Die Literatur ist voller Geschichten über den Zufall. Was wäre, wenn …?
Was wäre, wenn ich beispielsweise ein Semester früher mein Studium begonnen hätte? Mein Leben wäre anders verlaufen.
Fast täglich stellt das Schicksal die Menschen vor Alternativen, nicht immer die ganz großen, aber wer weiß das schon im Voraus?
Der Autor des zu besprechenden Romans lässt seinen „Helden“ auch diese Überlegung anstellen. Gerade ist der Knabe von einem Baum gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen: „Was für ein interessanter Gedanke, dachte Ferguson: sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Derselbe Junge in einem anderen Haus mit einem anderen Baum. Derselbe Junge mit anderen Eltern. Derselbe Junge mit denselben Eltern, die aber nicht dieselben Dinge täten wie jetzt. … und wie traurig wären seine Eltern, wenn sie ihn zum Friedhof brächten und in die Erde legten, so traurig, dass sie vierzig Tage und vierzig Nächte, vierzig Monate, vierhundertvierzig Jahre lang weinen würden.“
Diese Idee kommt ihm auf Seite 86 des Romans. Und wer es noch nicht verstanden hat, erhält auf Seite 713 noch einmal die Erklärung, was der Roman bezweckt: die verschiedenen Wege zu beschreiten, die sich im Leben ergeben. Nur, dass im „wahren Leben“ die Menschen, nicht oder nur selten, die Gelegenheit bekommen, verschiedene Pfade „auszuprobieren“.
Und fast am Ende des Romans kommt der Autor zu der Einsicht, „dass man sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur auf einem Weg befinden musste, auch wenn man auf einem anderen hätte sein und einem ganz anderen Ort hätte entgegengehen können.“ Diese Erkenntnis steht auf Seite 1254 meiner Taschenbuchausgabe in der deutschen Übersetzung des Romans „4 3 2 1“ von Paul Auster.
Dass der Name Ferguson daher stammt, dass einer seiner Ahnen bei der Einreise in die USA vergessen hatte, was er sagen sollte (nämlich Rockefeller), erfahren die Lesenden auf der ersten Seite des Romans.
Auster untersucht verschiedene mögliche Lebenspfade seiner Hauptfigur Archibald Ferguson. Weil er nicht einen „Pfad“ zu Ende erzählt, sondern immer nach dem Motto vorgeht : „Alles eine Zeitlang stabil, und dann eines Morgens geht die Sonne auf, und alles bricht in Stücke.“ changieren die Personen. Amy (eine Konstante in allen vier Ferguson Büchern) ist nicht immer die gleiche Amy, das Leben seiner Eltern, deren Vermögensverhältnisse und deren Umfeld wechseln von Pfad zu Pfad. Und es gibt nun einmal vier verschiedene Pfade. Mit dieser Erzählweise ist auch verbunden, dass Auster sehr intensiv insbesondere die Geschichte der USA in den Jahren zwischen 1960 und 1970 immer wieder erzählt. Natürlich aus (leicht) verschiedenen Perspektiven, aber eben doch sich wiederholend. Die Zeit ist der gegenwärtigen in den USA nicht unähnlich und vieles von dem, was sich damals abzeichnete, erleben wir wieder: Rassismus, ein weites Auseinanderdriften zwischen Republikanern und Demokraten, ein „kalter Bürgerkrieg“, der sich nicht entzünden darf.
Der Roman ist darüber hinaus sehr ausschweifend. Beispiele für überflüssige Information oder schlicht Geschwätzigkeit: „… und nach dem Kino ging es ins Chinarestaurant Green Dragon in Glen Ridge oder auf ein Brathähnchen ins Little House in Millburn oder heiße Putensandwiches in Pal’s Cabin in West Orange oder einen Schmorbraten und Käseplinsen im Claremont Diner in Montclair, die gutbesuchten, preiswerten Esslokale der Vorstädte von New Jersey …“ oder die Aufzählung von Namen eines NBA Teams, deren Namen wahrscheinlich nicht einmal alle amerikanischen Lesenden bekannt sein dürften.
Dem dreizehnjährigen Ferguson werden Gedanken über JFK zugeordnet: „…ein vitaler junger Mann, der die Welt verändern wollte, die ungerechte Welt der Rassendiskriminierung, die idiotische Welt des Kalten Krieges, die gefährliche Welt des nuklearen Wettrüstens, die selbstgefällige Welt des geistlosen amerikanischen Materialismus, und da kein anderer Kandidat diese Probleme zu seiner Zufriedenheit ansprach, stand für Ferguson fest, dass Kennedy der Mann der Zukunft war.“ Nein, so denkt kein 13-jähriger Mensch!
