Im Fischer Taschenbuch Band „Schwindel. Gefühle.“ sind vier wundervolle Prosastücke von W. G. Sebald versammelt. Der in Wertach im Allgäu 1944 geborene und seit 1970 in England lebende Schriftsteller, der 2001 bei einem Autounfall starb, ist für mich einer der großartigsten deutschen Literaten der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

Sein Stil ist zuweilen barock, in seiner Prosa finden sich selten gebrauchte, manchmal landsmannschaftlich gefärbte Wörter wie „hinterfür“. In den vier Erzählungen geht es um die Darstellung seiner eigenen Erlebnisse häufig in Verbindung mit der Auseinandersetzung bedeutender Personen wie Stendhal, Kafka und Casanova.

Dabei geht es ihm um die großen Fragen, wie diese Menschen mit dem Leben fertig wurden. Er berichtet über Henri Beyle, der sich Stendhal nannte, es sei für Beyle „eine schwere Enttäuschung gewesen, als er vor einigen Jahren bei der Durchsicht alter Papiere auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure gestoßen sei und sich habe eingestehen müssen, dass sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von ebendieser Gravure. … Denn eine Gravure besetze bald schon den ganzen Platz der Erinnerung, die wir von etwas hätten, ja, man könne sogar sagen, sie zerstöre diese.“ Und ich dachte bei mir, so ist das auch mit Personen, deren Fotos und unseren Vorstellungen von ihnen. Er fragt danach, „woran geht ein Schriftsteller zugrunde?“ War Stendhal mit einer Frau unterwegs oder ist sie nur eine Einbildung? „Und es ist die Erinnerung an diese Leichtigkeit, die den sieben Jahre später geschriebenen Bericht von der möglicherweise bloß imaginierten Reise mit der wahrscheinlich gleichfalls nur imaginierten Begleiterin durchzieht.“ Und er fragt weiter, ob: „die Liebe, wie die meisten anderen Segnungen der Zivilisation, eine Chimäre sei, nach der es uns um so mehr verlange. Je weiter wir uns entfernten von der Natur.“ Dabei ist die imaginierte Begleiterin eine sehr schlagfertige Gesprächspartnerin, stellt sie doch infrage, ob … „Petrarca unglücklich gewesen (sei), nur weil er nie einen Kaffee trinken konnte.“

Zum Niederknien sind Schilderungen wie die folgende: „Die aus den Alpentälern herauskommenden niedrigen Wolken, die sich hinstreckten über das verwüstete Gelände, verbanden sich in meiner Vorstellung mit einem Bild Tiepolos, das ich oft lange betrachtet habe. Es zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Den Hintergrund bildet ein Gebirgszug mit einem qualmenden Gipfel. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld, wo sie, nach einer Zeit des Herumtaumelns, von der aus ihrem Inwendigen hervordringenden Seuche vollends niedergestreckt wurden.“

Und wer geht bei der Ankunft in Venedig zunächst einmal zum Barbier? „Als ich nach einer scharfen Rasur beim Bahnhofsbarbier auf den Vorplatz der Ferrovia Santa Lucia hinaustrat, hing die Feuchtigkeit des Herbstmorgens noch dicht zwischen den Häusern und über dem Großen Kanal.“ So beginnt das Kapitel über Venedig! Und nur wenig später folgen Sätze, die Patricia Highsmith auch für ihren „Venedig-Roman“ hätte verwenden können: „Wer hineingeht in das Innere dieser Stadt, weiß nie, was er als nächstes sieht oder von wem er im nächsten Augenblick gesehen wird. Kaum tritt einer auf, hat er die Bühne durch einen anderen Ausgang schon wieder verlassen.“

Über die Grenzen der menschlichen Vernunft heißt es lakonisch: „Es bedarf nur einer geringfügigen Verschiebung, und nichts mehr ist, was es war.“

Sebald liebt die Malkunst. „Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen.“ Oder über Giottos Kunst: Nach Padua weiterzufahren und „dort die Kapelle des Enrico Scrovegni aufzusuchen, von der ich bislang bloß eine Beschreibung kannte, in der die Rede ist von der unverminderten Kraft der Farben der Fresken des Malers Giotto und von der immer noch neuartigen Bestimmtheit, die über jedem Schritt, jedem Gesichtszug der in ihnen gebannten Figuren waltet.“ Er beschreibt dann seine Eindrücke und beschließt das Kapitel mit: „Gli angeli visitano la scena della disgrazia – mit diesen Worten auf der Zunge ging ich durch den tosenden Verkehr wieder zu dem unweit der Kapelle gelegenen Bahnhof zurück, um den nächstbesten Zug nach Verona zu nehmen…“

Wie vielen anderen Menschen, zu denen ich mich auch zähle, ist es ihm unangenehm auf Landsleute im Ausland zu treffen: „wie ich zu meinem Leidwesen feststellen musste, fast ausnahmslos um meine ehemaligen Landsleute handelte.… und waren mir diese, auf das ungenierteste sich breitmachenden Dialekte schon zuwider, so war es mir geradezu eine Pein, die lauthals vorgebrachten Meinungen und witzigen Aussprüche einer Gruppe junger Männer aus meiner unmittelbaren Heimat mit anhören zu müssen.“

Er kann in einem Satz eine Handlung so meisterlich zusammenfassen: „Weit weniger lang als die umschweifige Erklärung meiner Wünsche dauerte die Herbeischaffung der Mittel zu ihrer Erfüllung.“

Schließlich stattet er seinem Geburtsort einen Besuch ab und ein Halbsatz wie der folgende: „…, die Allee nach Haslach hinaus …“, löste bei mir viele eigene Erinnerungen aus, verbrachten wir, als die Kinder noch klein waren etliche Urlaube in dieser wundervollen Allgäuregion.

Und in den nachfolgenden Sätzen wird der ganze Zauber der Sprache dieses Autors deutlich: „Lang bin ich inmitten dieser Winterpracht stehengeblieben und habe gehorcht auf das Klirren der Kälte und das Klingen der Himmelslichter in ihrer langsamen Bahn.“

„Das Morgengrauen hatte bis gegen zwölf Uhr gedauert und war gleich danach in das langsame Einnachten übergegangen.“

„Il ritorno in patria“ gibt es im Übrigen auch in einer Hörspielversion inklusive der sonoren Stimme des Autors.

Die Lektüre dieser wunderbaren Prosa ist ein purer Genuss und allen zur Lektüre empfohlen!

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