Dieses Berlin-Buch fehlte mir noch in meiner Sammlung. „Spazieren in Berlin“ von Franz Hessel animiert zum Nachmachen. Raus aus dem Lesesessel und flaniere durch diese Stadt!

Das Buch erschien 1929 und leider hat sich viel verändert seit dieser Zeit. Der Krieg legte die Stadt zum großen Teil in Schutt und Asche, die Teilung über Jahrzehnte erschwerte die Erkennbarkeit von den wenigen historischen Resten. Und dennoch hat es mir großes Vergnügen bereitet, auf Hessels Spuren zu wandeln.

Und es gilt, was er damals schrieb, noch heute: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“ Und ich füge hinzu, es flaniert sich leichter, wenn man sich als Tourist „tarnt“ und häufig das Smartphone zückt, um Aufnahmen zu machen. Diese Möglichkeit hatte Franz Hessel naturgemäß noch nicht.

Die unterschiedlich langen Kapitel des Buches führen die Lesenden nicht nur an bestimmte Sehenswürdigkeiten, sondern geben ein Einblick in den Alltag einer großen Stadt. Wir besuchen mit ihm große Fabriken und die Markthallen. Wir halten uns im proletarischen Milieu im Osten ebenso auf wie im vornehmen Westen der Stadt.

Das längste Kapitel des Buches nennt sich „Rundfahrt“. Hier schließt er sich einer Führung an, die mit einem Bus durch die Stadt unternommen wird. Ständig schweift er aber ab, weicht zumindest gedanklich von der Route der „offiziellen“ Führung ab und offenbart uns so viel mehr als die Touristen bei der Tour erfahren können. Großartig!

Über die damaligen jungen Leute vermeldet der Autor: „Diese Jugend lernt auch zu genießen, was doch im Allgemeinen dem Deutschen nicht leichtfällt.“

Franz Hessel ist ein stilsicherer Autor. Er schreibt so gekonnt, dass es eine Lust ist, ihm lesend zu folgen.

Hier nur wenige Beweise meiner Bemerkung: „Potsdam und die Havelseen, die heimliche Seele, das irdische Jenseits von Berlin!“

„Ich gehe weiter ohne bestimmte Richtung, weiß nicht, ob ich zur Rousseau- oder zur Luiseninsel kommen werde. …Immerhin ist es jetzt im veraltenden Halbdunkel noch so buschig und labyrinthisch hier…“

Oder er schreibt Sätze, die genauso jemand heute geschrieben haben könnte: „Um seiner selbst willen Neukölln aufzusuchen, dazu kann man eigentlich niemanden raten.“

„…besonders für unsereinen, der von Kindheit an so oft an ihm vorbeispaziert ist, dass er wie Spielzeug auf dem Bord der Erinnerung steht.“

Und was ist noch einmal Flanieren?

„Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.“

Im Nachwort an die Berliner folgt ein Apell, dem ich gerne gefolgt bin: „Das waren ein paar schüchterne Versuche, in Berlin spazieren zu gehen, rund herum und mitten durch, und nun, liebe Mitbürger, haltet mir nicht vor, was ich alles Wichtiges und Bemerkenswertes übersehen habe, sondern geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls.“

Ein wundervolles Buch!

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