Die Anfänge von Romanen werden von vielen Lesenden besonders betrachtet. Ziehen sie die Lesenden sofort in das Geschehen hinein? Machen sie auf den Fortgang der Geschichte neugierig?

Ich erinnere an drei sehr verschiedene, aber viele Lesende sofort fesselnde Romananfänge:

„Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf.“ (Stolz und Vorurteil/Austen)

„An einem heißen Sommernachmittage saß ein junger Mann, von summenden Käfern umschwärmt, das Haupt auf eine über die Knie ausgebreitete Mappe beugend, vor einer einfachen ländlichen Dorfkirche, um sie zu zeichnen.“ (Die Ritter vom Geiste/Gutzkow)

„Die ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung, wird sich unendlich wiederholen!“ (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins/Kundera)

Diese Reihe ließe sich sicherlich leicht fortsetzen. Wie groß nun mein Erstaunen, als ich den Roman Malina von Ingeborg Bachmann aufschlug und statt eines grandiosen ersten Satzes eine vage Darstellung der handelnden Personen des Romans vorfinde. Der erste Satz lautet: „Die Personen: …“

Den Lesenden werden Ivan, dessen Kinder Béla und András, Malina und „ich“ vorgestellt; Zeit „Heute“, Ort „Wien“.

Könnte der Roman nicht mit dem folgenden Satz beginnen? „Es gibt, und das ist leicht zu erraten, viel schönere Gassen in Wien, aber die kommen in anderen Bezirken vor, und es geht ihnen wie den schönen Frauen, die man sofort ansieht mit dem schuldigen Tribut, ohne je daran zu denken, sich mit ihnen einzulassen.“

Die Autorin spricht über die Ungargasse, in der sie mit Malina wohnt, vielleicht bei ihm wohnt, ohne ihm beizuwohnen. Im Hause gegenüber wohnte für einige Zeit Beethoven, der oft umgezogene Mann, in diesem Hause jedenfalls die Neunte komponierend. Wenige Häuser weiter wohnt Ivan, ihr Liebhaber, dem sie hörig zu sein scheint. Häufig rauchend, wenig redend, manchmal Schach spielend, manchmal sich das Ausmaß ihrer gegenseitigen Erschöpfung vorklagend. Schließlich: „ …wir hören zu reden auf und machen einander wach…“.

Der Roman hält wundervolle kleine Geschichten für die Lesenden bereit, so ein Interview mit einem Journalisten, der am Ende des Gesprächs verzweifelt davonschleichen wird. In dieser Geschichte finde ich den Satz: „Nein, ich nehme keine Drogen, ich nehme Bücher zu mir …“.

Der Roman handelt von einer Frau mit vielen Traumata. Er handelt von einer Frau und zumindest drei Männern: den beiden im Romananfang beschriebenen und ihrem Vater. Dieser „väterliche“ Mittelteil des Buches ist sehr schwere Kost. Es geht nicht nur um ihren Vater, sondern um eine ganze Vätergeneration. Die Generation, die den Nationalsozialismus ermöglichte, die Täter, die Betreiber der Gaskammern, die Vergewaltiger. Denn der Tod ist ein Meister aus Deutschland.

Kann eine Frau einen Mann lieben, der sie „meine sanfte Irre“ nennt?

Im letzten Teil erzählt die Frau von ihrem Rigorosum, eine vergnügliche Lektüre, wäre da nicht der Bericht, wie sie am Morgen ihrer Prüfungen einen Brand im Philosophischen Institut verhindert. Die Autorin wird nur wenige Jahre später an den Folgen von Brandverletzungen sterben.

Die Frau in diesem fulminanten Roman wird am Ende dieses Romans sich „aufgelöst“ haben. Sie will, sich von diesen Männern trennen, sie will, heute spricht man von toxischen Beziehungen, diese beenden. Dennoch zunächst Zaudern und Zögern: „Aber jetzt will ich dieses Glück verlängern, ich will es wie jeder, dem es widerfahren ist, dieses sich verabschiedende Glück, das seine Zeit gehabt hat.“

Sie wird sich von Ivan trennen, der sich auch von ihr trennen will, aber nicht den Mut hat, ihr dies zu gestehen. Und Malina? Wir lesen den Satz: “Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina.“

Sie geht in eine Wand, sie verschwindet.

Und für die Freunde von letzten Romansätzen folgt  nun ein besonders starker Satz: „Es war Mord.“

4 Antworten

  1. Wohl nur verständlich, wenn man den Roman gelesen hat.
    Im Übrigen stellt das Bild ein hübsches Mädchen dar.
    Liebe Grüße Wolfgang

    1. Mein Beitrag soll zur Lektüre ja gerade anregen. Ich freue mich immer über Menschen, die lesen, statt Netflix-Serien konsumieren oder Stunden auf TikTok zubringen.

  2. W.L. gern widersprechend: eine sehr packende Darstellung des Spannungsbogens im Roman, der Schluß wirkt etwas rätselhaft, was den Reiz des Nachlesens erhöhen könnte…

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