Es gibt wundervolle Bücher, leider reicht die Zeit nie, sie alle zu lesen. In letzter Zeit las ich, dem Beispiel meines Sohnes folgend, wieder mehr. So habe ich zwei Romane von Ex-DDR-Bürgern gelesen, mit großem Vergnügen und ohne Mühe. Helden wie wir (Autor Thomas Brussig) und der Zimmerspringbrunnen (Autor Jens Sparschuh) arbeiten die Wende auf. Beide Autoren sind jung und kritisch, kritisch waren sie ihrem alten Regime gegenüber und sind es geblieben. Doch gerade Helden wie wir ist mehr als nur die Auseinandersetzung mit der DDR, es ist auch die schonungslose Ansicht einer Familie, einer intakten noch dazu. Wie hier einer aus der Sicht des „Kindes“ seine Erziehung erlebt, das ist nicht nur komisch, sondern geht auch unter die Haut. Es gibt sie doch, die Auseinandersetzung mit der sogenannten Wiedervereinigung, man muss nur genau hinsehen (Matthäus 7,7!). In letzter Zeit habe ich sehr unterschiedliche aber auf ihre Art köstliche Bücher gelesen. Zunächst habe ich mich durch „Lempriere’s Wörterbuch“ gequält. Nicht die ganze Zeit, sondern nur durch die ersten 150 bis 200 Seiten. Dann stieg ich allmählich ein in das Phantasiekarussell und merkte, wie ich Spaß am langsamen Drehen bekam. Der Autor (Lawrence Norfolk) hat sich seinen eignen kleinen Kosmos geschaffen und wir können staunend zuschauen. Mit noch größerem Vergnügen, gar Leidenschaft habe ich „Die Entdeckung des Himmels“ aufgesogen. Dieses Buch von Harry Mulisch, dessen Stil mich teilweise sehr an Milan Kundera erinnert, war schlicht und ergreifend himmlisch! Der Plan von der Abschaffung des Dunkel ist ein Buch, das man nur ungern aus der Hand legt, bevor es beendet ist. Gleichwohl ist es kein Buch, das ich mit auf die einsame Insel nehmen würde. Die Geschichte von dem Waisenkind Peter (wahrscheinlich ein Stück Autobiographie seines Autors Peter Hoeg), das Anknüpfen der zarten Bande mit einem Mädchen und die gemeinsame Verantwortung für den jüngeren Jungen als Dritten im Bunde, das alles ist packend und intelligent verknüpft mit der Frage, was eigentlich Zeit sei. Der letzte Teil des Romans dehnt sich und ist allzu sehr von theoretisch, philosophischen Fragestellungen durchdrungen, als dass er die spannende und gleichzeitig erschütternde Handlung noch richtig vorantreiben könnte. Auch die so zart hingehauchte Liebesgeschichte löst sich auf. Ein lesenswertes Buch, aber wie gesagt kein Aspirant auf einen Platz auf meiner Lieblingsliste. So ähnlich beurteile ich auch Paul Austers „Mond über Manhattan“. Das Buch ist ein Kunstwerk. Kunstvoll sind die Handlungsstränge miteinander verwoben, doch die Offenbarung ist der Roman nicht. Schon früh fragte ich mich warum der Mensch, der da fast auf der Strecke bleibt, sich nicht rechtzeitig einen Job sucht. Antwort: Er hätte sonst nicht in die Kunstwelt des Romans hineingepasst. Aber so ist es weit weg von dem wirklichen Leben und ob der Held am Ende über sich selbst so viel erfahren hat, das bezweifle ich. Heinz Ohff hat das Leben Fontanes nachgezeichnet und damit eine sehr lesenswerte Biographie erstellt. Ich habe das Buch vor allem gelesen, um in einem oder in zwei Jahren, wenn der letzte Grass-Roman als Taschenbuch vorliegt mehr über Fonty zu wissen. Die Begeisterung für den Stechlin teile ich nicht. Im Urlaub las ich zwei Bücher. Bücher von Format, wie ich finde: „Madame Bovary“ (Gustave Flaubert) und „Radetzkymarsch“ (Joseph Roth). Die Geschichten haben nichts miteinander gemein. Nur beide sind so wunderbar erzählt, dass es mir schwerfiel, aufzuhören. Jetzt müsste ich anfangen, die Bücher im Einzelnen zu loben, ich kann es nicht, ich weiß nur, dass ich große Literatur genossen habe.   Zunächst einen Bestseller, gerade auf Platz eins der Hitparade: Der Regenmacher von John Grisham. Ich gebe gern zu, dass der flotte Schreibstil und das spannende Erzählen beeindrucken. Auch im Regenmacher wieder. Der Held ist sympathisch und gern würde man ihm die Millionen als Lohn für seine Bemühungen, eine Versicherungsgesellschaft in die Knie gezwungen zu haben, gönnen. Es ist eine angenehme Lektüre, es ist ein Buch für den Urlaub und steht von daher zu Recht ganz oben auf der Bestsellerliste. „Der Choral am Ende der Reise“ ist an einigen Stellen zähflüssig und man braucht ein wenig Energie, um über diese Abschnitte hinwegzukommen. Doch mehr bemängele ich nicht. Vielmehr dies: Es ist ein Buch von unerhörter Strahlkraft, seit langer Zeit habe ich vergleichbares nicht gelesen. Die Mitglieder des Bordorchesters der Titanic haben alle ihre Geschichte, ihre Vergangenheit und wir wissen, dass sie keine Zukunft haben. Mit wieviel Einfühlungsvermögen die einzelnen Schicksale ausgebreitet werden und wie immer wieder gleichsam als Rahmen das Leben an Bord der Titanic bis zu ihrem Untergang geschildert wird ist meisterlich komponiert. Ja, dieser Choral ist eine Komposition. Der vielstimmige Choral klingt noch immer in meinen Ohren und es jubelt in mir, wenn ich an dieses Leseabenteuer denke. Mein Herz so weiß Die Abbildung des Schutzumschlages der deutschen Ausgabe des Romans „Mein Herz so weiß“ von Javier Marias zeigt den Kopf eines jüngeren Mannes, er trägt einen ordentlichen Mittelscheitel, die Krawatte ist korrekt gebunden und auf sein Ohr führt eine gepunktete Linie zu. Dieser Roman handelt von den Dingen, die einmal ausgesprochen, in der Welt sind. Das Ohr hat kein Lid, kann sich nicht schützen, es ist zum Hören verurteilt. Dieser Roman handelt von Kommunikation, der großen, die die Staatenlenker betreiben, die nur mit Dolmetscher sich zurückziehen und miteinander die Dinge regeln (vielleicht aber auch nicht und nur den falschen Einflüsterungen der Dolmetscher folgen und sich dadurch möglicherweise sympathisch oder auch unsympathisch finden). Dieser Roman handelt auch von der kleinen Kommunikation, dem Wunsch, einen Menschen in der Nähe zu wissen, mit dem man reden kann (und manchmal auch schlafen). So ein Mensch kann heutzutage per Videoband und Kontaktanzeige gesucht und gefunden werden (vielleicht). Dieser Roman handelt von den Geheimnissen, die jeder Mensch vor anderen Menschen, wie nah diese ihm auch immer sein mögen, hat. Die Geschichte spielt sich im Kopf ab, diese Geschichte ist konstruiert und dennoch leicht zu erzählen. Am Anfang des Romans werden wir Zeuge eines Selbstmords, der sich bereits vor vierzig Jahren ereignet hat, den die erste Frau des Vaters des Ich-Erzählers, verübt (ich sage erste Frau, obwohl dies nicht zutrifft, aber da ich dem Leser die Spannung, dieses nicht gerade üppige Element dieses Buches erhalten mag, sage ich es wider besseres Wissen), nachdem sie gerade von der Hochzeitsreise zurückgekehrt ist. Als der Ich-Erzähler auf seiner eigenen Hochzeitsreise ist, wird er (und auch seine Frau, obwohl er zunächst annimmt alleiniger Zeuge zu sein) Ohrenzeuge eines Gesprächs, das in einem benachbarten Hotelzimmer stattfindet und (wie könnte es anders sein) das weitere Zusammenleben der sich dort unterhaltenden Personen zum Inhalt hat. Das belauschte Gespräch ist ein Schlüssel (allerdings wird es dem Ich-Erzähler erst später klar) für das Selbstmordmotiv der jungen Braut seines Vaters. Er will endlich den Grund für diesen rätselhaften Selbstmord erfahren. Er erfährt ihn schließlich. Er kann damit leben, sein Vater tut es schon seit vierzig Jahren, seine Frau kann es auch. Dieser Roman handelt vor allem von der Möglichkeit des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau (vielleicht auch von deren Unmöglichkeit). Dieser Roman verdient viele Leser, die sich der Mühe unterziehen, denn es ist eine, dieses Buch zu lesen. Wie aber kommt man darauf, dieses Buch überhaupt in die Hand zu nehmen? Dies liegt daran, dass einhellig dieser Roman gefeiert wird. Kann man ihn da schlecht finden, wenn ihn alle gut, sehr gut oder sogar außergewöhnlich finden? Man könnte schon, aber dieses Buch ist wirklich gut. Es ist eine Geistesarbeit, die der Leser mit vollziehen muss, es ist eine mögliche Philosophie unserer heutigen Gesellschaft, deren Kommunikationsweisen, deren Sprache und deren Fähigkeit zum Dialog. Ich habe ein beeindruckendes Buch gelesen (und bin auch beeindruckt davon, dass es einen Autor gelingt, so viele Seiten damit zu füllen, dass man die Zweifel, die Gegenargumente immer wieder ausbreitet). Der Autor tut dies übrigens dadurch, dass er ständig (was die Lesbarkeit nicht gerade erhöht) Klammersätze einfügt. Ein Buch zum Bestseller hochgejubelt? Zu Recht! Fräulein Smillas Gespür für Schnee, mehr als ein Krimi Die Story ist oberflächlich betrachtet ein Krimi. Eine Frau glaubt nicht an den natürlichen Tod eines Kindes durch Absturz vom Dach eines Lagerhauses. Das Kind litt an Höhenangst, wie kommt es da freiwillig auf ein Dach? Die Frau, Smilla, eine Glaziologin, taucht in ein Gestrüpp von schier undurchdringlicher Handlung ein. Ihr Helfer, ein stotternder Handwerker, ist nicht der für den sie ihn hält. Der Vertreter der Staatsmacht nicht der Fiesling für den die Lesenden ihn zuerst halten müssen. Schließlich glaubte ich der Erzählerin, Smilla erzählt, jedes Wort. Sie hätte mir alles Mögliche erzählen können, ich hätte weitergelesen. Denn wo findet man in einem Krimi Sätze wie: „Solange man jung ist, glaubt man, der Sex sei der Gipfel der Vertrautheit. Später entdeckt man, dass das gerade mal ein Anfang ist.“ Oder: „Jeder träumt davon, den Schlüssel zu sich und seiner Zukunft zu finden.“ Oder schließlich: „Wir leben alle ein Leben in blindem Zutrauen zu denen, die die Entscheidungen treffen. Wir vertrauen der Wissenschaft. Weil die Welt unüberschaubar, alle Information unsichtbar ist. Wir akzeptieren die Existenz von Atomkernen, die wie Tropfen zusammengehalten werden, von einem sich krümmenden Raum, von der Notwendigkeit des Eingriffs in das genetische Material. Nicht weil wir wissen, dass das richtig ist, sondern weil wir denen, die es uns erzählt haben, glauben. Wir sind allesamt Proselyten der Wissenschaft. Doch im Gegensatz zu den Anhängern anderer Religionen lässt sich der Abstand zwischen uns und den Priester nicht mehr überbrücken.