Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Ich teile die Rezension in einige Beiträge auf, die ich nach der Lektüre der Einzelteile des Werkes von Marcel Proust jeweils verfertigte.

Im Schatten junger Mädchenblüte

Ich las vor geraumer Zeit „In Swanns Welt“, den ersten Teil des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust.

Damals schrieb ich, dass ich keine Inhaltsangabe des Gelesenen machen könne, sondern nur ein paar Zitate auflisten, die die Poesie der Sprache dieses Romans verdeutlichen würden.

Nun habe ich „Im Schatten junger Mädchenblüte“ gelesen, wieder mich der Sprache hingebend, die „alte“ Übersetzung von Eva Rechel-Mertens lesend, unendlich viele Seiten der Beschreibung über das an der Meeresküste ständig changierende Licht oder der Hotelgäste folgend.

Und wenn dann einmal, der Erzähler seine Erinnerungen ein wenig vorantreibt, die Lesenden hoffen können, dass jetzt etwas geschehen wird, zum Beispiel, dass er die jungen Mädchen und insbesondere die eine endlich ansprechen wird, dann bricht alles wieder ab (er benötigt ganz viele Seiten von der ersten Schilderung Albertines bis zu seinem ersten Gespräch mit ihr!). Nein, noch traute er sich nicht, aber später, später wird er sich trauen und am Ende des Teils ist alles trist, kalt und man reist nach Paris zurück.

So und nun ein paar Appetithappen, denn lesen und in den Roman hineingleiten muss jeder Lesende für sich ganz allein.

„Vielleicht ist das Grauen, das ich empfand – und das auch viele andere verspüren – wenn ich in einem unbekannten Zimmer schlafen sollte, nur die bescheidenste, dumpfe, körperbedingte, unbewusste Form jenes großen verzweifelten Widerstandes, den die Dinge, die das Beste unseres gegenwärtigen Lebens ausmachen, unserer geistigen Bereitschaft entgegensetzen, die Bedingungen einer Zukunft zu unterschreiben, in der sie nicht vorkommen; jenes Widerstandes, der auch dem Grauen zugrunde lag, das mir so oft der Gedanke eingeflößt hatte, dass meine Eltern eines Tages sterben oder dass die Notwendigkeiten des Lebens mich zwingen könnten, fern von Gilberte zu leben oder mich auch nur für alle Zeiten in einem Lande niederzulassen, wo ich meine Freunde nicht wiedersehen würde, eines Widerstandes, auf dem auch die Schwierigkeit für mich beruhte, an meinen eigenen Tod oder ein Nachleben zu denken, wie es Bergotte den Menschen in seinen Büchern verhieß und in das ich meine Erinnerungen, meine Schwächen, meinen Charakter nicht würde mitnehmen können, die sich doch dabei mit dem Gedanken nicht abfinden konnten, nicht mehr zu existieren, und für meine Person weder auf ein Nichts Wert legten noch auf eine Ewigkeit, in der sie nicht mehr wären.“

„‘Hören Sie sofort auf, oder ich schelle‘, rief Albertine, als ich mich auf sie stürzen und sie küssen wollte. Ich aber sagte mir, dass nicht umsonst ein junges Mädchen einen jungen Mann heimlich zu sich kommen lässt, so dass ihre Tante nichts davon erfährt, dass im übrigen Keckheit denen zum Erfolg verhilft, die die Situation rasch zu nutzen wissen; in dem Erregungszustand, in dem ich mich befand, trat Albertines rundes Gesicht, das von innen her erhellt schien wie von gedämpftem Licht, so plastisch wie ein rotierendes Feuerrad hervor und kreiste vor meinen Blicken wie die Gestalten Michelangelos, die ein ständiger, schwindelerregender Wirbel zu bewegen scheint. Jetzt würde ich den Duft und den Geschmack dieser unbekannten rosigen Frucht endlich kennenlernen. Ich hörte einen hastig einsetzenden, langanhaltenden, gellenden Ton: Albertine schellte mit Macht.“

