menschen folgen würden, sich gegen die Erderhitzung zu stemmen.
Noch wenige Zitate zum Schluss:
„Stolz erzählen (…) die Jüngerinnen, dass sie keine Nachrichten mehr schauen und generell den Kontakt zu allem meiden, was sie irritieren könnte. Diese Instagram-Variante des Stoizismus will das narrative Selbst letztlich abschotten von all den erzählerischen Konflikten dort draußen – eine meist implizite, aber umso wirkungsvollere Entpolitisierung.“
„Während traditionelle Massenmedien, zum Beispiel eine Tageszeitung, die Ereignisse des Vortags nicht nur nacherzählen, sondern auch dekonstruieren können, entwickeln sich heute Erzählungen über Ereignisse immer auch schon im Moment ihrer Entstehung und in einer Geschwindigkeit, in der es schwieriger ist, ihre Beschaffenheit zu reflektieren.“
Zur Corona Politik: „…war ein gemeinsames Verständnis entscheidend, dass sie die gesamte Bevölkerung zu Protagonisten machte und das Virus zum Antagonisten (und nicht etwa die Maßnahmen zu seiner Eindämmung oder ‚die anderen‘, die sich nicht an sie hielten).“
„Die eigentliche Utopie ist unser Status quo, den wir nur noch mit enormem Aufwand aufrechterhalten. Er ist ein Nicht-Ort, den man nur mit massiver Verdrängung als idealen Nullpunkt begreifen kann. Zu glauben, es genüge, sanfte Veränderungen vorzunehmen, wie sie die ‚Konservativen‘ als Rhetoriker des Stillstandes anstreben, also immer nur so viel Bewegung zuzulassen, wie partout nicht zu vermeiden ist, ist eine einzige große Lebenslüge.“
„Aus der Perspektive nahezu aller nicht-menschlichen Lebewesen der Erde sind wir nicht die Protagonisten dieses Planeten, sondern Milliarden von Antagonisten, bösartig und brutal, von der eignen Selbstgerechtigkeit verblendet und letztlich gefährlicher, als es sich irgendein Horror- oder Zombiefilm ausdenken könnte.“
Dieses Buch sollte zur Schullektüre werden. Ich empfehle die Lektüre dieses Buches uneingeschränkt!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.