“ Das Zitieren ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Ich habe mich festgelesen, war schon ein wenig süchtig geworden, wollte immer mehr von Smilla erfahren. Das Ende ist nicht mehr überraschend. Es wird nicht alles aufgelöst, Denn (noch ein Zitat): „Nur was man nicht versteht, kann man abschließen.“ Fräulein Smillas Gespür für Schnee ist ein Buch mit vielen verschiedenen Facetten, es ist viel mehr als ein Krimi. Sein Autor Peter Hoeg hat einen wundervollen Roman geschrieben. Hermes Sten Nadolny hat vor einigen Jahren einen Roman mit dem Titel „Ein Gott der Frechheit“ geschrieben und den habe ich nun gelesen. Streckenweise war es ein richtiges Lesevergnügen, teilweise eine leichte Qual. Die Idee ist frappierend und vergnüglich zugleich. Hermes war zweitausend Jahre angekettet, kommt frei und will die Welt von Hephäst retten. Zeus hat die Lust verloren und spielt in den USA in St. Athens lieber Golf. Es geht so weiter. Es ist schön, zu lesen, wie ein Gott, sich in die moderne Welt hineindenken muss. Nadolny hätte noch mehr daraus machen können. Seine zentrale Aussage: Wieder Gegenliebe in die Welt zu lassen, wieder mehr auf Hermes als auf Hephaistos zu setzen. Die Lektüre ist angenehm, aber es bleibt das Gefühl, dass sie insgesamt zu leicht ist. Keine ärgerliche Lektüre, nur herrlich überflüssig. Todesstrafe Ich bin krank und habe viel Zeit mit der Lektüre verbracht. Grisham hatte ich zum Geburtstag geschenkt bekommen und las „Die Kammer“ nun. Das Buch geißelt die Todesstrafe, es klagt den Staat an, der sie exekutiert. Der Fall ist eindeutig. Der Mann ist schuldig, durch sein Zutun sind zwei kleine Kinder grässlich bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen. Es gibt nichts zu beschönigen. Der Mann hat eine harte Bestrafung verdient. Grisham mixt den Cocktail mit noch mehr Zutaten. Der Anwalt, der die Rettung in letzter Minute versucht ist der Enkel des Mannes. Die Tochter ist Alkoholikerin. Der Sohn ist an den Taten des Mannes – er hat noch mehr auf dem Gewissen – zerbrochen. Der Enkel steht das durch, wird am Ende aus der Firma ausscheiden und sich zukünftig nur noch um Todeskandidaten kümmern. Viele Zutaten, alles gut geschüttelt, flüssig erzählt und dennoch zu viele Zutaten. Ich war dankbar, als die Geschichte sich dem sicheren Ende näherte. Kein happy-end. Schade, denn die Todesstrafe ist barbarisch; gut, denn so kann man sich neuer Lektüre zuwenden. Davon später mehr! Midlife-Crisis und andere Informationen Martin Amis hat einen neuen Roman vorgestellt, er heißt „Information“. Der Titel verwirrt und ist wohl auch eher unglücklich gewählt. Vielleicht ging es ihm wie seinem Helden, der einen Roman „Ohne Titel“ vorlegt, weil ihm partout keiner einfallen will. Dieser wird allerdings nicht gelesen, im Gegensatz zu den Schriften des besten Freundes, der gerade einen Bestseller veröffentlicht hat und nun ein zweites Buch mit großer Werbung auf dem Büchermarkt platzieren wird. Das weckt Neidgefühle und man will es seinem Konkurrenten zeigen. Es wird versucht, dem anderen Fallstricke zu ziehen, aber es geht immer schief. Immer fällt derjenige in die Grube, der sie auch ausgehoben hat. Die Männer befinden sich in der Menopause, sie haben Sinnkrisen. Sie haben Zweifel, sie würden gern ausbrechen aus den Problemen, aber man kann aus seinem Leben nicht einfach aussteigen. Es kommt zum Showdown, am Ende wird es weitergehen für unseren Helden, der aber nun nicht mehr schreiben wird, der desillusioniert ist und neu anfangen muss. Der Roman ist teilweise nicht leicht zu lesen, weil er verschiedene Erzählebenen enthält, von einer zur anderen Ebene springt und zuweilen die Konzentration überfordert wird. Doch dann erzählt er wieder in wunderbarem Stil und Tempo, so dass man nicht aufhört und mit dem Helden durchaus mitleidet. Campus Ein Hochschullehrer aus Hamburg schreibt einen Roman, der an der Hamburger Universität spielt, der vordergründig eine Vergewaltigung einer Studentin durch einen Hochschullehrer zum Thema hat. Die Vergewaltigung ist keine, aber daraus lässt sich trefflich Hochschulpolitik machen und deren Mechanismen werden aufgezeigt. Ein Buch, das keine hohen Anforderungen stellt, das unterhält und das auf einem annehmbaren Niveau tut und sich auf die angenehmste Art lesen ließ. Der Roman heißt „Der Campus“ Dietrich Schwanitz hat ihn geschrieben, es war schön, ihn gelesen zu haben. Schnee auf Zedern Der Roman von David Guterson passt in die Saison, draußen ist es kalt, es schneit und durch den fallenden Schnee wird die Welt leiser. Gutersons Roman ist ein Gerichtsroman, ein Kriminalroman, eine Liebesgeschichte und eine Auseinandersetzung mit Amerikas Vergangenheit. Er ist darüber hinaus auch der Hinweis auf eine latente Fremdenfeindlichkeit und der Versuch, mit Kriegsgeschehen fertig zu werden. Aber der Reihe nach: Ein Amerikaner japanischer Herkunft steht vor Gericht. Er ist Lachsfischer, lebt auf einer kleinen Insel und soll einen Kollegen in einer Nebelnacht an Bord von dessen Boot vorsätzlich ermordet haben. Der zweite Weltkrieg liegt erst knapp zehn Jahre zurück und Japaner sind noch immer die Feinde der Amerikaner, sie sind „Japse“ und ihnen kann man solche Morde zutrauen. Ein Journalist, aus dem Krieg zurückgekehrt als Invalide, verfolgt den Prozess. Er kennt des Angeklagten Ehefrau. Er liebt sie, obwohl sie ihm zu Beginn des Krieges klar geschrieben hatte, dass sie ihn nicht liebe und man sich trennen müsse. Die ganze Geschichte der Jugend dieser Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, der plötzliche Hass der Inselbewohner nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, alles wird in diesen Gerichtstagen wieder lebendig. Der Streit um Land, die bestehenden Vorurteile und das Ringen des Journalisten mit sich selbst, nachdem er die Wahrheit erkannt hat und den Mann seiner Geliebten retten müsste. Der Schnee fällt, alles wird stiller und umso besser hört man innere Stimmen. Ein Roman ist geschrieben worden, der einen nicht loslässt. Man liest weiter und weiter. Nicht, dass er so spannend wäre, nicht, dass er tiefe Wahrheiten verkündete, die man einfach in sich aufsaugen muss. Nein, es ist einfach ein Zauber, der von diesem Buch ausgeht, dieser Zauber nimmt einen gefangen und lässt erst los, wenn man den letzten Satz des Romans gelesen hat. Ich bin auf das nächste Werk dieses Autors sehr gespannt. Die letzte Instanz Von William Gaddis, ich gebe es zu, hatte ich noch nichts gehört und natürlich auch noch nichts gelesen. Der Mann hat jetzt in der deutschen Übersetzung einen Roman mit dem Titel „Die letzte Instanz“ vorgelegt. Der Roman hat über 700 Seiten und ist fast ausschließlich in Dialogform geschrieben. Allerdings weiß man nicht, wer gerade spricht, man liest sich ein und nach wenigen Seiten weiß man es und kann an den Gesprächen als Zuhörer teilhaben. Der Roman hat ein Thema: Die Prozesslast oder -lust der Amerikaner. Der Hauptfigur Oscar Crease wird von seinem eigenen Auto überfahren, als er es zu starten versucht. Er verklagt, da er ja weder den Fahrer (es gab ja keinen) noch den Halter (ist er selbst) verklagen kann, die Automobilfirma. Er ist Schriftsteller oder zumindest hat er ein Drama verfasst, das nie aufgeführt, nicht mal von einem Verlag akzeptiert worden wäre. Er hat es einem Produzenten vor Jahren geschickt, der es ebenfalls ablehnte. Nun erkennt er sein Werk in einem Film wieder. Allerdings hat er den Film selbst nicht gesehen, sondern lediglich die Berichterstattung über den Film verfolgt. Er klagt. Sein Vater ist Richter, steinalt und muss sich mit Fällen wie dem des kleinen Hundes Spot herumschlagen, der sich in eine Plastik so verkantet hat, dass er nicht befreit werden kann, ohne der Plastik ans Eisen zu gehen. Das verhindert der Künstler, so zieht der Prozess landesweite Aufmerksamkeit auf sich. Schließlich schlägt der Blitz ein und ruft Spot ins Hundeparadies ab. Doch man kann weiter klagen, der Hundebesitzer gegen die Gemeinde, die Gemeinde gegen den Künstler und so weiter und so fort. Oscars Schwester ist mit einem Anwalt verheiratet, der einen Millionenprozess führt. Pepsi-Cola ist von der Episcopal-Church verklagt worden. Schließlich stecken alle Buchstaben der Getränkefirma in dem Kirchennamen. Oscars Freundin kämpft vor Gericht um ihre Scheidung und gegen Anwälte, denen sie ihr Vertrauen entzogen hat, die aber erst bezahlt werden wollen, bevor sie die Unterlagen an den nächsten Anwalt weiterreichen werden (der ist auch nicht besser!). Sie klagt gegen einen Kirchenmann, der ihre Eltern überredet hat, alles irdische Vermögen der Kirche zu vermachen, damit man im Jenseits sich mit dem bei einem Unfall ums Leben gekommenen Sohn wiedersehen könne. Es gibt noch mehr Personen in diesem prozesswütigen Szenario, die alle selbstverständlich auch ein oder mehrere Verfahren gerade in verschiedenen Stadien beobachten und begleiten. Natürlich geht es ums Geld, natürlich geht es immer darum. Denn der erste Satz dieses Romans sagt bereits alles: Gerechtigkeit gibt’s im Jenseits, hier auf Erden gibt’s das Recht. Wie es alles zusammenhängt, wie es alles ausgeht (ein komisches Ende übrigens, aber irgendwie muss der Roman ja enden, denn eigentlich ist es eine „never ending story“), das kann nicht verraten werden, man muss es selbst lesen oder es lassen. Fiktionen und Obsessionen Beendet habe ich heute den Roman des Iren John Banville „Athena“. Eine Geschichte der Fiktionen und der Obsessionen. Nichts ist wahr, alles ist Schein. Es könnte so sein oder aber auch nicht. Mr. M. – wie ich inzwischen zu wissen glaube, ist der Held schon in einem vorangegangenen Banville-Roman aufgetreten, es ist somit Athena die Fortsetzung des Buches der Beweise – ist Kunstsachverständiger, aber nicht wirklich. Er soll Bilder einer Sammlung