Dieser Roman ist einfach zum Niederknien!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Welt der Guermantes

„Ich weiß nicht, ob ich dich bitten darf, im Vorbeifahren meinen Leuten zu sagen, sie sollen die Sorte Zigarren besorgen, die Robert so gern raucht, sie heißen >Corona<, es sind keine mehr da.“

Natürlich Zufall, dass der Zigarrenname hundert Jahre später mit einem tödlichen Virus konnotiert ist; dafür konnte Marcel Proust nichts und doch ziehen auch diese Nebensächlichkeiten die Lesenden von heute in den Bann dieses Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Und da „die Medizin ein Kompendium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtümer der Ärzte“ bisweilen zu sein scheint, heute so, wie vor einem Jahrhundert, nimmt die Lektüre die Lesenden mit.

Aus diesem dritten Teil, „Die Welt der Guermantes“ werde ich die Beschreibung der aufkochenden Milch nicht mehr los. Jedes Mal beim Erhitzen der Milch für meinen Milchkaffee auf meinem Gasherd kommt mir Marcel ins Gedächtnis: „Wer völlig taub ist, kann nicht einmal neben sich Milch in einem Kochkessel erhitzen, ohne mit den Augen im geöffneten Deckel den weißen, hyperboreischen, schneesturmähnlichen Reflex zu beobachten, jenes Warnsignal, dem man klüglich dadurch Rechnung trägt, dass man – wie der Herr der Wogen gebietet – den Stecker aus der Dose zieht; denn schon wächst brodelnd die aufsteigende, eiförmige Wölbung der kochenden Milch und hebt sich schräg in die Höhe, schwillt, zerreißt ein paar kenternde Häute, die der Rahm faltig aufgeworfen hat, und entsendet einen perlmuttern schimmernden Fetzen in den Aufruhr, doch die Ausschaltung des Stromes bewirkt, sobald das auf elektrischem Wege heraufgeführte Unwetter beschworen ist, dass alle nur noch in sich selbst kreisend wie Blütenblätter einer Magnolie auf der Oberfläche planlos umherschwimmen.“

Dieser Absatz, der eingeschoben ist in eine Betrachtung über Taubheit, macht deutlich, warum es eigentlich auf Marcel Proust bezogen, nur zwei Fraktionen von Lesenden geben kann: die einen, denen diese Ausschweifungen nach wenigen Zeilen ermüden, die sich nach „Handlung“ sehnen und die deshalb sicherlich sehr schnell den Roman aus der Hand legen und ihn nie wieder in dieselbe nehmen werden; die anderen, die dieses Mäandern lieben, die die Sprache des Meisters verehren, jeden Nebensatz aufsaugen, wie ein Blatt Löschpapier Tinte.

Marcel ist in die Herzogin von Guermantes verliebt, macht wochenlang Morgenspaziergänge, um der Herzogin zu begegnen. Er reist zu seinem Freund, dem Fähnrich Robert de Saint-Loup, aus einem einzigen Grund. Dieser, verwandt mit der Herzogin, soll ein gutes Wort bei ihr über Marcel fallen lassen. Wochenlang bleibt er bei seinem Freund, genießt die Mahlzeiten mit den Kameraden des Fähnrichs und lernt viel über die Kriegskunst. Die Affäre Dreyfus ist noch nicht mit der Begnadigung des Hauptmanns beendet worden, noch befindet der sich auf der Teufelsinsel und folglich ist die Affäre ein Diskussionspunkt am Rande vieler Treffen.

Ein Telefonat mit der Großmutter, gibt dem Autor Gelegenheit ausführlich über die „Fräuleins vom Amt“ zu philosophieren. Es ist eine faszinierende Lektüre; ich tauche ein in eine andere Zeit, ich nehme mir Zeit, lasse mich mitnehmen auf die Gedankenreisen, auf ausschweifende Erzählschleifen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, nehme ich mir die Zeit, gewinne sie mir zurück und freue mich auf die noch vor mir liegenden vielen Seiten.

