1871 kam in Berlin Georg Hermann (eigentlich Georg Hermann Borchardt) auf die Welt. Die Nazis haben ihn 1943 aus Holland nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Mit größtem Vergnügen las ich vor Jahren die beiden (zusammenhängenden) Romane Jettchen Gebert sowie Henriette Jacoby. Ein zweiter Fontane sagte die Kritik.
Nun las ich nach vielen Jahren seinen letzten, 1936 in Holland fertiggestellten, Roman: „Der etruskische Spiegel“. Ich bin geneigt von einer Novelle zu schreiben. Das Buch ist Hermanns Bruder, dem Architekten Heinrich Borchardt gewidmet, der 1935 in Rom starb.
Wir lesen von Harry Frank, einem Architekten, einem Deutschen jüdischen Glaubens, der aus Deutschland ins faschistische Italien reist. Er ist ein Herr in seinen sechziger Jahren, der noch im Zug nach Rom eine Abteilbekanntschaft macht. Eine junge adlige Witwe mit ihren zwei Kindern und der Mama. Sie lädt Harry ein, sich die Pension anzuschauen, die in ihrem Haus von einer Frau Svensen betrieben wird – einer Hedda Gabler, die sich nicht umgebracht hätte. „‘Wie einfach das Leben ist‘, denkt er, ‚und – wie kompliziert es immer in Romanen dargestellt wird. Ich sitze also hier im Zug, mache eine Reisebekanntschaft, und sie empfiehlt mir sogar eine Pension in ihrem Palazzo.‘“
Harry verliebt sich in die offenbar wunderschöne Witwe. „Ich alter Narr, ich weiß genau, dass ich mich lächerlich mache, und doch verliebe ich mich immer wieder.“
Die kleine Tochter fasst schnell Zutrauen zu dem alten Mann und der Junge, Achille, ein stolzer Reitersmann, in dem sich Aschenbach in Venedig sofort verliebt hätte, gäbe es Tadzio nicht, ist dem Architekten wohl auch gewogen.
Die Lesenden folgen auf den ersten zweihundert Seiten dieses Romans – der Novellencharakter stellt sich erst zum Schluss heraus – dem furiosen Erzählstrom
der Hauptfigur. In „Echtzeit“ läuft die Geschichte vor uns ab. Harrys Verliebtheit bleibt der jungen Witwe nicht verborgen, sie zögert noch die Gefühle des Architekten zu erwidern, der Altersunterschied ist vielleicht zu groß. An einem der nächsten Tage werden sich die beiden nicht sehen, weil sie geschäftlich beansprucht wird. So entdeckt Harry, der schon häufiger in Rom lebte, die Stadt wieder für sich. „Und sein altes Architektenherz jauchzt. Woanders ist gute Architektur ein Zufall, hier eine Lebensäußerung.“ An anderer Stelle lobt er das Essen: „Nirgends isst man so angenehm und so leicht wie in Italien. Die Franzosen kochen mit Raffinement, der Italiener mit Grazie. Er kocht bel canto. Aber man muss das echte italienische Essen bekommen.“
Er hat Zeit über seine Lebenssituation nachzudenken: „Eigentlich bleiben wir doch …unser Leben lang ewige Primaner. … Werthers, die sich einmal zufällig aus Liebeskummer nicht erschossen haben.“
Kurz vor dem Einschlafen meldet sich der folgende Gedanke bei ihm: „Bald wirst du ruhen auf immer, müdes Herz. Der ungeheure Irrtum, dass ich mich ewig wähnte, verging.“
Bei seinem Streifzug durch die ewige Stadt klingt aus der Ferne der Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum an sein Ohr. Der Absatz endet : „Darf eigentlich in Deutschland Mendelssohn noch gespielt werden?“ Und so kippt die friedliche italienische Stimmung, ohne dass der Autor die hässliche Nazifratze deutlicher schildern müsste.
In einem der vielen kleinen Andenkenläden erwirbt er einen Etruskischen Taschenspiegel. Eine billige Reproduktion eines archäologischen Fundes, den man im Museum besichtigen kann. Der verstorbene Gatte war Archäologe und seine Witwe wird mit Harry das Museum besuchen. Was dort passiert verrate ich nicht, weil es eine kleine Slapstick Komödie ist, die der Autor für uns inszeniert. Im Ergebnis allerdings hat sich Harry in den Besitz des Originals gebracht.
Auf den letzten hundert Seiten des Romans entfaltet sich ein Alptraum vor uns Lesenden. Der Spiegeltausch belastet Harry schwer, er versucht alles rückgängig zu machen. Allerdings sieht er in dem Spiegel wundersame Dinge. Er schaut in die Zukunft, es kündigt sich großes Unheil an. Schließlich, da man im Museum den Spiegel nicht zurücknehmen will, beschließt Harry, den Spiegel im Meer zu versenken, bevor noch mehr Unglück über die Frau, die er liebt, hereinbrechen kann.
In dem klugen Nachwort von Gert Mattenklott wird auf den Wunsch des Autors verwiesen, dass etwas von ihm übrigbleiben möge. Ebenso von der Furcht, „dass von meinem Dasein nichts übrigbleibt, dass es verweht und vergessen wird.“
Im Roman äußert er einen ähnlichen Gedanken: „Ein kluger Mann hat mal gesagt, der Tempel des Ruhms wird von Toten bewohnt, die nicht darin waren, als sie lebten, und von Lebenden, die herausgeworfen werden, sowie sie sterben.“
Georg Hermann lebt in jedem Falle in diesem Tempel des Ruhms weiter.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.