begutachten, feststellen, ob sie echt oder kopiert (man könnte auch böser formuliert gefälscht sagen) sind. Er hat eine Tante, die seine Tante nicht ist. Er hat einige Zeit im Gefängnis verbracht, verliebt sich in eine Frau, die er A. nennt und der er schreibt. Ihr schreibt er diesen Roman. Sie hat ihn nämlich verlassen müssen und einen Zettel zurückgelassen: Schreib mir! Er spürt ihrer beider Geschichte nach, ihren Obsessionen, ihren Leidenschaften, der zu nichts führenden Beziehung. Am Ende steht Mr. M. ohne A. und ohne Bilder, die alle bis auf eines („Die Geburt der Athena“) falsch waren (vielleicht?), dar mit einer Erbschaft der verstorbenen Tante und einem Buch. Schreib mir, hat sie ihm auf dem Zettel aufgetragen, er hat geschrieben. Das Buch ist von hoher sprachlicher Klarheit; die Bilder, die es beschreibt, sind von großer Präzision, alle sind erfunden und doch könnte es sie geben. Die Sprache ist bildhaft, immer wieder um Metaphern bemüht. Doch leicht zu lesen, ist es nicht. Da steht die Neigung des Autors vor, ständig den Text zu brechen, Selbstreflexionen einzufügen und so einen gerade erzeugten Lesefluss wieder zu stocken. Warum aber sollte ein Buch auch leicht sein, schön muss es sein und das ist es! Effi Fontanes Effi Briest oder Fontane und ich: das ist ein zu weites Feld. Nach der Lektüre nun wirklich schon einiger seiner Romane, kann ich immer noch nicht sagen, ob mir das, was ich vorgesetzt bekomme, gefällt oder nicht. Einerseits ist es brillant, wie Fontane gewisse Dinge in seinen Erzählungen nur zart andeutet, sie nicht ausformuliert, fast darüber hinweggeht und sich diese dann dennoch von entscheidender Bedeutung für den weiteren Gang der Handlung herausstellen. Effi, die noch viel zu junge und mädchenhafte Erscheinung wird in die Ehe mit einem ehemaligen Verehrer ihrer Mutter gezwungen. Sie wehrt sich nicht, also trifft Zwang nicht zu; gleichwohl kann sie gar nicht anders, als Instetten zu heiraten. Liebe gibt es nicht, was zählt ist Karriere und Fortkommen. Crampas, der ihr Geliebter wird, ist auch nicht ihre Liebe, es ist mehr der Wunsch, aus dem Käfig auszubrechen, den sie um sich errichtet fühlt, der sie gefangen hält, der sie nicht mehr freigeben wird. Sie wird erst durch ihren Tod letztendlich befreit. Ein Sittenbild der Zeit zum Ende der Bismarck-Ära. Es enthält viel Information über das damalige gesellschaftliche Leben des Adels, über das Reisen per Bahn, über den Landadel und das Wohnen in Berlin und auf dem Lande. Alles schön und gut, alles trefflich erzählt, aber und nun folgt das andererseits, es rührt mich nicht, es nimmt mich nicht gefangen. So war es bisher immer bei den Romanen Fontanes. Ich bleibe ungerührt, es springt kein Funke zu mir über. Mein Verhältnis zu Theodor Fontane bleibt ambivalent, aber das ist ein zu weites Feld. Drei Bücher Manche Bücher schreien danach, besprochen zu werden. Andere wiederum hab ich schon vergessen, kaum ist der letzte Satz gelesen worden. Ein wenig ging es mir so mit den letzten Büchern, die ich gelesen habe. Zugegeben waren sie sehr unterschiedlich, was Sujet und sogar ihre Gattung betraf. Aber allen ist gemeinsam, dass sie sicherlich nicht zu den Lektüren zählen werden, die ich noch in vielen Jahren ständig präsent haben werde, die ich zitieren werde, als gelte es Sätze der Bibel, Weisheiten des Konfuzius oder Shakespeares Sonette zu memorieren. Erstens las ich die Biographie über den Fürsten Pückler („Der grüne Fürst“) von Heinz Ohff; dann den „Ritterroman“ „Der letzte Askanier“ von Horst Bosetzky und drittens die Hommage an Pablo Neruda „Mit brennender Geduld“ von Antonio Skármeta. I. Mit diesem letzten Werk, einem dünnen Roman, möchte ich beginnen. Schon immer habe ich etwas dagegen gehabt, Romane zu lesen, nachdem ich deren Verfilmungen bereits gesehen hatte. In diesem Falle einen ansprechenden Film „Il Postino“. Nun erst die Vorlage. Eine leichte Lektüre, mit schönen Metaphern, um die sich der Autor, Neruda nacheifernd, ständig bemüht. Die Personen sind liebevoll skizziert und die Geschichte ist eingebettet in den faschistischen Putsch in Chile, der dem Geschehen ein blutiges Ende setzt. Nun, nachdem ich das Buch gelesen habe, habe ich Probleme die Filmfiguren noch ernst zu nehmen. Sie sind falsch besetzt, zu alt und Neruda zu jung. Der Tiefgang und die Nähe zur chilenischen Geschichte sind nicht annähernd angestrebt und auch nicht erreicht worden. Das Buch, leicht erzählt, die Geschichte läuft ab, wie ein frischer Wind an der Küste von Isla Negra vorbeistreicht. Das Buch gewinnt, die Geschichte bleibt. Eine Hommage nicht nur an den großen chilenischen Dichter, sondern auch an die Liebe! II. Was soll ich zu dem Buch von Bosetzky sagen? Der Mann hat unter dem Pseudonym -ky Krimis geschrieben, die ich gern las, die spannend waren und eine Portion Zeitkritik enthielten. Nun hat er sich einem Thema aus der brandenburgischen Geschichte zugewandt, wo im vierzehnten Jahrhundert ein falscher Waldemar, der Anspruch auf die Mark erhebt und behauptet, der rechtmäßige Herr des Landes zu sein, im Alter auftauchte und es zu Auseinandersetzungen im Lande kam. Der Roman ist als allerdings verkorkstes Geschichtsbuch angelegt, als schwache Kriminalgeschichte angemalt, in der Hoffnung in die Fußstapfen Ecos treten zu können und als der Autor merkte er müsse irgendwie zum Schluss kommen, mit einem kleinen netten Dreh ausgestattet. Ich hätte es eigentlich in die Ecke stellen müssen, es mit Nichtachtung und nicht zu Ende lesen strafen. Ich habe mich durchgebissen und kann nur warnen. Nein, weg damit und kein weiterer Gedanke daran verschwendet. III. Die Biographie über Pücklers Leben ist doch von ganz anderer Art und Qualität. Erstens ist es spannend, mehr über das Leben dieses wirklich beachtenswerten Menschen zu erfahren, der doch höchstens durch das Eis (der Ärmste) und, wenn es hochkommt, für die Landschaftsgärten bekannt und bis heute berühmt geblieben ist. Dabei war der Mann doch viel mehr. Vor allem ein Lebenskünstler, ein Liebhaber vieler Frauen, schade, dass Ohff hier allzu zurückhaltend erzählt, zu zurückhaltend recherchiert zu haben scheint. Faszinierend über die Reisen des Mannes zur damaligen Zeit nachzudenken. Was ist das heute schon, nach Italien oder Paris zu reisen. Was war es damals. Es konnte das Leben kosten, es konnte problematisch sein in so vielerlei Hinsicht. Und wenn man schon über das Reisen nachdenkt, dann doch auch über die Art und Weise, Eindrücke aufzunehmen. Heute und damals. Man fotografiert heute, man blickt durch die Linse und hat etwas für den Rest des Lebens „aufgenommen“. Damals nahm man sich Zeit, beobachtete mit Bleistift und Papier, in Form von Skizzen und Notizen. Man las zu Hause von denjenigen, die unterwegs waren. Heute sieht man fern, ach ja, da war ich vor Jahren auch schon mal. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Verwandten, vor Jahren, deren Kinder, Halbwüchsige damals, saßen dabei. Wir erzählten von unserem Paris-Aufenthalt und einer der Kinder seufzte und bemerkte, man müsse auch mal wieder nach Paris. Das ist unsere Zeit, sie ist anders, nicht besser. Pückler hat viele Jahre auf Reisen verbracht, hat mit seinen Gärten etwas geschaffen, das ihn überdauert hat und an dem man sich heute noch freuen kann. Wenn das die Bilanz eines Lebens ist, ist es eine sehr positive. Der englische Patient von Michael Ondaatje Eigentlich habe ich etwas dagegen, eine Literaturverfilmung zu sehen, bevor ich deren literarische Grundlage kennengelernt habe. Ich habe allerdings schon einige Male eine Ausnahme gemacht. Zuletzt bei der Verfilmung des „Englischen Patienten“ bin ich von meinem Prinzip abgewichen. Jetzt habe ich die Lektüre nachgeholt. Während im Film die Geschichte des Patienten und seiner Geliebten im Mittelpunkt steht, hat das Buch Hana in seinem Zentrum. Ihr kurzes durch den Krieg geprägtes Leben, ihre Beziehung zu ihrem väterlichen Freund Caravaggio und ihre Geschichte der zärtlichen Beziehung zu Kip, dem indischen Feuerwerker. Es ist vor allem eine Kriegsgeschichte, der Krieg ist gegenwärtig, obwohl er bereits zu Ende gegangen ist in Europa. Es ist die Geschichte des Bombenabwurfs über Hiroshima, die Unsinnigkeit des Krieges wird deutlich, ein Inder, der für England sein Leben riskierte, entdeckt seine asiatische Herkunft und ist im Kern getroffen über den Abwurf, den damit verbundenen viel tausendfachen Tod. Der Stil dieses Romans ist nur schwer zu beschreiben. Bilder werden skizziert, beinahe schon Filmszenen. Gefühle werden verdeutlicht, Szenen bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Obwohl ich den Film gesehen hatte, war er mir nie wichtig. Immer setzte sich der Roman durch, weil er in einer kraftvollen bilderreichen Sprache sich entwickelt. Ein Kunstwerk, ein großes Stück Literatur, ein Kunstwerk. Da müsste doch jemand auf die Idee kommen und das Buch verfilmen! Lichtenbergs Fall von Georg M. Oswald Ein schmales Bändchen erzählt die Geschichte von Carl Lichtenberg, der erst neunzehnjährig die Tochter einer sehr reichen und sehr dominanten Frau heiratet, ein Jurastudium mit Glanz und Gloria gestaltet, einen sehr gut bezahlten Job erhält, trotzdem in große finanzielle Schwierigkeiten gerät, verhaftet und des Mordes an seiner Schwiegermutter beschuldigt wird. Das Buch schildert das Verhör Lichtenbergs, der sein Leben schildert, der einen Seelen-Striptease vollführt und der immer wieder beteuert, seine Schwiegermutter nicht getötet zu haben. Ich glaube ihm nicht, ich halte ihn für schuldig, aber ich werde es nicht beweisen können, weil das Buch schon zu Ende war. Schade. Ein kunstvoller, fast ausschließlich sich der indirekten Rede bedienender Roman. Er macht Appetit auf mehr, mehr Stoff dieses Autors, namens Georg M. Oswald. „Frau Beate und ihr Sohn“ von Arthur Schnitzler Eine Novelle schildert eine unerhörte Begebenheit in einer geschlossenen Form, einem unerwarteten Höhepunkt folgt die