Der Abschied von der Großmutter, die Beschreibung ihres Todeskampfes, das gesellschaftliche Drumherum, wo ist das schon einmal so beschrieben worden, wie hier in diesem Meisterwerk? „Wir sagen wohl, die Stunde des Todes sei ungewiss, aber wenn wir es sagen, stellen wir uns diese Stunde in weiter, vager Ferne vor, wir denken nicht daran, dass sie irgendeine Beziehung zu dem bereits begonnenen Tage haben und dass der Tod – oder sein erster partieller Zugriff, nach dem er uns nicht mehr loslassen wird – am gleichen Nachmittag noch erfolgen könne, der uns so gar nicht ungewiss schien, für den der Gebrauch der Stunden bereits im Voraus festgelegt war.“

Dass Marcel nun nach Jahren Albertine endlich einen Kuss geben darf und wenn er sich nicht so verklemmt verhielte, sicherlich auch deutlich mehr, entschädigt die Lesenden für viele Seiten Beschreibung rund um diese „delikate“ Situation.

Spätestens bei der Lektüre der Wiedergabe des Tischgespräches bei der Herzogin von Guermantes, der vielen Spitzen, der feinen Ironie in der Konversation wird deutlich, dass unser Marcel nicht zu den „konstipierten Schriftstellern“ gehört, „die alle fünfzehn Jahre einen Einakter zutage fördern oder ein Sonett“, sondern dass dieser Schriftsteller zu den ganz großen seines Faches gehörte und gehört.

Zum Ende dieses dritten Teils der „Recherche“ taucht Swann wieder auf, sterbenskrank, doch wird diese Krankheit vom Herzog und der Herzogin nicht ernst genommen, vielleicht nicht einmal richtig wahrgenommen, in all ihrer oberflächlichen Lebensart.

Und dann bleiben Sätze zurück, die den Lesenden nicht mehr aus dem Kopf gehen, jedenfalls nicht so schnell: „Wir fühlen uns durch jedes Leben angezogen, das für uns etwas Unbekanntes darstellt, durch eine alte Illusion, die erst noch zerstört werden muss.“

Sodom und Gomorra

Wenn man mich fragte, warum ich nun bereits 2760 Seiten eines Romans gelesen habe, in dem manchmal die Handlung sehr überschaubar ist, in dem auf sehr vielen Seiten über die Etymologie französischer Ortsnamen doziert wird, ein Abend in einem „kleinen Kreis“ bei den Verdurins so ausführlich geschildert wird, dass man meinen könnte unter den Teilnehmenden zu sitzen, bliebe mir nichts anderes zu sagen, als dass es sich um grandiose Literatur handelte.

Unser Marcel, ich berichte über den nächsten Teil des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust – Sodom und Gomorra, entdeckt was aufmerksame Lesende bereits entdeckt hatten: Baron de Charlus ist schwul. Der alternde Mann ist in einen jungen Musiker, der uns in einem anderen Teil des Romans auch schon begegnete, verliebt.

Marcel reist wieder nach Balbec ans Meer, er wird wieder eng mit Albertine, die er liebt und auf die er so außerordentlich eifersüchtig ist, zusammen sein. Sein Leben an der See besteht eigentlich aus einer ununterbrochenen Reihe von Einladungen zu Diners, von Spazierfahrten und vielen Gesprächen.

Was die Lektüre dieses Werks so einzigartig macht, ist der Zauber der Geschichten und die überragende Formulierungskunst des Autors. Es ist die präzise Art der Wiedergabe von Gestalten, die uns bei den verschiedenen Gelegenheiten begegnen.

