Ab und an las ich in der Neuen Zürcher Zeitung Artikel von Hans Ulrich Gumbrecht über die Veränderungen im Leben. In der Vergangenheit haben sich andere Autoren immer wieder mit dem Verschwinden von Dingen beschäftigt, die früher unser Leben bestimmten und sich nun in nichts aufgelöst zu haben scheinen.
Einige dieser sehr lesenswerten Artikel sind gemeinsam mit einem Essay in einem kleinen Reclam Bändchen zusammengefasst: „Das Ende von allem?“.
So spekuliert der 75jährige Geisteswissenschaftler über das Ende der Museen. Heutzutage besuchten die Menschen ein Museum nur noch mit Smartphone. Von Exponat zu Exponat wanderten die Besuchenden fotografierend vorbei, aber „an keiner Stelle gerät der zügige Fortgang des Aufzeichnens in die Kraftfelder der Originale“. Aber „ohne die grundlegenden und je spezifischen Kraftfelder von Räumlichkeiten werden Museen nicht existieren können“.
Nun gestehe ich selbst zu der Kategorie der mit Smartphone ausgestatteten Besuchenden zu gehören, die staunend vor Kunstwerken im Museum stehen und dann die wundervollen Gemälde eines Manet oder Monet fotografieren. Dabei gerate ich immer zweifach in das Kraftfeld des Exponats, im Museum und später beim Betrachten daheim. Die Museen erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit und nicht immer ist es wegen des Andrangs der Besuchenden möglich, Fotografien zu machen.
Gumbrecht schildert die Veränderungen beim Sehen von Fernsehsendungen. Die gemeinsamen Zeiten vor dem Apparat sind seltener geworden, vielleicht ja überhaupt nur noch bei der Live-Übertragung von Sportereignissen oder beim gemeinsamen Schauen des „Tatort“. „Viel weniger als früher sind wir auf individuelle Synchronisierungen mit den jeweiligen Gegenwarten einer laufenden Zeit angewiesen, seit jede unmittelbare oder lang zurückliegende Vergangenheit in einer diffusen, immer breiter werdenden Gegenwart abrufbar ist“. „Nur für Interaktion mit anderen Menschen brauchen wir noch die Koordination in einer und derselben Gegenwart.“
Er beklagt sehr subtil das Ende der Stierkämpfe: „Maßnahmen im Stil des Corrida-Verbots entstehen aus dem neuen Selbstbild einer Menschheit, die Gefühle ihrer kosmischen >Solidarität< mit Tieren, Pflanzen und zunehmend auch Dingen entdeckt hat. Dagegen ist natürlich grundsätzlich nichts einzuwenden.“ Aber, fügen die Lesenden nun im Kopf hinzu, unterschwellig schon.
Gumbrecht spannt einen weiten Bogen. In der Betrachtung über „Fußball-Kämpfer“ lässt er sich über die gigantischen Ablösesummen einiger Spieler aus. Insbesondere über Neymar im Vergleich zu Ronaldo oder Messi. Und dann kommt eine sehr anmaßende Schlussfolgerung, deren Ergebnis ich zwar teile, nicht aber deren Herleitung: Es fehle Neymar im Vergleich zu den anderen an Profil. „Die typisch brasilianische Vielfalt der individuellen Fähigkeiten hat nie eine Verdichtung erreicht, die Neymar ausmacht und definiert“.
In einer anderen Betrachtung geht Gumbrecht auf den Liberalismus ein. „Nicht die Verteidigung des Kapitalismus oder ein Engagement für Steuersenkungen hat die Liberalen erfolgreich gemacht, sondern ihr Vorbehalt gegen staatliche Festlegungen einer Zukunft, die sich nicht in prägnante Konturen hochrechnen lässt.“ Nur, lieber Autor, diese Art von Liberalismus gibt es nicht mehr; was wir vorfinden, ist die unansehnliche Maske des Neoliberalismus, der Gedanke „freie Fahrt für freie Bürger“ in allen Lebensbereichen.
Das schmale Bändchen regt zum Nachdenken und ja, zum partiellen Widerspruch an.
Und das kann nicht über jedes Buch geschrieben werden.