Umkehr der Ereignisse. So oder so ähnlich habe ich die Novelle kennengelernt. So ist ihr Schnitzler gefolgt. Frau Beate will ihren erwachsen werdenden Sohn nicht verlieren, erlebt in den armen eines Freundes ihres Sohnes selbst die Liebe nach vielen Jahren der Enthaltsamkeit und beide, Mutter und Sohn, ertrinken während einer nächtlichen Bootsfahrt. Der Sohn ist entsetzt, da er von der Liebelei seiner Mutter erfahren hat. Sie ist entsetzt, da sie stumme Zeugin einer Unterhaltung wird, die ihr klarmacht, dass ihr Sohn kein Kind mehr ist. Völlig unglaubwürdig in unserer heutigen Zeit, doch dennoch so angenehm lesbar, da es uns in eine selige Zeit des KuK-Zeitalters zurückführt und wir sind mit Frau Beate in der Sommerfrische, die Berge nah und das Wetter so leicht und angenehm. So liest man diese Novelle gleichsam, als ob man nicht Luft holen würde zwischendrin. Das Treibhaus von Wolfgang Koeppen Als Wolfgang Koeppen vor einiger Zeit gestorben war, konnte man in den Nachrufen insbesondere Lobreden auf seinen Roman „Das Treibhaus“ finden. Das Buch, das die politische Szene Bonns am besten beschriebe. Dies war der Grund für mich, nach diesem Roman zu greifen und ihn zu lesen. Ich war enttäuscht. Der leicht expressionistische Stil war nicht der Grund meiner Enttäuschung. Es war vielmehr das Thema an sich, die „Story“ ist schlecht entwickelt. Der Abgeordnete Keetenheuve bleibt papieren, es wird nicht einsichtig, warum er am Schluss der Wiederbewaffnungsdebatte Selbstmord begeht. Alles bleibt nur in Andeutungen stecken, es könnte sich zu einer richtigen Handlung weiten, aber es bleibt im Ansatz. So habe ich mich durch den erfreulicherweise recht kurzen Roman teilweise gerade zu gequält. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich das Buch weggelegt, ohne es zu beenden. Bin ich ungerecht mit meinem Urteil? Verstehe ich zu wenig von Literatur? Ich weiß es nicht, ich weiß nur sicher, dass mich dieser Roman keine Zeile wirklich gefesselt hat, ein Zeitbild ist mir auch nur sehr unscharf erschienen. Es hätte die Begegnung mit einem unbekannten Dichter, der Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung sein können. Es war nichts von alledem. Ich decke schnell den Mantel des Vergessens über die Lektüre und freue mich auf ein anderes Werk. Stendhal Die Kartause von Parma ist ein Schelmenroman, ein im Plauderton erzähltes Sittengemälde einer früheren Zeit. Vor allem handelt er von der Liebe. Fabrizio, der Held des Romans, glaubt fest daran, nicht lieben zu können. Er ist, so seine Überzeugung, zur Liebe unfähig. Dies ändert sich erst als er Clelia begegnet, die, ihm wesensverwandt, an die große, alles erfüllende Liebe, nicht glaubte. Nun sind die Umstände, er Gefangener, sie Tochter des Gefängnisdirektors, äußerst widrig. Man wird sich nie „bekommen“, obgleich man sich fand und auch eine lange glückliche Liaison eingeht. Die Ränkespiele des kleinen absolutistischen Hofes von Parma werden dem staunenden Leser ausgebreitet und ich war oft versucht, über einzelne Episoden hinweg zu blättern, aber irgendwie fesselte mich der Stil immer wieder. Es ist eine große Botschaft, die uns übermittelt wird: Es gibt die Liebe, sie siegt, auch wenn die Menschen darüber hinwegsterben. Sie ist und bleibt damit neben der Zeit die einzige Konstante, die alles regiert. Auf dem Rücken des Romans findet sich ein Satz von Balzac, dass Stendhals Roman ein großes, schönes Buch sei. Dem ist nichts hinzuzufügen. Niederländische Literatur Heute vor nunmehr 53 Jahren wurden in Berlin die Offiziere des Widerstandes gegen Hitler hingerichtet. Just an diesem Tage habe ich den Roman von Maarten’t Hart „Das Wüten der ganzen Welt“ beendet. Eine Geschichte, die ihren Ausgang während des zweiten Weltkriegs nimmt. Wo einige Juden mit Hilfe eines holländischen Kutters nach England fliehen wollen. Der Kutter wird von einem deutschen Unterseeboot aufgebracht und zerstört; die Menschen müssen nach Holland zurückkehren, ihren unterschiedlichen Schicksalen entgegen. Fast alle überleben die Nazizeit. Nur die Frau eines Musikers wird gegen Ende des Krieges gefangengenommen und stirbt. Das Buch, ein Drehbuch für das persönliche, individuelle Kino des geistigen Auges, macht einen Schnitt und erzählt die Geschichte des Ich-Erzählers, der als Sohn eines Lumpensammlers mit großer Begeisterung für Musik aufwächst, der im Laufe der Geschichte alle Menschen, die auf dem Kutter waren, soweit sie noch leben, kennenlernt und Zeuge eines Mordes wird. Dieser Mord muss etwas mit der gescheiterten Flucht auf dem Kutter zu tun haben. Aber was? Wir lösen das Rätsel während des Lesens, wobei auch Nebensätze, scheinbar so eingestreut, wichtig sein können. Mich hat das Buch nicht losgelassen. Es gehört zu den wenigen Büchern, die ich gern in einem Zuge verschlungen hätte. Es umfasst dich, zieht dich in die Geschichte und lässt dich nicht los. Der Roman ist mehr als eine Art der Aufarbeitung der holländischen Vergangenheit, mehr als ein Krimi; es ist ein Buch über Musik und über den Sinn des Lebens. Es ist ein Roman von so großartiger Fülle und einfühlsamer Ironie, von gescheiten Sätzen und feinem Humor, dass es ein großes Geschenk darstellt, ihn gelesen zu haben Noch eine Ferienlektüre Fast noch eine Ferienlektüre, aber erst beendet, als das Berufsleben schon wieder pulsierte. Die Rede ist von „Hannas Töchter“, der schwedischen Autorin Marianne Frederiksson. Ich war skeptisch an das Buch herangegangen. Zum einen ist es seit Wochen auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste und zum anderen wurde in einer Rezension des Tagesspiegels der Eindruck erweckt, dass es sich bei dem Roman um einen feministischen handele; alle Männer kämen in dem Buch schlecht weg. Also hielt ich das Buch mit spitzen Fingern, zumindest während der Lektüre der ersten Seiten. Dann allerdings zeigt sich, dass der Roman seinen Leser einbeziehen kann in die Handlung und plötzlich stellte ich fest, dass ich das Buch ganz festhielt, weil es mich ja schließlich auch umschlossen hatte. Eine Autorin – Anna-, vielleicht Frau Frederiksson selbst, sucht in ihrer Vergangenheit. Sie sucht die Erklärungen für ihren eigenen Werdegang. Sie interessiert sich für das Leben ihrer Großmutter Hanna und ihrer Mutter Johanna. Dabei ist ein spannendes, ein Jahrhundert umspannendes Buch herausgekommen. Die Chronik einer schwedischen Familie. Die Schicksale, die Einflüsse der jeweiligen Zeit, die Denkströmungen werden deutlich. Teilweise in distanzierter Form, teilweise in Form einer Ich-Erzählung werden Ereignisse auch aus unterschiedlicher Perspektive wiederholt. Das ist aber nicht langweilig, sondern erhöht das Lesevergnügen nur noch. Und was die Männer angeht, so kommen sie keineswegs schlecht weg. Sie sind realistisch gezeichnet, so sind sie nun mal. Oder zumindest so konnten sie gewesen sein. Dass dieser Roman die Bestsellerliste anführt, überrascht dann auch überhaupt nicht, sondern freut den Rezensenten. Schließlich liest hier doch eine breitere Schicht einmal ein lesenswertes Buch. Immer unterhaltsam, immer irgendwie spannend und nie schnulzig oder kitschig. Es gibt so viele, so schöne Bücher, man sollte nur die Zeit haben, sie alle lesen zu können. Schweinerei Im Französischen ist la trui die Sau, das Mutterschwein; le truisme ist die Binsenwahrheit. Truisme ist der Originaltitel des Romans der Französin Marie Darrieussecq, der in der deutschen Übersetzung „Schweinerei“ heißt. Der Inhalt dieses Romans ist eine einzige Schweinerei. Die Ich-Erzählerin mutiert langsam zum Schwein. Es wird von ihr, dem einfachen, dummen Mädchen, die in einer Parfümerie Arbeit findet, so jede Sauerei verlangt, die perverse Kunden wohl von den Damen des horizontalen Gewerbes fordern. Sie erfüllt alles, hat Spaß daran und verändert sich langsam, aber unaufhaltsam. Schließlich findet sie, nach einem Krieg, ihren Geliebten, einen Werwolf. Sie treibt ihm immer zum Vollmond, wenn er sich in einen Wolf verwandelt, Boten von Pizzalieferanten zu. Sie isst die Pizza, sie kann sich nämlich mit einiger Willensanstrengung in ein menschliches Wesen zurück verwandeln. Allerdings sagen dann alle Menschen nur, dass ihr Liebhaber sich mit einem dicken Schwein eingelassen habe. Was sonst noch passiert, will ich nicht aufschreiben. Es lohnt der Mühe nicht. Ach ja. Das Beste an dem Buch, es hat nur 150 Seiten und es ist aus, bevor man sich zu ärgern anfängt. Schinkel Es war Zeit, dass ich mehr über das Werk und das Leben des Architekten Karl Friedrich Schinkel wissen wollte. Schließlich ging ich auf die Schinkel-Schule, schließlich joggte ich jahrelang durch den Schlosspark Charlottenburg mit dem Schinkel-Pavillon, schließlich bin ich in der von Schinkel umgebauten Luisen-Kirche getauft und eingesegnet worden. Also wurde es Zeit und war doch nicht von langer Hand geplant, sondern einfach spontan griff ich zu, als ich in meinem Buchladen die Schinkel-Biographie von Heinz Ohff entdeckte. Ohff setzt seine Porträts preußischer Köpfe fort, er hatte mit Luise und Pückler begonnen und sich dann Fontane zugewandt. Nun also Schinkel. Es ist beeindruckend, das Leben dieses Künstlers, der offensichtlich ein Arbeitstier war, aufgeblättert zu bekommen. Ein Leben voller Arbeit, die sichtbare Zeugnisse erbrachte und deshalb, glaube ich, unendlich befriedigend gewesen sein muss. Jeder Mensch stellt sich meines Erachtens irgendwann und irgendwie die Frage nach dem, was bleibt, nach seinen eigenen Spuren und hier kann sich Schinkel sehr beruhigt und entspannt zurücklehnen und auf ein großes Werk verweisen. Schinkel hat versucht, einem Land ein Gesicht zu geben, eine unverwechselbare Identität. Das bleibt! Das zählt! Bonn Bonn als Schauplatz eines Agententhrillers. Bonn das Treibhaus aus englischer Sicht des John le Carré. Eine Geschichte, die sich nicht entwickelt, der „Held“ – Allan Turner – bleibt merkwürdig farblos. Die Geschichte erreicht nie eine gewisse