Es sind Sätze, wie die nachfolgende kleine Auswahl, die mich diesen Roman bis zum letzten Absatz auskosten lassen wird:

„…wobei er mit grotesker Überheblichkeit die Faust auf die Hüfte stemmte und sein Hinterteil herausdrückte, kurz, Posen annahm, in denen jene Koketterie lag, welche die Orchidee für die von der Vorsehung gesandte, überraschend eintreffende Hummel hätte aufwenden können.

Man beunruhigt sich, und oft erinnert man sich dann lange nach der Stunde der Gefahr, die man dank der Zerstreuung vergessen hat, erst wieder an seine Sorgen.

Die Irrtümer der Ärzte sind ohne Zahl. Sie sündigen gewöhnlich durch Optimismus mit Bezug auf das Regime des Kranken, durch Pessimismus aber, was den Ausgang des Leidens betrifft. ‚Wein? Mit Maßen genossen, kann er Ihnen nicht schaden. Alles in allem ist er ein Anregungsmittel wie viele andere auch. … Die Frauen? Schließlich handelt es da ja um eine Funktion. Die Liebe ist Ihnen erlaubt, soweit es nicht zum Übermaß kommt, Sie verstehen mich schon. Exzesse sind auf allen Gebieten vom Übel!‘

Adieu, ich habe kaum mit Ihnen gesprochen, aber so ist es nun einmal in der Welt, man sieht sich nicht, man sagt sich nicht, was man sich sagen möchte; im Übrigen ist es überall im Leben das gleiche.

Schließlich erklärte sie das ganze Leben für eine unsäglich fade Angelegenheit, ohne dass man recht wusste, woher sie eigentlich den vergleichenden Maßstab nahm.

Wenn man wartet, leidet man so sehr unter der Abwesenheit dessen, was man sich herbeiwünscht, dass man keine andere Gegenwart erträgt.

Die Fortschritte der Zivilisation gestatten jedem, ungeahnte Vorzüge oder neue Laster zu offenbaren, durch die er seinen Freunden umso teurer oder ganz unerträglich wird.

Aber ich hatte seit langem aufgehört, aus einer Frau gleichsam die Quadratwurzel ihrer Unbekannten ziehen zu wollen, welche oft nicht einmal dem einfachen Akt des Vorstellens standhielt.

Gewisse Träume von geteilter Zärtlichkeit, die immer in uns lebendig sind, heften sich gern durch eine Art von Affinität der Erinnerung (unter der Voraussetzung, dass diese bereits ein wenig verschwommen ist) an eine Frau, mit der wir einen Augenblick des Glücks gekostet haben.

Wenn die Medizin nicht wirklich zu heilen vermag, gibt sie sich damit ab, den Sinn der Verben und Pronomina abzuwandeln.

… denn nicht nur dadurch, dass man andere, sondern auch dass man sich selbst belügt, verliert man schließlich das Gefühl dafür, wann man eigentlich lügt …

… und zudem sich endlich darüber klar werden muss, dass man begonnen hat, sein Leben ernstlich und als Erwachsener zu führen, jenes eine Leben, das jeder von uns nur zur Verfügung hat.

Nur allzu groß ist meiner Meinung nach heute die Zahl der Menschen, die ihre Zeit damit vertun, ihren Nabel zu beschauen, als sei er der Mittelpunkt der Welt.“

Die Zeit gefunden

Mit einem schlanken Satz „spoilert“ Marcel Proust seine eigene Erzählung „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, weil es ihm nicht um das große Finale (das alles aufdeckt) geht. „Es wird sich später zeigen, wie diese mündliche Presse die Macht eines aus der Mode kommenden Charlus zu einem Nichts reduziert und einen Morel, der nicht den millionsten Teil seines ehemaligen Beschützers wert war, weit über ihn erhebt.“

In den letzten drei Teilen der „Recherche“ geht es dem Autor darum, die einzelnen Stränge der Geschichte zusammenzuführen. Zu einem Ende zu bringen.

