Während wir sonst in einer Vorbemerkung von Romanen häufiger lesen, dass entstehende Ähnlichkeiten mit Personen unbeabsichtigt waren, finden wir in diesem Roman den Hinweis, dass dieser Roman „an reales Geschehen und an Personen der Zeitgeschichte“ anknüpft und „Anklänge an tatsächliche Vorkommnisse mit künstlerisch gestalteten, fiktiven Schilderungen sowie fiktiven Personen“ verbindet. Wahrlich, das tut dieser Roman, der am 9. und 10. November 2022 in Berlin spielt! Der Autor Christoph Peters gab ihn den Titel: „Innerstädtischer Tod“.
So nah am hier und jetzt kommt den Lesenden selten eine Erzählung. Sie handelt von der Familie des Künstlers Fabian Kolb, der gerade seine erste Einzelausstellung bei dem berühmten Galeristen Konrad Raspe vorbereitet. Seine Familie ist aus dem beschaulichen Krefeld angereist, um sich anzuschauen, was der ältere Sohn erschaffen hat. Sogar der jüngere Bruder, dem der Vater die Leitung der Krawattenfabrik übertragen hat, reist an. Immer schon war Fabian das große künstlerische Talent, nun scheint er es beinahe geschafft zu haben.
Fabians Cousin Martin arbeitet als Priester sowieso in der Stadt und dessen Mutter, Fabians Tante Irmgard ist auch da. Hermann Carius, noch immer Irmgards Mann, lebt in Potsdam und ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist einer der „Vordenker“ der Neonazipartei, die im Roman die „Neuen Rechten“ genannt werden. Und MdB Carius lässt sich gerade vom Fahrdienst des Bundestages durch die Stadt chauffieren, wobei er nicht nur über die zunehmende Anzahl an „ausländischen Fahrern“ nachdenkt, sondern auch über die Nofretete im Neuen Museum.
„…sie war da, …, würdigte seit 3372 Jahren niemanden eines Blickes, während einige Meter entfernt das kleinwüchsige Malergenie Adolph von Menzel dem Betrachter seinen schwieligen Zeh entgegenstreckte.“
Die „nationalen“ Gedanken des Hermann Carius kommen so geschmeidig aus der Feder des Autors, dass beim Schreiber dieser Zeilen kurzfristig der Gedanke aufkeimte: „Kann sich ein Autor so gut in dieses nationalistische „Gedankengut“ einfinden oder glaubt er selbst an das, was er schreibt?“
Ich will die Antwort sofort geben. Er findet sich in die Gedankenwelt des Priesters genauso gut zurecht, wie in die des Krefelder Krawattenproduzenten oder des Galeristen und dessen Kunstblase.
Irmgard Carius wird mit der Installation ihres Neffen nichts anfangen können, wünscht ihm aber Erfolg und Anerkennung. Sie charakterisiert der Autor wie folgt: „Irmgard Carius kannte Baselitz‘ Malerei, hatte den masturbierenden Jungen aus dem Kölner Museum Ludwig vor Augen, Die große Nacht im Eimer: ekelhaft.“
Nun kommt für die Ausstellung erschwerend hinzu, dass am Abend des 9. sich eine Nachricht verbreitet, dass Konrad Raspe von ehemaligen Mitarbeiterinnen beschuldigt wird, sich übergriffig verhalten zu haben. Fabians Gedanken kreisen um den Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen: „…,weil er komplett touchy ist, vielleicht auch weil er Macht hat – Macht, die als Verbrüderungsgehabe daherkommt, kumpelhaft und patriarchal zugleich.“
Es steckt genügend Zündstoff in diesem Roman und die einzelnen Erzählstränge werden meisterlich verknüpft und treiben einem Höhepunkt entgegen.
Cousin Martin redet mit Fabian in einem Café über den sich immer weiter nach rechts orientierenden Vater/Onkel. Und der Cousin beobachtet den redenden Priester dabei: „Es hat etwas Obszönes, Widerliches, die Mischung aus kindlichem Glück und präseniler Gier, mit der dieser Mitte dreißigjährige Mann mit dem Puddinggesicht in seinen pechschwarzen Kleidern, auf denen man jede einzelne Haarschuppe sieht, den Milchschaum aufschleckt.“
Und wie in den Romanen des wunderbaren Michael Kleeberg kommt auch Peters zu dem Schluss: „Als ob das Leben nur aus großen Fragen bestünde. Selbst wenn dem so gewesen wäre, lag doch der Sinn von Gesprächen gerade darin, sie für eine Weile zu vergessen, auszublenden, dass nichts so geworden war, wie man es sich in seinem jugendlichen Leichtsinn erhofft hatte, dass das Ganze eine große Enttäuschung darstellte.“
Dieser Roman ist mitnichten eine Enttäuschung. Er ist ein grandioses Werk!
Was es mit dem innerstädtischen Tod auf sich hat, verrate ich nicht.
Dieser Roman ist rundum gelungen. Ein großes Stück Gegenwartsliteratur! Chapeau!