Temperatur, wo es zu knistern beginnt und wo man sich vor Spannung in die Hose pissen müsste. Nichts davon. Alles bleibt sehr konstruiert und der Rahmen der Handlung, Notstandsgesetz-Diskussionen, Studentenunruhen und Vergangenheitsbewältigung, gibt auch nichts her, was die Story nun richtig zum Bersten brächte. Nicht mal ein bisschen Sex macht das trockene Buch erträglicher und so war ich denn froh, die vierhundert Seiten endlich gelesen zu haben. Der Roman heißt übrigens „Eine kleine Stadt in Deutschland“. Lesen nicht empfohlen. Meine Zeit mit Anna Was sind schon viele der von mir in den letzten Jahren gelesenen Romane im Vergleich mit diesem Buch? Es ist die Geschichte einer Familie Russlands. Sie wird meisterlich vor dem Leser ausgebreitet, in zwei Hauptstränge gegliedert und immer wieder von dem einem zum anderen Handlungsstrang hin- und hergeschaltet. Kein Detail bleibt unerwähnt und doch wird nicht geschwafelt. Die Schilderungen sind präzise und immer genau angepasst, an den gerade beschriebenen Moment. Alle Höhen und Tiefen des Lebens durchmisst das Buch. Liebe, immer wieder sie. Tod, alles endet damit, es ist schneller das Ende erreicht, als Du, Leser, denkst. Vielleicht auch ich, der Autor. Geburt, neues Leben, Beginn. Und immer wieder der Sinn nach allem. Warum tun wir, was wir tun? Warum? Und Gott thront über allem. Der Roman hat beinahe 1300 Seiten, sie lesen sich so leicht, so federleicht. Ich tauche in die Ereignisse ein, die in dem schrecklichen Selbstmord der Heldin einen fürchterlichen Höhepunkt erleben. Ihr Geliebter wird in den Krieg ziehen und garantiert nicht lebend zurückkehren. Die anderen leben weiter, eines Tages wird die große Revolution den Umschwung bringen und heute steht Russland immer noch vor Problemen, die Leo Tolstoi 1878 beschrieben hat. Anna Karenina wollte nur die Liebe, aber jede Liebe flaut ab, nichts kann immer auf seiner Siedetemperatur gehalten werden. Nichts hat der Roman von seiner Aktualität verloren, auch heute, auch hier können Menschen, Frauen zumal, die ihrem Partner „untreu“ geworden sind nicht auf Schonung rechnen. Sie werden ausgegrenzt, sie müssen sich auf dieses Leben am Rande einrichten. Es wird schwer. Für Anna war es unerträglich. Lewin, vielleicht das Alter Ego des Autors, fragt nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn seines Lebens. Er steht damit für mich und für viele andere Lesende da, er findet ihn darin, das Gute, in das Leben hineinzulegen. Ich frage mich, ob das schon alles sein kann. Lewin wird es sich auch fragen, er wird weitersuchen, weiterarbeiten, versuchen, die einfachen Leute zu bessern und verzweifeln. Seine Liebe zu Kitty, der reizenden Person, wird sich abkühlen, aber nie ganz erlöschen. Wir grübeln weiter über den Sinn nach. Vielleicht hatte Tolstoi ihn gefunden, als er im Alter von 78 Jahren in eine Einsiedelei sich zurückziehen wollte. Er starb auf einer Bahnstation. Schon ein wenig ironisch, wo Wronski Anna auf dem Bahnhof kennenlernt, wo Anna sich vor einen Güterzug wirft. Wo wir ahnen, wie wichtig die Bahn für Russland ist. Ich konnte diesen Roman auch wunderbar im Zug lesen, er ließ mich immer hinein, ich konnte aus der Wirklichkeit mich ausblenden und war mit Stepan im Klub, mit Wronski beim Pferderennen oder mit Anna im Theater. Ich hätte gern Dolly getröstet. Ich half bei der Geburt von Kittys erstem Kind, und bewunderte sie, wie sie Lewins Bruder bei seinem Sterbekampf begleitete. Ein russischer Bilderbogen, eine Entdeckung für mich und die Gewissheit, dass Leo Tolstoi ein erzählerisches Genie war. Tolstoi, einer der Olympier! Eine bittersüße, klebrige Zähigkeit Endlich hatte ich mir Márquez vorgenommen. Das muss man gelesen haben, dieser Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ gehört zu denjenigen Werken der modernen Klassik, die ein Bildungsbürger zu seiner Lektüre zu rechnen hat! Dies hatte ich immer wieder gelesen und gehört, also half nur die Lektüre. Dabei hatte ich das Buch ja schon häufig in die Hand genommen und schnell jedes Mal wieder beiseitegelegt. Ich kam nicht hinein, ich fand den Einlass nicht. Jetzt zwang ich mich und tauchte auch bald ein in die Welt der Mythen und fand mich schnell verzaubert von der Erzählkunst des Gabriel Garcia Márquez. Dieses Vorwärtsdrängen! In einen Satz ganze Geschichten verpacken und von Hölzchen zu Stöckchen gelangen, dabei Zeit und Raum verschmelzen und nicht mehr wissen, wo man sich nun genau befindet. Jetzt war mir klar, dass diese Geschichte keinen Eingang besitzt, nicht zugänglich ist, wie andere Erzählungen oder Romane. Nein dieses Buch saugt dich einfach auf, zieht dich wie ein nicht trockengelegter Sumpf irgendwo in Kolumbien oder Bolivien herunter. Ist der Lesende erst mal abgetaucht, dann tut sich die gesamte Romanwelt vor ihm auf. Es wird hell und klar, selbst wenn gerade die vieljährige Regenzeit beschrieben wird. Es geht einem so wie dem jungen Offizier, der nach einem Mitglied der Familie Buendia sucht und ihn in der Kammer, in der er sitzt, nicht sieht. Nur die Familienmitglieder können ihn sehen. Nur dem Leser breitet sich der Kosmos der Erzählung aus, die vielen Verästelungen, die immer wiederkehrenden Namen der „Helden“, nur an ihrer Nummerierung zu unterscheiden, dies alles enthüllt sich dem Leser und er verliert sich darin. Und dann überkam mich mitten in der Lektüre die große Müdigkeit, ich konnte nur noch kleine Portionen verdauen, der Roman wurde für mich immer zähflüssiger, immer schwerer verdaubar. Anfangs bewegte ich mich leicht durch die Wunderwelt, beinahe wie ein Kolibri im dichten Blütenmeer des südamerikanischen Urwalds. Jetzt aber erlahmen die Flügel, der von mir aufgesogene Nektar war nicht nur süß, sondern auch sehr klebrig, jetzt muss ich schauen, dass alles von mir wieder abfällt und ich die Müdigkeit wieder abzuschütteln in der Lage sein werde. Ich habe noch etwa fünfzig Seiten vor mir, ich werde durchhalten und wenn ich jemand gern in eine lange Einsamkeit schicken will, dann werde ich ihm die Lektüre des Romans „Hundert Jahre Zähigkeit“ empfehlen, nein Klebrigkeit oder wie war der Titel des Buches eigentlich? Die Krimis der Donna Leon Venedig ist eine so schöne Stadt, dass sie es schon längst verdient hat, einen eigenen Kriminalroman-Kommissar zu erhalten. Maigret in Paris, Guido Brunetti in Venedig. Nun hat diese Figur kein Italiener erfunden, sondern eine seit Jahren in Venedig lebende Amerikanerin, Donna Leon, beschreibt einen facettenreichen Mann mittleren Alters, der eine intelligente Frau an seiner Seite weiß, zwei pubertierende Kinder, eine pflegebedürftige, geistig verwirrte Mutter und sehr (einfluss)reiche Schwiegereltern und einen neurotischen, karrieregeilen Vorgesetzten. Der Kommissar ist kein James Bond, sondern bei ihm fühlt man das stärker schlagende Herz, wenn er einen Verbrecher direkt stellen soll. Er hat Schiss, wenn sich ein Gangster um ein Uhr morgens mit ihm an einsamen Stelle verabredet und er hat jede Menge Empfindungen, die wir alle auch haben, Hunger, Durst, Wut und Zärtlichkeit. So geht ein Mann durch diese Stadt, der uns ähnelt, mit dem wir uns sofort identifizieren können, der nicht schlauer ist als wir, der nicht mehr über den Mordfall weiß als wir und der beim Denken auch Fehler macht, genauso wie wir. Die Fälle sind eingebettet in Themen, die uns beschäftigen, Kindesschändung, Umweltzerstörung, Betrug im großen Stil. Alles ist mehrschichtig und fein ausgeklügelt, nichts wirkt konstruiert, die Figuren sind lebendig und gleichzeitig dienen sie als Vorlagen für noch zu schreibende Drehbücher, denn es ist nur eine Frage der Zeit, dass ein Produzent auf die Idee kommen wird, vielleicht schon längst gekommen ist, dass diese Bücher dringend verfilmt werden müssten. Noch etwas kommt hinzu und macht den besonderen Reiz und den Charme dieser Romane aus: Venedig. Diese wunderschöne und doch ebenso heruntergekommene Lagunenstadt wird lebendig. Du schmeckst die Luft, siehst die Obst- und Gemüsehändler an der Rialtobrücke, steigst in ein Vaporetto und fährst den Canal Grande hinauf und womöglich nach Murano weiter. Du gehst durch die engen Calli und drängst dich im nächsten Moment durch eine Touristenmenge auf irgendeinem Campo. Du schwitzt in der heißen Augustwoche und riechst das stinkende Venedig, du genießt die noch warmen Strahlen der Herbstsonne, während Du durch irgendeinen Canale zu Deinem nächsten Einsatzort gebracht wirst. Da ist eine unglaublich gute Melange gelungen. Da sind kleine Kunstwerke entstanden, die die Gattung Kriminalroman um eine neue Facette bereichern. Ein Buch wie ein Kontinent Ich fühle mich wie nach der Besteigung eines hohen Gipfels, wie nach der Durchwanderung eines weiten Landes: Erschöpft und doch glücklich. Glücklich nicht nur, an das Ziel gelangt zu sein, sondern auch über die vielfältigen Eindrücke, die ich auf der langen Wanderung in mich aufnehmen konnte und die ich nun nicht mehr vergessen werde. Ich habe Leo Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ gelesen. Es hat einige Monate gedauert, da ich mich ja nur in meiner Freizeit in den Roman vergraben konnte. Nie jedoch war es für mich eine Mühe, nie hatte ich das Bedürfnis, das Buch beiseitezulegen, wie es mir mit anderen Romanen schon oft ergangen ist. Manchmal langweilten mich die historischen Auseinandersetzungen Tolstois, sein Bemühen, den Marschall Kutusow in einem freundlicheren Lichte erscheinen zu lassen, ist mir nicht besonders wichtig, seine Bemühungen, den Umschwung in der militärischen Lage Russlands zu erklären, ist für mich nur interessant, weil deutsche Geschichtsbücher die Rolle Preußens herausstreichen. Das Land spielt hier nun gar keine Rolle, die Erläuterungen Tolstois sind schlüssig, nur wiederholt er seine Ansichten einige Male, als ob er glaubte, nur eine Wiederholung würde die Leserschaft schließlich von seinen Ansichten überzeugen können. Doch ist eine solche Kritik nicht schon