Auf Seite 369 beginnt die Erzählung „Sohlenverwandte“, die Geschichte von Hank und Frank, einem Schuhpaar. Die Geschichte endet auf Seite 388. Eine Geschichte, die vordergründig von Schuhen handelt, die aber das Leben in der Sklaverei ebenso behandelt, wie den Holocaust. Von einer Lehrerin, der er die Geschichte zur Beurteilung gab, erwartete er: „sie würden über die Technik des Prosaschreibens reden, formale Dinge wie Aufbau, Erzähltempo und Dialog, ob ein einziges Wort für eine Sache nicht besser ist als drei oder vier Wörter, wie man endlose Abschweifungen vermeidet und die Geschichte vorantreibt, die kleinen, aber wesentlichen Fragen, mit denen er noch nicht zurande gekommen war, …“ Die Lehrerin kritisiert aber seine Geschichte aus „moralischen Gründen“. Da wehrt er sich und der Roman lässt eine Tiefe erkennen, die er leider nicht an vielen Stellen hat.
Es gibt allerdings wundervolle kleine Seitenhiebe, beispielsweise auf Kleinstädte: „das hübsche, aber triste Städtchen Maplewood war eigens zu dem Zweck erbaut worden, dass die Leute von dort wegwollten …“
Eine wundervolle Episode stellt der Besuch der Pierre Matisse Gallery dar. Ferguson und seine Freundin Amy besichtigen dort eine Ausstellung von Werken Alberto Giacomettis.
Keine Frage, dass der Ferguson viel mit seinem Erzähler Auster zu tun hat, aber das laste ich dem Roman in Zeiten der überbordenden „Autofiktionitis“ nicht besonders an.
Dieser Roman besteht aus Stärken und ziemlich vielen Schwächen und dennoch hält er den Lesenden fest. Auster kennt die Schwächen seines Romans selbst sehr wohl: „… dann zum nächsten Augenblick weiterzuspringen, und trotz der Lücken und der Stille zwischen den einzelnen Teilen würde der Leser sie im Kopf zusammenfügen, …“ und, füge ich hinzu, er täuscht sich nicht im Lesenden!
Und wer mit der Konstruktion des Romans nicht klarkommt, muss sich nur durch den Roman „quälen“, am Ende wird auch er dann verstanden haben.
Auster zitiert Kenneth Rexroth: „Gegen die Zerstörung der Welt gibt es nur eine Verteidigung: den kreativen Akt.“ Damit beschreibt er nichtsahnend die „Programmatik“ der „letzten Generation“.
Austers Roman erschien in den USA im Jahre 2017. Im November 2016 wurde Trump zum 45. US-Präsidenten gewählt, die Inauguration fand im Januar 2017 statt. Die nachfolgenden Sätze sind heute genauso wahr, wie zu jeder Zeit zuvor: „… den alten Männern, die das Sagen hatten, war die Wahrheit entglitten, Lügen waren jetzt die anerkannte Währung des politischen Diskurses in Amerika …“.
Wer vier verschiedene „Leben“ erzählt, hat die Möglichkeit auch viel Sex auf den Seiten zu verteilen. Denn: „Liebe war schließlich ein Kontaktsport“. Von dieser Möglichkeit machen Paul Austers Fergusons reichlich Gebrauch; nur macht dies seinen Roman nicht tiefgründiger.
So könnte ich noch lange über mein Leseerlebnis berichten, immer schwankend zwischen einer ehrlichen Begeisterung und dem Gefühl, eine Beschränkung hätte dem Werk gut angestanden.
An mehreren Stellen im Roman geben verschiedene Menschen den verschiedenen Fergusons Lektürehinweise. Viele nordamerikanische Romane, aber auch europäische Literatur. So beispielsweise Kleist, Dostojewski und Tolstoi. Und dann nehme ich meinen Band der „Anna Karenina“ in die Hand und stelle fest, dass meine Taschenbuchausgabe 1236 Seiten umfasst und ich lächle still in mich hinein, denn Austers Countdown-Roman hat einen Umfang von 1259 Seiten. Vielleicht hätte ich mich doch lieber noch einmal zu Anna und Wronski, Lewin und vor allem Kitty begeben sollen? Vielleicht, aber dann wäre ich an einer Weggabelung anders weitergewandert.