Die Geschichte mit Albertine, die Marcel nahezu gefangen hält, aus Eifersucht. Er selbst spricht von „Albertines Versklavung“. Er schwankt zwischen seiner Art der Liebe und der Unfähigkeit, loslassen zu können:

„… ich hatte mich auf dem Schlummer Albertines eingeschifft. … „

„Sie fand die Sprache wieder, sie sagte: ‚Mein‘ oder ‚mein lieber‘, jeweils gefolgt von meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler denselben Vornamen verliehe, den der Verfasser dieses Buches trägt, ergeben hätte: ‚Mein Marcel‘ oder ‚Marcel, Liebling‘.“

„Die Eifersucht ist oft nur ein ruheloses Bedürfnis der Tyrannei im Bereich der Liebesdinge.“

„Das Leiden in der Liebe hört immer wieder von Zeit zu Zeit auf, doch nur, um in anderer Gestalt neu zu erstehen. Wir sind unglücklich bis zu Tränen, wenn wir sehen, dass diejenige, die wir lieben, uns gegenüber nicht mehr die überquellende Sympathie, das verliebte Entgegenkommen der ersten Tage zeigt; …“

„Ich verfüge über die Sorglosigkeit aller derer, die das Glück für dauerhaft halten.“

Er weiß, dass die Geschichte mit Albertine zu Ende geht und doch geht der Kampf in seinem Innern weiter: „Und dennoch war ich mir darüber klar, dass ich seit langem schon hätte aufhören sollen, Albertine zu sehen, denn sie war für mich in die beklagenswerte Periode eingetreten, in der ein Wesen sich weithin in Raum und Zeit verliert und für uns nicht mehr eine Frau ist, sondern ein Ablauf von Begebenheiten, in die wir kein Licht hineinbringen können, eine Folge unlösbarer Probleme, ein Meer, das wir lächerlicherweise wie Xerxes zu schlagen versuchen, um es zu bestrafen, dass es etwas verschlungen hat, was uns wertvoll war.“

„Denn wie die Liebe zu Anfang aus dem Verlangen entsteht, wird sie später durch peinvolle Angst unterhalten. Ich spürte, dass ein Teil von Albertines Dasein sich mir entzog. Die Liebe aber strebt in eben jener peinvollen Angst wie auch im seligen Verlangen immer zum Ganzen hin. Sie entsteht nur und hält nur an, solange ein Teil noch immer zu erobern bleibt.“

Schließlich wird Albertine ihn verlassen und schon bald darauf Opfer eines Reitunfalls. Die nächsten vielen Seiten sind vielleicht das anrührendste und tiefste Zeugnis über die schriftstellerische Meisterschaft des Autors. Die nicht enden wollende Totenklage ist von großer Poesie und die Lesenden sind geneigt Trauerkleidung zu tragen.

Die Trauer hält ihn nicht davon ab, nach Albertines „Untreue“ weiter zu fahnden. Ein Kampf in seinem Innern wogt hin und her: „… was während fast eines Jahres mein Ziel gewesen war: ihr nicht eine Stunde Freiheit zu vergönnen.“

„Man verlangt umso mehr nach einer Person, wenn sie dicht daran ist, sich uns hinzugeben; die Hoffnung nimmt den Besitz vorweg; die Sehnsucht wirkt als eine Verstärkung des Verlangens.“

„… was ich gesucht hatte – das heißt Albertine selbst, die Zeit, die wir zusammen verlebt, die Vergangenheit, nach der ich mich auf die Suche begab, ohne es zu wissen.“

„Ob man nun gesellschaftliche Vorteile oder weise Voraussicht ins Treffen führen kann, Tatsache ist, dass man keine Macht über das Leben eines anderen Wesens hat.“

„Und ist es letzten Endes so viel lächerlicher zu bedauern, dass eine Frau, die nicht mehr ist, nichts darüber weiß, was wir über ihr sechs Jahre zurückliegendes Tun nunmehr erfahren haben, als zu wünschen, dass von uns, die wir dann tot sein werden, das Publikum in hundert Jahren noch rühmend spricht?“