kleinkariert? Tolstoi führt eine große Anzahl an Personen in sein Werk ein. Er führt die Beschreibung der einzelnen Personen unterschiedlich weit, unterschiedlich tief. So weiß man anfangs nicht, ob der Fürst Wassilij oder Anna Pawlowna entscheidende Figuren seines Romans sein werden. Sie werden es nicht sein; aber ihnen ist zunächst die ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Doch bald kommen die wahren Hauptfiguren ins Spiel. Fürst Andrej und Pierre und schließlich Natascha und Nikolai Rostow. Dann ist das Szenario ausgebreitet und es gilt nun zu erzählen. Da entsteht ein Bild Russlands. So lebte der Adel damals, so arbeiteten die Bauern, so dachten die Soldaten. So ging man zur Jagd, so zum Ball. Man schwärmte und flirtete, man schmiedete Pläne. Man war berauscht von politischen Ideen, geblendet von vaterländischen Sprüchen. Es wird das Hineingleiten in den Kriegszustand eines Landes gezeigt. Zunächst findet der Krieg irgendwo in weiter Ferne statt. Das Leben geht weiter, man ist heiter und ausgelassen. Für die meisten Menschen ändert sich nichts am Ablauf ihres Lebens. Doch dann bricht der Krieg in das Leben ein. Napoleons Armee ist auf dem Vormarsch, Mütterchen Russland ist dem Feind, so scheint es, schutzlos ausgeliefert. Der Krieg bricht über die Menschen hinweg, wie Wassermassen, die in das lecke Schiff hineinstürzen. Der Untergang ist nicht aufzuhalten. Die Flut scheint nicht mehr zu stoppen. Moskau wird dem Feind überlassen. Moskau wird brennen, Napoleons Armee rätselhafter Weise sich selbst aufreiben. Am Ende bleiben die Paare übrig, die schon auf den ersten hundert Seiten zueinander zu gehören schienen. Da sind 1500 Seiten vergangen, da sind einzelne Romanfiguren einem fast schon zu guten Bekannten geworden. Leider ist Andrej an den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben, jammervoller Weise der junge Petja Rostow gefallen. Natascha ist im Epilog eine Matrone und hat so gar nichts mehr von dem Reiz der jungen koketten und sicherlich über die Maßen liebenswerten Person der jungen Jahre. Figuren wie Berg oder Boris Drubezkoj verlieren wir leider aus den Augen, weil der Autor sich nicht mehr um sie kümmert. Wie er überhaupt den Epilog geschrieben zu haben scheint, weil irgendjemand ihm gesagt zu haben scheint: „Leo, mach endlich Schluss!“ Doch bitte nicht kleinkariert werden. Vor einer derartig gewaltigen Leistung muss man einfach verstummen, seinen – imaginären – Hut ziehen und in großer Demut stehen und schauen und bewundern! Pierre Besuchow geht durch die Zeitläufe wie eine Figur von Woody Allan. Ein Träumer, ein Sucher, ein „Neurotiker“. Liebenswert und freundlich, dem Lewin in „Anna Karenina“ nicht unähnlich. Wo er sich befindet, ist vorn, obwohl er es nicht weiß. Wo andere um ihn herum zu Boden geworfen werden, reibt er sich die Augen und fragt, ob etwa etwas Besonderes geschehen wäre. Selten habe ich das Gefühl nach dem Lesen eines Romans gehabt, das Buch bald wieder lesen zu müssen. Hier ist das Gefühl ausgeprägt. Ein Bilderbogen wurde aufgeblättert und beileibe nicht alles angeschaut und studiert. Und wie bei einem Bilderbogen das Auge irgendwann über den Rand gleitet und damit die Ansicht beendet, so gleitet der Leser auch aus der Lektüre dieses Romans heraus. Die Figuren in ihm leben bestimmt weiter und wer weiß, wenn ich das nächste Mal hineingeschaut habe, hat Sonja doch noch geheiratet, ist die alte Rostowa gestorben und der junge Bolkonskij auch. Nach einer Reise durch ein weites Land kommt man mit vielen Erinnerungen zurück, mit vielen Bildern und Ideen auch. Reisen kann ja so schön sein! Letzte Runde Graham Swift hat vor einiger Zeit ein auch in Deutschland viel beachtetes Buch mit dem oben genannten Titel herausgebracht. Der Saufkumpan von drei alten Herren ist gestorben, sein letzter Wunsch soll ihm von seinen Freunden erfüllt werden: seine Asche soll ins Meer gestreut werden. Die drei Alten lassen sich vom Adoptivsohn des Verstorbenen zum Meer fahren. Während dieser Autofahrt wird das Leben der vier Männer, das des Verstorbenen und seiner Frau erzählt. Aus verschiedenen Perspektiven, raffiniert montiert, setzt sich langsam ein Lebensbild zusammen. Ein Leben wird aufgeblättert, eine traurige Existenz letzten Endes. Was ist im Verlaufe des Lebens so berichtenswert? Kriegsteilnahme, Heirat, ein geistesgestörtes Kind, der Wunsch, Medizin studieren zu können, zerplatzt, ein Traum, sein Adoptivsohn würde den Schlachterladen weiterführen, zerschlägt sich genauso. Abends mit den Kumpeln ein Bier und ein Gespräch, das war es dann. Deprimierend. Doch der Roman deprimiert nicht, er greift das Thema des Todes auf, er philosophiert auf angenehme Weise über die „Letzte Runde“, die uns allen bevorsteht. Also, lasst uns etwas aus unserem Leben machen! Allzu simple Geschichten Ingo Schulze nennt sein zweites Buch „Simple Storys“ und im Untertitel einen „Roman aus der ostdeutschen Provinz“. Die meisten Geschichten spielen in Altenburg, eine in Berlin, eine andere in New York und zum Schluss verirrt man sich nach Stuttgart. Seine Geschichten bilden durch die handelnden Personen einen Zusammenhang, in immer neuer Mischung tauchen sie in den „Stories“ auf. Leute lernen sich kennen, andere trennen sich, wieder andere sterben. Einige werden mit ihrer Vergangenheit nicht fertig, andere nicht mit ihrer Gegenwart. Die Geschichten sind in genau beobachtete und beschriebene Ereignisse eingebettet. Die Situationen sind echt, sie sind „mitten aus dem Leben gegriffen“. Nur sie sind so gut wie nicht typisch für die „Ossis“. Es sind allenfalls Geschichten aus der Provinz. Gut, der eine hat eine angebliche Stasi-Vergangenheit, was schließlich dazu führt, dass er seinen Lehrerberuf quittiert und in der Irrenanstalt endet oder zumindest eine Zeit dort verbringt. Gut, es werden manchmal geradezu genüsslich „West-Produkte“ samt ihrer Werbeslogans zitiert, aber das kann es ja wohl nicht sein. Seine Figuren geben sich die Hände, eine Frau beschimpft die Konkurrentin als „Westtussi“, irrt sich aber. Und zu guter Letzt bekommt einer der „Ossis“, ein „Edel-Ossi“, da ohne Anstellung mit seiner akademischen Ausbildung nach der Wende im Universitätsbetrieb nicht zurechtgekommen, verwitwet und sein Sohn bei der Schwägerin auf Dauer „geparkt“, da bekommt dieser Mann von einem Schwaben ein Veilchen verpasst. Ach du meine Güte, humorlos sind die Ossis auch. Die Geschichten sind meisterlich erzählt, die Dialoge geben die Sprache der neunziger Jahre unseres Jahrhunderts wieder. Aber das Buch hinterlässt trotzdem nur einen schalen Geschmack. Es ist nichts als simples Geschwätz, hohl und vertan. Das vielfältige Lob kann ich nicht teilen. Neidlos anerkennen muss ich seine Art, zu beschreiben, Details darzustellen; aber wer solche Talente besitzt, sollte sie nicht an so kümmerlichen Dingen verschwenden. Die Berliner Briefe von Alfred Kerr Vor einiger Zeit erschien im Aufbau-Verlag eine Sammlung der Berliner Briefe Alfreds Kerr aus den Jahren 1895 bis 1900 unter dem Titel „Wo liegt Berlin – Briefe aus der Reichshauptstadt“. Diese Briefe schrieb der junge Dr. Kempner, der sich Kerr zu nennen begann, in der Breslauer Zeitung. Er porträtiert darin berühmte und weniger bekannte Zeitgenossen, er beschreibt die Theateraufführungen, gibt Nachricht von den aktuellen Ereignissen, lässt seine Amouren durchscheinen, kritisiert die politischen Verhältnisse und geht ironisch und respektlos mit dem deutschen Kaiserhause um. Häufig auch besucht er Gerichtsverhandlungen und bringt uns die einfachen Fälle des Lebens näher. Er plaudert in seinen Briefen, er schafft geniale Übergänge, kommt von „Hölzchen auf Stöckchen“ und was sich da so federleicht geschrieben liest, ist, ich wette, hart erarbeitet. Viele der handelnden Personen sind bald nicht mehr unbekannt und man liest seine Schilderungen beinahe wie einen Roman. Egal, ob er über den Sozialistenkongress in London berichtet oder noch von Venedig träumt, immer treffen seine Berichte wie passgenaue Zeichnungen. Er erzählt davon, dass die Damen nunmehr auf das Oberdeck der Busse (die mit Pferden gezogen werden) dürfen, dass die Elektrifizierung voranschreitet, die Hochbahn gebaut wird, die Zeit immer schneller vergeht und so weiter. Er malt den Kaiser in feinen ironischen Zügen, immer so, dass die Zensur sich nicht beklagen kann und man doch ständig über seine Skizzierungen lächeln kann. Am Ende des Jahrhunderts blickt er zurück auf einen Zeitraum, der mit Napoleon begann und mit Wilhelm II. endet, das ist allein eine derart köstliche Umschreibung und Kritik an seiner Majestät, dass man einfach losprusten muss. Kerrs Briefe animieren zur Nachahmung, zum Neuanfang, einhundert Jahre später. Nur braucht man jemanden, der so schreiben kann, der so belesen ist und der als Flaneur durch die Zeit und den Raum zöge. Es wäre schön, aber es gibt diesen Jemand nicht. C’est la vie. Such is life. Adieu Leser. Schach von Wuthenow Wir leben im „Fontanejahr“, man hat beschlossen des Schriftstellers Todestages, vor hundert Jahren ist er gestorben, in festlicher Erinnerung zu halten. So habe ich, der ich in den letzten Jahren immer öfter zu einem Roman oder einer Erzählung des „Märkers“ gegriffen habe, mich nunmehr der Novelle „Schach von Wuthenow“ zugewandt. Die unerhörte Begebenheit liegt in der Tatsache, dass ein preußischer Offizier, nach der Heirat, Selbstmord verübt. Er ist ein Schönling, in eine nicht mehr ganz junge gleichwohl sehr schöne Frau verliebt, deren Tochter die Blattern bekommen hat und nun eher „unschön“ ist. Dennoch kommt es zu einer Intimität mit ihr und nun verlangt die Mutter die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Daher die Heirat und da, der Mann in einer Welt von Scheinehre und in Furcht vor Lächerlichkeit und Ausgegrenztheit lebt, zieht er den Tod dem Leben vor. Es ist uns fremd, das Sujet und doch konnte ich das Buch nicht liegenlassen, ich war gefesselt von dem