Ein neues Substantiv konnte ich in meinen Wortschatz aufnehmen: Duckdalben. Das sind Pfähle, die man in Venedig benötigt, um Gondeln und andere Boote sicher zu vertäuen. Ein Wort, das ich nicht mehr vergessen werde, weil der Autor, der großartige Cees Nooteboom, auch gleich die Herkunft des Begriffs mitliefert: abgeleitet vom Duc d’Albe!
Nooteboom reist seit Jahrzehnten immer wieder nach Venedig. Er wohnt in verschiedenen Stadtteilen und bei seinen Erkundungen stößt er immer wieder auf Neues. Er beklagt, wie alle Menschen, die diese Stadt lieben, die Überflutung mit Tagestouristen. Er lässt uns teilhaben an seinen Erkundungen, an seinen Gedanken, die ihm während der Wanderungen durch die Stadt kommen. In dem Buch „Venedig – Der Löwe, die Stadt und das Wasser“ lässt er uns teilhaben an seinen „Verirrungen“: „…in der ich mich morgen wieder verirren werde, wie jeder, der von außerhalb kommt, sich in ihr verirren muss, die einzige Möglichkeit, sie kennenzulernen.“
Er beschreibt das Zeitgefühl, das einem Besucher überkommen kann, wenn er durch diese Stadt wandelt: „Die Ewigkeit können wir uns bekanntlich nicht wirklich vorstellen. Womit sie für meinen Menschenverstand noch am ehesten Ähnlichkeit hat, ist die Zahl Tausend, wahrscheinlich wegen der runden Leere dieser drei Nullen. Eine Stadt, die schon länger als tausend Jahre existiert, ist eine greifbare Form der Ewigkeit.“
Und dann kommt der Moment, den ich nicht nur in Venedig selbst gespürt habe, der Moment der unbewussten Übersättigung und „Der Kopf ist voll, er vermag den Sprung durch die Jahrhunderte nicht mehr mitzuvollziehen…“.
Die ganze schriftstellerische Größe des Autors, dem ich den Literaturnobelpreis wünsche, entfaltet sich in kleinen Beschreibungen, beispielsweise wie die Sonne auf der Wasseroberfläche tänzelt: „…die Sonne im schaukelnden Wasser flammt“, um anzufügen, dass „…(ich erkenne), wie schwer es ist, das zu tun, was das 19. Jahrhundert noch ohne Hemmung tat – minuziös bis ins letzte Detail hinein impressionistisch beschreiben, was es zu sehen gibt.“
Nooteboom beschreibt einzelne Gemälde, die er in den verschiedenen Museen der Stadt betrachtet hat. Diese Abschnitte sind Schulen des Sehens, des Betrachtens: Es fängt mit der launigen Bemerkung über die schiere Menge der Gemälde an, die Museen für uns bereithalten: „Ich weiß nicht mehr, ob es Baudelaire war, der Museen mit Bordellen verglichen hat, jedenfalls steht fest, dass es immer viel mehr Gemälde gibt, die etwas von dir wollen, als umgekehrt. Das macht die Atmosphäre in den meisten Museen so niederdrückend, all diese mit einer Absicht gemalten Quadratmeter, die so werbend dahängen und einem nichts zu sagen haben, die nur dahängen, um eine Periode zu illustrieren, Namen zu repräsentieren, Reputation zu bestätigen.“
Mit drei Miniaturen zeigt er seine Meisterschaft, Gemälde zu betrachten und zu beschreiben: Tiepolo im Dogenpalast; Carpaccio im Museum Correr sowie eine Guardi-Ausstellung. Während der Lektüre wünschte ich mir, mit dem Autor gemeinsam Ausstellungen zu besuchen und still darauf zu warten, dass er sein Füllhorn des Wissens über Maler, die Zeit und die Umstände ausschütten würde. Nur eine Phantasie, aber „Phantasie ist die Möglichkeit, bei Tag zu träumen und zu sehen, was niemand sonst sieht.“
Er bezieht sein Wissen natürlich auch aus Reiseführer: „Das einzige Problem besteht darin, dass Führer so viel wissen. Dieser hier ist von Giulio Lorenzetti verfasst, und er lässt keine Kirche und kein Gemälde aus, allein schon dadurch weiß ich, wie selektiv wir schauen oder anders gesagt, wie viel wir nicht sehen oder nicht sehen wollen.“ Ich hatte „meinen“ Italienführer (den Peterich) danebengelegt und musste nur einmal feststellen, dass ich etwas nicht fand. Santa Maria di Nazareth: „Wie weit ist dies alles von der Schlichtheit der Romanik oder der kühlen Strenge protestantischer Kirchen in den Niederlanden entfernt. Luxus, Opulenz, Glanz, als wäre es hier um einen anderen Gott gegangen, einen, der darin zu schwelgen vermochte, wie Marmor und Gold in eine geometrische Wirbelbewegung gezwungen werden konnten, ein Wildwuchs, der zugleich Ordnung ist.“
Klostergärten sind in Venedig Touristen in der Regel verschlossen. Unser Autor besichtigt einen: „Das Büchlein, das zu dem Rundgang gehörte, zeigte den Grundriss des Gartens wie er gedacht war, exakt abgegrenzte Pflanzenbeete, eine >numerologische Aufteilung<, dazu ein Zitat von Einstein mit der Frage: >Wie kann man Beethovens Neunte in einem kartesianischen Diagramm fassen? Es gibt Realitäten, die sich nicht in Zahlen fassen lassen; diese Musik ist von Geheimnissen durchdrungen. Und wer kein Gespür für das Mysterium hat, ist zur Hälfte tot.<“.
Cees Nooteboom schildert noch viel mehr in dieser Liebeserklärung an Venedig; ich will meine Besprechung mit kurzen Zitaten beenden. Erstens: „Diese Stadt ist in ihrer eigenen Vergangenheit gefangen. Man wandert nostalgisch oder unwissend in der instand gehaltenen Archäologie eines untergegangenen, aber noch gegenwärtigen Reiches umher.“ Zweitens: „Diese Stadt ist ein Stapelplatz der Vergangenheit, alle haben hier etwas hinterlassen, haben etwas in eine Mauer geritzt, wollten nicht spurlos verschwinden.“
„La serenissima – die Heiterste oder Gelassenste, ist die wörtliche Übersetzung des Adjektivs, das Venedig nun schon seit Jahrhunderten anhängt.“ Cees Nooteboom hat mit seinen Reiseimpressionen gezeigt, dass die Stadt den Titel zurecht trägt!