Natürlich verlässt den Autor auch nicht sein trockener Humor: „… das sogar noch länger währte als die Erinnerung, denn infolge der Energieerhaltung, die allem Physischen eigen ist, bedarf das Leiden nicht einmal der Lehren, die das Gedächtnis zu geben vermag; so leidet ein Mann, der die schönen, beim Mondschein in den Wäldern verbrachten Nächte vergessen hat, noch immer an dem Rheumatismus, den er ihnen verdankte.“

Er stellt schließlich fest, dass die Gedanken an Albertine seltener werden, seine Trauer löst sich in der Zeit auf: „Denn es gibt in dieser Welt, in der alles sich abnutzt, alles untergeht, etwas, was noch vollkommener versinkt, noch nachhaltiger der Zerstörung anheimfällt und noch weniger Spuren zurücklässt als die Schönheit: den Kummer.“

Marcel Proust schildert den ersten Weltkrieg aus der Sicht eines vom Kriegsdienst freigestellten Beobachters. Auch diese Schilderung ist beeindruckend, zeigt sie doch die hässliche Fratze derjenigen, die sich darum grämen kein Croissant zum Frühstück in den Milchkaffee tunken zu können, während auf den Schlachtfeldern die Jugend Europas verblutet.

Schließlich biegen die Lesenden auf die Zielgerade ein.

Marcel will nun endlich alles aufschreiben. Hat er sich selbst der Prokrastination beschuldigt: „: … diese nun schon so viele Jahre alte Gewohnheit war vielleicht an dem ewigen Wiederaufschieben schuld, das Monsieur de Charlus geringschätzig mit dem Namen ‚Prokrastination‘ belegte; …“. So weiß er nun: „Da bemerkte ich, der ich seit meiner Kindheit immer nur von einem Tag zum andern lebte und mir im Übrigen von mir selbst und dem anderen ein definitives Bild gemacht hatte, an den Metamorphosen, die sich an allen diesen Leuten vollzogen hatten, zum ersten Mal die Zeit, die für sie vergangen war; das aber trug mir die bestürzende Offenbarung ein, dass sie ebenso für mich vergangen war.“ Und wir wissen schon, wie es ausgehen wird: Marcel, die Romanfigur, wird im Gegensatz zu unserem Autor nichts aufschreiben. „Ja, die Idee vom Wesen der Zeit, die ich mir gebildet hatte, sagte mir, es sei an der Zeit, mich an dies Werk zu begeben. Es war höchste Zeit; aber, und das rechtfertigt die Angst, die sich meiner gleich beim Eintreten in den Salon bemächtigt hatte, als die geschminkten Gesichter mir den Begriff der verlorenen Zeit vermittelten, war es wirklich noch Zeit und war ich selbst noch imstande dazu?“

Leider wurden die letzten Bände von Proust nicht mehr selbst überarbeitet, seine Krankheit ließ ihm nicht ausreichend Zeit. An einigen Stellen merkt man es. Dr. Cottard ist tot und taucht ein wenig später doch noch wieder lebendig auf. Ebenso Bergotte, der Dichterfürst, den wir bereits zu Grabe getragen hatten. Aber hier ist kein Platz für kleinteilige Kritik.

Dieser Roman ist ein so unfassbares Werk, dass die Lesenden vor Ehrfurcht erschauern und sich an der Schönheit der Sprache weiden und von der wunderbaren Übersetzung von Eva Rechel-Mertens einfach nicht losreißen können.