Werk, von seiner Erzählkunst. Mehr als in großen Romanen, wo ich manchmal mein Problem mit Theodor Fontane habe, erkenne ich in dieser Novelle seine Meisterschaft, seine Erzählkunst. Ein wahrlich großer deutscher Dichter und wahrlich gut, dass seiner verstärkt gedacht wird. Bulgakows Spätwerk Gerade habe ich die Lektüre des Romans von Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“ beendet. Es ist mir nicht leichtgefallen, den Roman zu lesen, es ist mir auch nicht schwergefallen, aber ich habe kein Verhältnis zu ihm entwickeln können. Er hat eine wundervolle Idee, er ist teuflisch intelligent geschrieben, doch er berührte mich nicht. Ich habe ihn wahrscheinlich intellektuell überhaupt nicht durchdrungen, ich habe mir gar keine Mühe gegeben, es zu tun. Doch ich will auch angesprochen, will animiert und gefesselt werden. Ich gebe zu, dass andere Romane mich magisch angezogen haben, sie riefen immer wieder, lies mich weiter, sie fragten, willst du nicht wissen, wie es weiter geht. Hier hat mich lediglich der Wunsch beseelt, das Buch abzuschließen, damit ich mich unbefangen und unbeschwert anderen, hoffentlich mich mehr packenden Lektüren zuwenden kann. Allein der Pilatusteil, allein die Romanteile des Meisters haben mich verzaubert, hier hätte ich gern das Manuskript gerettet. Und die ironischen Teile in denen die teuflischen Helfer das Moskauer Leben durcheinanderwirbeln, das hat Format. Und hat nicht auch die Beschreibung des Balls mit Margarita als Ballkönigin des Satans Format? Natürlich hat alles Format, natürlich liegt hier ein Meisterwerk vor mir. Und ich bin nicht ehrlich zu mir, ich wollte schon wissen, was passiert, wie es weitergeht und wie es endet. „Denn alles endet einmal!“ Sommerferienlektüre Ich konnte „Väter und Söhne“ von Ivan Turgenjew beenden. Turgenjews Roman erzählt die Geschichte von zwei Vätern und deren Söhnen. Er berichtet von den Unterschieden der Generationen, von den Erfahrungen der jungen und den Sorgen und Nöten der alten. Natürlich geht es auch um Liebe und um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie wird nicht beantwortet, weil jeder sich diese Frage allein beantworten muss, aber sie macht diese Geschichte zu mehr als einer schnellen Reiselektüre. Ich habe diesen Roman sehr genossen. Zumal ich endlich ein Werk des Mannes gelesen habe, den ich vor vielen Jahren, als Schüler einen kurzen Vortrag über das Leben Fontanes haltend, erwähnte. Ich hatte irgendwo abgeschrieben, dass Fontane an den Werken Turgenjews geschult worden sei. Mein Deutschlehrer kriegte sich nicht mehr ein, ich konnte den Vortrag nicht beenden, weil er für den Rest der Schulstunde über diese Aussage philosophierte. Nach dem Bühnenstück „Ein Monat auf dem Lande“ nun dieser schöne Roman; ich werde sicherlich mehr von dem Mann lesen. Die Figuren sind sehr zutreffend gezeichnet, zumal diejenige des Nihilisten und dessen Vater. Außerdem las ich einen erfrischenden Kriminalroman – ein Erstlingswerk – einer Autorin. Sie heißt Anne Chaplet und ihr Roman heißt „Caruso singt nicht mehr“. Frau Chaplet hat in den Krimi alles hineingepackt, was so im Moment gängig ist. Szenen aus dem Landleben; mehrere Taten, mehrere Spuren, die alle zusammen zu laufen scheinen. Was dann doch nicht der Fall ist. Alte Stasi-Seilschaften, die DDR-Vergangenheit und die Suche nach Liebe. Also ist genug Stoff für 300 Seiten vorhanden. Doch das Werk liest sich flott, weil alles locker und gefällig geschrieben ist. Man muss zwischendurch auch mal leichte Kost genießen! Grisham John Grisham schreibt Bestseller auf Bestseller. Er denkt, so mein Eindruck, schon beim Schreiben an den Film, der von dem Buch gemacht werden wird. Manchmal mehr Drehbuch als Roman, immer auf Spannung angelegt, immer habe ich im Hinterkopf die langsam anschwellende Filmmusik, die ein sich ankündigendes Unheil verdeutlicht und gleichsam den Schock für den Zuschauer mildert, weil unausweichlich jetzt etwas „Schlimmes“ folgen muss. Bei dem neuesten Buch ist mir das deutlicher aufgefallen als bei den anderen von ihm geschriebenen Romanen. Vielleicht lag das daran, dass ich „The Partner“ im Original gelesen habe, vielleicht bin ich inzwischen auch nur geschulter. Die Geschichte ist einfach spannend geschrieben, der Mann versteht sein Handwerk. Alles ist logisch und nachvollziehbar. Nur der Schluss nicht. Die Frau liebt den Mann, die verlässt ihn nicht. Sie hätte es tun können, während er im Gefängnis ist. Nun, da er frei ist und sich auf das gemeinsame Leben in Luxus und Freiheit freuen kann, verschwindet sie. Warum? Ihr gehört das Geld eh, sie hat die Verfügungsgewalt über Mann und Geld sowieso. Aber was soll’s, es ist der einzige Schönheitsfehler. Ein weites Feld Als der umfangreiche, meines Erachtens umfangreichste Roman Günter Grass veröffentlicht wurde, war der Aufschrei der Kritiker in der Bundesrepublik Deutschland groß und fast einhellig ablehnend. „Ein weites Feld“ sei ein gescheiterter Versuch, das zusammenwachsende schwierige Vaterland zu beschreiben. Ich erinnere mich an den Verriss von Marcel Reich-Ranicki im SPIEGEL, das Titelbild ist mir ebenso im Gedächtnis: Da sitzt der Großkritiker und zerfetzt das Buch! Ich habe mir den Artikel im SPIEGEL nochmals durchgelesen. Nein, ich wollte mich nicht beeinflussen lassen, ich wollte die Kritik nur ganz frisch vor Augen haben. Mein Eindruck ist noch frisch, ich komme von einem Kampf mit einer sperrigen Lektüre zurück, ich habe teilweise schwer gearbeitet, teilweise aber dieses Buch auch nicht aus der Hand legen wollen, weil ich wissen wollte, welchen Einfall Grass mir als nächstes präsentieren wird. Fast 800 Seiten wollten gelesen sein, wollten verdaut werden. Möglich war mir dies nur, weil ich über eine gewisse „Fontane-Vorbildung“ verfüge. Ich habe im Laufe der letzten Jahre einige Romane des märkischen Dichters gelesen, den Grass den Unsterblichen nennt. So sind mir viele der Personen, die auftreten vertraut, ich weiß, warum Schach aus dem Leben schied. Ich kann mit dem Tode von Major Crampas etwas anfangen und ich fand es dazumal auch bedauerlich, dass Lene nicht ihren Botho über alle Klassenschranken hinweg heiraten konnte. Ich gönne andererseits Rubehn sein Glück mit der schönen Melanie. Darüber hinaus habe ich eine Fontane Biographie von Ohff gelesen und kenne Fontanes Lebensweg doch leidlich. Grass hat das alles auch gelesen und alle anderen Romane und die Kindheitserinnerungen und die Kriegsberichterstattungen und die Briefe, die der Mann aus der Mark an Freunde und an seine Frau geschickt hat. Mit anderen Worten Grass hat eine gewaltige Fontane-Biographie vorgelegt. Nur hat er dies nicht in der üblichen Art und Weise getan, sondern er hat sich mehrerer Kunstgriffe bedient. Er lässt einen Wiedergänger Fontanes entstehen, der brabbelt manchmal von seinem Werk und meint dasjenige des Unsterblichen. Er hat eine Tochter, wie der Meister, auch sie heißt Martha. Er nennt sie ebenfalls Mete. Er hat drei Söhne und ebenso wie Fontane hat auch Theo Wuttke nicht viel Glück mit den Jungs. Sie heißen alle wie die Söhne Fontanes, George ist ebenso früh verstorben und alle drei sind vor dem Bau der Mauer in den Westen geflüchtet. Alles sehr hübsch zurechtgelegt. Auch Wuttkes Seitensprünge blieben nicht ohne Folgen, seine französische Enkelin besucht ihn, wird seine Stütze. Fontanes Schwierigkeiten, genug Geld zu verdienen, setzen sich bei Wuttke fort. Seine Schwierigkeiten mit dem „öffentlichen Dienst“ auch in der schwierigen DDR-Zeit ähneln denjenigen Fontanes im preußischen Staatsdienst. So wie Fontane an Friedländer schreibt, wendet sich Wuttke an Professor Freundlich. Die Briefe sind wohl zum größten Teil Zitate aus Fontanes Feder, sie gelten auch heute noch, will uns Grass sagen. Da wo er nicht zitiert, plaudert er im gleichen Stil und Tonfall Fontanes weiter. Hier ist einer so intensiv eingetaucht in die Materie, dass es ihm nicht schwerfällt, den Ton einfach fortzusetzen. Nun kommen mir Zweifel, ob Grass wirklich eine Fontane-Biographie schreiben wollte. Vielleicht wollte er auch etwas anderes. Er berichtet von den Neuruppiner Bilderbögen. Denn natürlich ist Wuttke exakt einhundert Jahre nach Fontane an gleicher Stelle in der Mark geboren und irgendwo im Roman wird er sogar zu dessen Ururenkel erklärt. Wie auch immer, es gab diese Bilderbögen aus Neuruppin. Sie illustrierten die Geschehnisse in der Welt zu einer Zeit als es noch kein Kino mit seiner Wochenschau und erst recht noch kein Fernsehen gab. Vielleicht wollte Grass uns einen literarischen Bilderbogen über die Zeit nach der sogenannten Wende vorlegen. Beispielsweise spielt das ehemalige Haus der Ministerien der DDR, zu Zeiten der Nazis das Reichsluftfahrtministerium und schließlich nach der Wende der Sitz der Treuhand eine wichtige Rolle in diesem Werk. Geschichte wird anhand des Paternosters dargestellt. Die Protagonisten fahren jeweils in diesem Fahrstuhl hoch oder runter (Auf- oder Abstieg) sie werden karikiert oder liebevoll beschrieben. Der erste Treuhandchef Rohwedder wird so liebenswert dargestellt, dass die Tatsache von seiner Ermordung umso heftiger schmerzt. Die Geschichte dieses Gebäudes ist sogleich ein Stück der deutschen Geschichte, die hier reflektiert wird. Sie hat immer etwas Großkotziges an sich, gut dass es eine Figur wie Wuttke gibt, der von seinen Freunden und Bekannten Fonty genannt wird, der ruhig in seinem Zimmer sitzt und die Geschichte des Hauses aufarbeitet oder eine Petition zum Erhalt des Paternosters verfasst. Der nächtliche Gespräche mit dem zum sportlichen Ausgleich über die Flure des Gebäudes auf Rollschuhen gleitenden Chef führt und der schon mal im Nervenzusammenbruch den gleichen Rat wie sein Vorgänger erhält, die Jugenderlebnisse zwischen zwanzig und dreißig aufzuschreiben. So vermengt Fonty seine zwei Leben und verwebt sie zu einem mit zwei Müttern und zwei Vätern. Doch plagen mich erneut Zweifel, ob es das ist, was