Der Begriff „Pageturner“, den man gern zur Beschreibung spannender Kriminalromane verwendet, ist bei dem zu besprechenden kleinen Roman mehr als zutreffend. Obwohl es sich nicht um einen Krimi handelt, konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Zwar sollen Devisen über die Grenze transportiert werden, zwar hat vielleicht eine Romanfigur im Alkoholrausch einen Mord begangen, aber bei diesem Kammerspiel geht es um viel tiefere Fragen des menschlichen Miteinanders.
Die Autorin Irmgard Keun schildert eine Zugfahrt von Berlin nach Paris – „D-Zug dritter Klasse“ – in einer Zeit, in der „Deutschland eine politische Auffassung habe, verschieden von der politischen Auffassung anderer Länder“.
Sieben Menschen befinden sich in einem Abteil dritter Klasse. Eine Frau wird den Zug in Köln verlassen, die anderen sechs Personen werden nach Frankreich fahren. Nur drei von ihnen sind vor der Zugfahrt miteinander verbunden: Lenchen mit ihrer Tante und ihrem Liebhaber Karl. Karl will Devisen nach Frankreich und dann weiter in die Schweiz schmuggeln. Lenchen sich eigentlich von Karl trennen oder auch nicht und die Tante, ein wenig verrückt vielleicht, verfolgt ihre eigenen Pläne.
Die anderen drei Mitreisenden haben ihre eigenen Schicksale. Wir lernen sie alle auf 135 Taschenbuchseiten kennen. Irmgard Keun besitzt eine meisterliche Art des Erzählens. Meist genügen wenige Zeilen und die Figur tritt deutlich aus dem Buch hervor.
Ein früherer Liebhaber Lenchens sah diese auf der Theaterbühne als Julia: „Er fand sie engelhaft schön und empörend unbegabt.“
Die Autorin berichtet über die Beziehung Lenchens mit Karl, der ein Alkoholiker ist und bei dem sie stets zwischen Angst und Zuneigung schwankt. Als sie eines Tages Karl nach Hause holen will, zögert dieser den Moment hinaus, weil er noch austrinken müsse. Irmgard Keun beschreibt den Tag: „Es war ein grauer Mittag, kein Morgen schien ihn geboren zu haben, und ein grauer Abend ohne Glanz und Sterne schien ihm bereitet.“
Karl, Mediziner von Beruf, beschreibt sie wie folgt: „Er schrieb wissenschaftliche Abhandlungen, die nie fertig wurden und betrank sich regelmäßig und gewissenhaft, um weiter an sein Glück und sein Genie glauben zu können.“ Irmgard Keun war eine Zeit lang mit dem „heiligen Trinker“ Joseph Roth liiert, sie wusste, wovon sie schrieb.
Im Abteil sitzt auch ein junger Mann, Albert. Die Lesenden sind Zeugen einer Annährung von Lenchen und Albert: „Ja, die Vorfälle dieser Reise boten Stoff für viele, künftige romantische Liebesgespräche.“
Ja, dieser schmale Roman bietet Anlass für viele, künftige Erkundungen weiterer Werke dieser großartigen Schriftstellerin.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.