Und so sollten wir uns an dem Werk erfreuen, solange es auf Erden Menschen gibt:

„Auch mit der Auferstehung ist es dann aus, denn immerhin müssen, soweit auch in künftige Generationen hinein die Werke der Menschen fortstrahlen werden, dazu Menschen vorhanden sein. Wenn aber zwar gewisse Ziergattungen länger dem Einbruch der Kälte Widerstand leisten, doch keine Menschen mehr vorhanden sein werden, so wird der Ruhm Bergottes, selbst wenn er bis dahin angedauert hat, trotz allem jäh für alle Zeiten erlöschen. Die letzten Tiere werden ihn ja nicht lesen, denn es ist wenig wahrscheinlich, dass sie dann wie die Apostel an Pfingsten die Sprachen der verschiedenen Menschenvölker verstehen, ohne sie je erlernt zu haben.“

Proust Mania

Nach Abschluss der Lektüre der Recherche, wollte ich noch einmal an den Anfang des Werkes zurückkehren. Ich wollte noch einmal Combray wiedersehen/wiederlesen. Nun mit meinem Wissen ausgestattet, wie die Figuren sich im Laufe der Zeit entwickeln würden. Ich könnte auch nicht dem Einwand widersprechen, mich nicht von dem Werke Prousts trennen zu können.

Was mir nun besonders in den Mittelpunkt meiner Empfindungen trat, war das Gefühl, den Roman eines überragenden Stilisten zu lesen. Der erste Teil des Bandes „In Swanns Welt“ ist auch ein frühes Beispiel von „nature writing“, himmlisch schön!

Hierfür nur einige wenige Beispiele:

„… besonders aber die Spargel hatten es mir angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen Ende zu – das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug – lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, dass diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem essbarem Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Feenkomödie gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaß aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgefäß umschufen.“

„… ein Blau zumal, das eher blütenhaft als luftgeboren wirkt, ein Zinerarienblau, das in unseren Himmelsstrichen überrascht.“

„Die Fliederzeit ging ihrem Ende zu; einzelne Zweige ließen noch auf hohen grauvioletten Leuchtern die zarten Bläschen ihrer Blüten leuchten, aber in vielen Partien des Laubwerks, wo sie vor einer Woche ungefähr noch duftend aufgeschäumt waren, welkten sie jetzt als schrumpfendes, geschwärztes, hohles, trockenes, duftlos gewordenes Gekräusel dahin.“

Natürlich ist in diesem Teil auch die „Madeleine Story“ enthalten, von vielen vielleicht nur deshalb immer wieder zitiert, weil man bis hierhin leicht gelangen kann. Die berühmte Geschichte beginnt auf S. 63:

„Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man Madeleine nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. … Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.“

Und es gibt diese vielen wundervollen Metaphern, die unübertroffenen Charakterisierungen:

„Ein Duft, „der einen durch die Nase träumen lässt, …“

„Aber woran soll man denn hängen, wenn nicht am Leben, wo es doch das einzige Geschenk ist, das der liebe Gott uns nicht zweimal macht.“

„… im Museumsbestand unserer Allgemeinvorstellungen…“

„… sie wusste, dass sie unausrottbar großherzig war, …“

Die Etymologie, offensichtlich ein Steckenpferd des Autors, taucht bereits auf, denn schon der Pfarrer der Gemeinde von Combray geht dieser Leidenschaft nach; später wird es Professor Brichot sein, der die Lesenden damit intelligent unterhält.

Es gibt kleine Nebenbemerkungen, denen ich keine Bedeutung beigemessen hatte: „… ausgerechnet in einer Kirche, in der keine zwei Steinplatten gleich hoch liegen, …“. Doch daran wird sich später Marcel erinnern, an einer ganz anderen Stelle, einer Unebenheit am Palais des Prinzen von Guermantes.

Es war richtig, diesen ersten Teil noch einmal gelesen zu haben. Nun wende ich mich erst einmal anderen Lektüren zu! Obwohl, ach, es ist auch schon lange her, eine Liebe von Swann gelesen zu haben.

Wer die Zeit hat, lese diesen Roman, wer nicht, nehme sie sich einfach!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

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