„Zwei der drei sind gestorben, seit ich Oxford verlassen habe, und das bringt mich auf den abergläubischen Gedanken, dass sie vielleicht gewartet haben, bis ich kam und meine Zeit dort zubrachte, um mir Gelegenheit zu geben, sie kennenzulernen und jetzt von ihnen sprechen zu können.“
So beginnt der Text eines großen spanischen Schriftstellers unserer Zeit: Javier Marías, der im letzten Jahr verstarb.
Ein junger Spanier berichtet über die Zeit seiner Gastdozentur am All Souls College in Oxford. Der Text, der als Roman firmiert, heißt daher folgerichtig „Alle Seelen“.
Das Leben des Gastdozenten wird als leicht und angenehm geschildert. So sind wir Zeugen eines der vielen Abendessen, die in den Refektorien der verschiedenen Colleges veranstaltet werden, die sich „high table“ nennen, weil Gastgeber und Gäste auf einem Podium sitzen, während die Studenten im Saal sitzen und auf diesen erhöhten Tisch schauen und ihnen von dort ein Schauspiel geboten wird, das hier nicht im Einzelnen nacherzählt werden kann, das sich aber schon bald in ein absurdes Theaterstück verwandelt. Bei diesem Essen lernt er eine verheiratete Dozentin, Clare, kennen und die beiden werden ein Verhältnis beginnen. Später wird er schreiben: „An jenem Abend wurde mir bewusst, dass mein Aufenthalt in der Stadt Oxford, wenn er zu Ende ginge, sicher die Geschichte einer Verstörung wäre; …“
Es beginnt die Phase der Heimlichkeiten, man trifft sich bei ihm, in ihrem Büro oder auf wenige Stunden in London oder einem anderen Ort. Er macht sich mehr Gedanken darüber, dass die Affäre geheim bleibt als sie. Er will wissen, was sie ihrem Mann sagen würde, wenn der sie fragte, was sie in einem Ort außerhalb Oxfords gemacht hätte. Sie bescheinigt ihm, ein Dummkopf zu sein. Schließlich antwortet sie ihm: „Wir verurteilen uns immer durch das, was wir sagen, nicht durch das, was wir tun. Durch das, was wir sagen, oder durch das, was wir sagen, dass wir tun, nicht durch das, was die anderen sagen, oder durch das, was wir getan haben.“
Er schreibt in dem Text, dass er sehr aufgeklärt und ohne Illusionen in diese Affäre gegangen sei: „Ich habe es immer für außerordentlich naiv gehalten, zu glauben, dass jemand – weil er uns liebt, das heißt, weil er allein beschlossen hat, uns eine Zeitlang zu lieben, und es uns danach mitgeteilt hat – uns gegenüber ein anderes Verhalten an den Tag legen wird als den anderen gegenüber, so als wären wir nicht dazu bestimmt, unmittelbar nach der einsamen Entscheidung und der Mitteilung des anderen die anderen zu sein, als wären wir in Wirklichkeit außer wir selbst nicht immer auch die anderen.“ Aber am Ende der zwei Jahre Oxford wird er Clare doch fragen, ob man nicht, wie auch immer, zusammenbleiben wolle. Er gibt sich sehr abgeklärt, scheint es aber doch nicht zu sein: „Ich produziere und speichere künftige Erinnerungen und bereite mir auf diese Weise ein bisschen Abwechslung im Alter vor.“
Und er bekennt: „Vergangene Liebe ist für neue Liebhaber immer verletzend, so tot diese Liebe auch sein mag.“
Der Text ist aber nicht nur die Geschichte einer Gastdozentur oder eines außerehelichen Verhältnisses. Clare muss sich außerhalb der Ferienzeit um ihren erkrankten Sohn kümmern und will ihren Liebhaber in dieser Zeit nicht sehen, nicht mit ihm zusammen sein. So erzählt der Autor von seinen Entdeckungsreisen durch die Antiquariate der Universitätsstadt, von der Begegnung mit einem seltsamen Zeitgenossen, der in ihm die Leidenschaft wachruft, sich um einen Briten namens Gawsworth zu kümmern: „Es war das Gefühl von schwindelerregender Zeitlichkeit oder aufgehobener Zeit, das entsteht, wenn man Dinge in Händen hält, die ihre Vergangenheit nicht gänzlich verschweigen, das meine Neugier schürte, und von diesem Moment an begann ich eine Forschungsarbeit, die sich monatelang als eher ergebnislos erwies, so flüchtig und unbekannt war damals und ist heute die Gestalt von Terence Ian Fytton Armstrong, der wahre Name dessen, der gewöhnlich mit Gawsworth signierte.“ Die Lesenden finden nun im Text zwei Fotografien dieses Mannes und einen Moment glaubte ich, jetzt einen Text von W. G. Sebald in der Hand zu haben. Im britischen Wikipedia findet sich der Mann wirklich; ich dachte einen Moment, er sei der überbordenden Phantasie des Autors entsprungen.
Ich berichte nicht über andere Figuren, die in dem Text eine Rolle spielen, nur so viel, dass die beiden Toten, die im ersten Satz des Textes bereits erwähnt werden, Professoren am All Saints College waren. Der jüngere, der unserem Spanier „Führer und Beschützer in der Stadt Oxford“ war, stirbt an Aids; der ältere, bereits emeritiert, hat eine Vergangenheit als Spion (ein wiederkehrendes Motiv in der Literatur von Javier Marías). Er wird dem Gastdozenten die folgenden Sätze mit auf den Weg geben: „Und trotz allem ist die Unwissenheit nach wie vor so groß, dass ich noch heute mit meinen siebzig Jahren und diesem stillen Leben unverändert hoffe, alles umfassen und alles erfahren zu können, das Ungewöhnliche und das schon Erlebte, noch einmal das schon Erlebte. Es gibt eine Passion für das Unbekannte und auch eine Passion für das Bekannte, man kann nicht akzeptieren, dass gewisse Dinge sich nicht wiederholen.“
Ich kann auch nicht über die netten Geschichten vom unzutreffenden Übersetzen oder der falschen Erklärung der Herkunft von Wörtern berichten, die in seinem wohl bekanntesten Werk „Mein Herz so weiß“ eine viel wichtigere Rolle spielen.
Am Ende tischt er uns im Eiltempo eine höchst unwahrscheinliche Geschichte über den frühen Tod von Clares Mutter auf.
Nebenbei, auf dem Weg zur Fähre nach Frankreich nach Ablauf seiner Gastdozentur, wird er noch sehen, dass der Gatte Clares eine Geliebte hat. Aber das ist alles nicht mehr von Bedeutung.