Bevor ich über meine Eindrücke bei der Lektüre des Romans berichte, muss ich eine kurze Geschichte erzählen. In meinen Bücherregalen wird der Platz knapp. Ich muss ab und an die Bücher ein wenig umschichten, um noch ein wenig Platz zu schaffen. Als ich vor einiger Zeit die Romane, die bei mir alphabetisch nach den Namen der Autorinnen geordnet sind, unter „W“ zu ordnen versuchte, fiel mir ein Roman von Ronaldo Wrobel mit dem Titel „Hannahs Briefe“ in die Hände. Ich staunte nicht schlecht: wie kam dieses Buch in mein Bücherregal? Ich hatte das Buch nicht gekauft, konnte mich auch nicht an ein Geschenk erinnern. Der Autor sagte mir nichts, die Geschichte, die ja auf dem Einband kurz und immer sehr vorteilhaft dargestellt wird, sagte mir auch nichts. Und dennoch beschloss ich, den Roman zu lesen und so wanderte das Buch auf meinen Lesestapel.
Der Kern der Geschichte spielt um das Jahr 1936 und den nachfolgenden Jahren bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs. Die Erzählung springt aber auch häufiger zurück und zum Schluss reicht sie bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts.
Der polnische Schuster Max Kutner kam gegen Ende der 30er Jahre nach Brasilien. Er lebt bescheiden und wird von der Polizei zum Übersetzer von Briefen aus dem Jiddischen verpflichtet.
So liest er Briefe, die von zwei Schwestern zwischen Argentinien und Brasilien hin und her gesendet werden. Er ist von den Inhalten, die politisch ohne Relevanz sind, so beeindruckt, dass er die in Rio lebende Hannah kennenlernen möchte. Er ist verliebt in diese Frau, ohne sie gesehen zu haben.
„Die Suche nach Hannah war nicht nur zu seinem Lebensinhalt geworden, sondern entsprang auch dem Wunsch, etwas zu sein, das er bisher nie gewesen war: glücklich.“
Es stellt sich heraus, dass diese Hannah Kundin in seiner Schusterwerkstatt ist. Er wird sie, nach dem er sie, eine bildschöne Frau, kennengelernt hat, verfolgen und hinter die Geheimnisse zu kommen versuchen, die Hannah umgeben. Welche Geheimnisse auch immer es sein mögen.
„Der kleine Teufel bat den Vater, ihm beizubringen, wie man Böses tut. Der Vater antwortete: ‚Du bist noch ein Kind. Fang mit kleinen Bosheiten an.‘
Der Junge geiferte: ‚Was für welche? Was für welche?‘
‚Hindere die Menschen daran, ihre Träume zu verwirklichen.‘
‚Das ist alles?‘, fragte der Junge enttäuscht.
‚Immer mit der Ruhe! Du wirst später noch Böseres tun.‘
Das Teufelchen tat, wie sein Vater ihm geheißen. Wer heiraten wollte, heiratete nicht, wer verreisen wollte, verreiste nicht. Jahre später kam der Vater und gratulierte ihm.
‚Du bist volljährig und darfst wirklich Böses tun, die allergemeinsten Teufeleien.“
‚Was für welche? Was für welche?‘
‚Hilf den Menschen, ihre Träume zu verwirklichen.‘“
Diese wunderschöne Geschichte verrät mehr über den Inhalt dieses Romans als ich normalerweise in einer Rezension preisgebe. Überhaupt springt den Lesenden die jiddische Weisheit immer wieder an: „Wissen schließt Unwissenheit nicht aus, und Überfluss nicht Mangel.“
„Ehrgeiz ohne Initiative war wie eine Glocke ohne Klöppel.“
Die Geschichte vom Bettlaken kann ich hier aus Platzgründen nicht nacherzählen. Max wird feststellen, dass seine Hannah eine Edelprostituierte und ebenfalls, wie er selbst, Mitarbeitende des brasilianischen Geheimdienstes ist. „Hannah war ein Garten voller Überraschungen im ewigen Frühling.“
Max, vor die Wahl gestellt, Hannahs Kunde oder ihr stiller Begleiter zu sein, wählt „die Rolle des geschlechtlosen Freundes und Ratgebers“.
Als Hannahs Schwester, Guita, die mit einem reichen Mann in Argentinien verheiratet ist, ihren Besuch in Rio ankündigt, schlüpft Max in die Rolle von Hannahs Gatten. Max ist froh, als die Schwester samt Ehemann, sich wieder auf die Heimreise macht. Er wird allerdings Guita schneller wiedersehen als gedacht. Mehr verrate ich nicht. Denn, wenn man wie Hannah und Max für den Geheimdienst arbeitet, bleiben Überraschungen nicht aus.
Ein Lesevergnügen, wie auch immer dieser Roman mich gefunden hat.