Grass gewollt hat. Warum dann den Tagundnachtschatten Hoftaller auftreten lassen? Der ist eine Figur des DDR-Autors Joachim Schädlich. Bei dem heißt der ewige Spion Tallhover. Fonty spricht mit Hoftaller, falls er nicht Briefe schreibt. Hoftaller hat die letzten vierzig Jahre bei der Stasi gearbeitet. Er ist das Sprachrohr für all den Zweifel, den Grass an dem Beitritt der Länder der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland besitzt. Grass ist ein politischer Autor und er hat seine Meinung zu dieser „Wiedervereinigung“ laut und deutlich geäußert. Er ist nicht deren Befürworter. Fonty will auswandern und wird es letztlich auch mit Hilfe seiner Enkelin tatsächlich tun. Er will mit dem Land, in dem die regierende Masse sich breit gemacht hat, damit meint er Kohl, nichts zu tun haben. Hoftaller stellt alles sowieso nur als Stasitrick dar. Auf diese Weise wird schließlich die kapitalistische Bundesrepublik zugrunde gehen, indem man ihr die marode DDR aufgehalst hat. Ein vielschichtiges Buch, ein kaum zu verdauendes Buch, das ich niemandem so einfach empfehlen kann. Eine richtig schwere Lektüre. Ein wahrlich weites Feld, dessen Ende ich im Gegensatz zum Autor nicht abzusehen vermag. Die Präsidentin Mehr durch Zufall denn durch Leitung bin ich auf den Roman „Die Präsidentin“ des spanischen Autors Clarín gestoßen. Was für ein Roman! Anna Karenina, Emma Bovary und Effi Briest haben eine spanische Schwester. Ana Ozores lebt in einer spanischen Kleinstadt an der Seite des pensionierten Gerichtspräsidenten. Sie wird nur die Präsidentin genannt. Ihr Vater war ein verarmter Adliger, ihre Mutter, welch Makel, eine italienische Modistin. Von ihrem Vater hat sie die Belesenheit und einen Hauch von Mystizismus geerbt, ihrer Mutter verdankt sie ihre Schönheit. Sie lebt in dem Städtchen so vor sich hin, an der Seite des viel älteren Ehemanns, der sich mehr für die Jagd und das Theater als für die Bedürfnisse seiner Frau interessiert. Sie gerät in den Dunstkreis des „Kleinstadt-Don-Juans“ und des mächtigsten Priesters der Stadt. Beide Männer kämpfen um sie, wollen sie – auch der Priester – nicht nur platonisch lieben. Ein Panorama des Lebens in einer spanischen Kleinstadt im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert wird auf über 800 Seiten entfaltet und der Leser wird in dieses Leben hineingezogen. Die Erzählweise ist so unglaublich modern. Wie eine Kamera auf der Fahrt durch einen Kinofilm sammelt der Erzähler am Anfang Bilder ein, auf dem Kirchturm steht der Generalvikar und sieht durch ein Fernrohr auf „seine“ Stadt und betrachtet einzelne Szenen, der Kamera gleich. Später wird er immer wieder in Rückblenden aus verschiedenen Perspektiven die Ereignisse schildern. Meisterlich auch seine Personenführung. Er führt manchmal Personen ein, die erst ein oder zweihundert Seiten später von Bedeutung für die Geschichte sein werden. Er lässt seine Hauptpersonen psychologisieren, er lässt sie Träume deuten, er tut manchmal so, als wisse er weniger als beispielsweise der Priester, der ja schließlich durch die Beichten wichtiger Beteiligter sehr viel wissen muss. Er hat eine Geschichte zu erzählen und er tut dies mit allen notwendigen Umschweifen, einfach herrlich, einfach göttlich diese Längen, die nie langweilig werden. Ein Meisterwerk! Und Ana wird anders als ihre „Schwestern“ weiterleben, sie überlebt das Romanende, sie hat eine Zukunft vor sich und es wäre wunderschön, wenn Clarín weitergeschrieben hätte, denn in Vetusta passieren sicherlich noch mehr, noch viel mehr Geschichten. Aber er hat einfach aufgehört und er ist jung, viel zu jung gestorben. Aber ein Geniestreich bleibt, ein Meisterwerk! Ein Werk der Weltliteratur! Zwei sehr unterschiedliche Bücher Die beiden Bücher, die ich hier vorstelle, haben keinerlei Bezüge, es ist reiner Zufall, dass ich sie nacheinander las. Da ist der Roman von Esther Freud „Sommer in Gaglow“ und der von Eduard von Keyserling „Wellen“. Unterschiedlicher hätten zwei Werke auch kaum ausfallen können. „Sommer in Gaglow“ beschreibt auf zwei Erzählebenen ein Stück des Lebens der Autorin. Ganz unverfälscht auf der Gegenwartsebene und verbrämt auf der zweiten. Diese zweite Ebene hat sehr viel erzählerisches Geschick. Da wird aus dem Leben einer wohlhabenden Familie vor und während des ersten Weltkrieges in Deutschland erzählt. Drei Mädchen und der ältere Bruder stehen im Mittelpunkt oder doch die Mutter? Den Sommer verbringt man in einem Ort außerhalb Berlins: Gaglow. Weshalb der Originaltitel auch schlicht so heißt. Warum die Übersetzerin die Titelerweiterung vornehmen musste, bleibt ihr Geheimnis. Zumal eine starke Episode im Winter spielt. Mutter und jüngste Tochter sind allein in Gaglow und finden zueinander. Aber warum eigentlich die Mädchen, insbesondere die älteste ihre Mutter hasst, wird nie ganz klar, die Figuren verschwimmen; eigentlich werden sie nie deutlich. Trotzdem wird etwas von der Kriegsatmosphäre vermittelt und davon, dass Kriege Familien zerreißen und Leben zerstören. Die Gegenwartsebene ist nur der Versuch mit eigenen Problemen besser umzugehen und dabei sogar noch Geld zu verdienen. Gelabere, teilweise schlicht und teilweise schlecht geschrieben. Kein Buch, das man unbedingt gelesen haben muss, nicht einmal eines was nur so im Bücherschrank stehen sollte. Das ist mit dem Roman von Keyserling ganz anders. Der Mann kann schreiben! Der beschreibt Sonnenauf- und untergänge am Meer und Landschaften und selbst den zarten Lufthauch an einem heißen Nachmittag so intensiv, dass du glaubst, dabei zu sein. Vor meinem geistigen Auge entstanden ständig wundervolle Gemälde. Und das Thema schließt beinahe nahtlos an das Thema der großen „Frauenromane“ an. Hier hat Doralice ihren viel zu alten Mann bereits verlassen, ist mit einem jungen Maler durchgebrannt, hat ihn in London geheiratet und verlebt nun Ferien mit ihm am Meer. Die anderen Urlauber fühlen sich belästigt, jedenfalls teilweise. Bei den Männern überwiegt eher die Anziehung. Sie langweilt sich, ist sich ihres neuen Lebens nicht sicher. Der neue Mann glüht vor Eifersucht, versucht aber den modernen, aufgeklärten Menschen zu spielen. Am Ende wird er von einem nächtlichen Fischfang nicht zurückkehren. Doralice bleibt zunächst in Trauer zurück. Ein buckliger Geheimrat wird sich um sie kümmern, bis das Meer sie beide freigibt. Die Geschichte ist mit Spannkraft, mit Schnelligkeit und vor allem passgenau erzählt. Eine Geschichte, die zu lesen, ich nicht versäumt haben wollte. Latours Liste Nikolaj Frobenius hat einen Roman geschrieben, der in der deutschen Übersetzung „Der Anatom“ heißt. Ein harmloser Titel! Aber welch ein Irrtum! Latour ist der „Held“ dieser Geschichte. Ein Mensch, der kein Schmerzempfinden besitzt, der aber aufspüren möchte, wo im Gehirn der Sitz des Schmerzempfindens sich befindet. Latour lebt in den Zeiten vor Ausbruch der französischen Revolution und wird noch das napoleonische Zeitalter miterleben. Doch das ist ohne Bedeutung. Viel wichtiger ist Latours Begegnung mit de Sade. So ist der Roman ein starkes Stück Literatur, angesiedelt in einem bewegten Zeitalter. Ein mit so viel perversen Gelüsten gespickter Stoff und doch wundervoll niveauvoll und spannend erzählt. Latour ist von der Idee besessen, den Tod seiner Mutter rächen zu müssen. Diese, eine Wucherin, ist wahrscheinlich von Gläubigern vergiftet worden. Ihr Sohn findet eine Liste mit acht Namen, allesamt Gläubiger aus Paris. Sie könnten die Mörder sein, Latour will sie alle umbringen. Zugleich kann er seinen Forscherdrang befriedigen und die Gehirne sezieren. Er lernt Anatomie, er saugt sie in sich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm Flüssigkeit aufnimmt. Er forscht im Verborgenen und ein Inspektor der Pariser Surté, ein Vorgänger des Kommissar Maigret, kommt ihm auf die Schliche, aber verhaften wird er ihn auch nicht. Auf Latours Liste steht auch de Sade, aber der entkommt Latour durch einen natürlichen Tod. Latours Liste ist abgehakt, aber als Anatom ist Latour gescheitert. Eine verkorkste Existenz, ein spannender Roman. Zwei Bücher, wieder einmal Zwei Bücher, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Pat Barker’s Roman „Niemandsland“ und Fontanes „Frau Jenny Treibel“. Im Original heißt der Roman von Frau Barker „Regeneration“; Offiziere der britischen Armee des ersten Weltkriegs kommen in ein Sanatorium nach Schottland, um von den Kriegseinwirkungen, den psychischen Belastungen, befreit zu werden. Sie werden von erfahrenen und sehr einfühlsamen Psychologen betreut. Allen voran Dr. Rivers, der sich für seine Patienten aufreibt. Niemandsland ist die Geschichte der Verletzungen, die durch den Krieg der Seele zugefügt werden. Sassoon zum Beispiel hat einen Aufruf an das Unterhaus verfasst, den Krieg einzustellen. Er, der hochdekorierte und tapfere Offizier hat sich pazifistischen Grundeinstellungen verschrieben. Am Ende wird er zurück an die Front geschickt, er will auch zurück. Am Ende wird ein anderer Patient von ihm sein ganz privates Glück gefunden haben. Dieses Buch hat in so erschreckendem Maße die fürchterlichen Seiten des Krieges verdeutlicht, spricht eine so schonungslose Sprache, dass ich immer wieder innehalten musste. Ein großer Roman. Er spannt das Szenario des großen Krieges auf, er lässt einen nicht kalt und nicht mehr los. Die Sprache ist klar und einfach; auch da, wo uns psychologische Probleme nähergebracht werden. Faszinierend die Schilderung der so ganz unterschiedlichen „Heilungspraxis“ eines Kollegen von Dr. Rivers. Geschickt auch die Verknüpfung verschiedener Schicksale die alle ihren Ursprung in diesem unsinnigen und unmenschlichen Krieg haben. Das Buch hatte ich ausgelesen, bevor ich mir den Film „Der schmale Grat“ anschaute. So hätte ich mir einen Kriegsfilm gewünscht, Menschen, die den Film tragen, Gedanken, die sich einprägen und nicht ein ständiges Geschwafel aus dem „Off“. „Niemandsland“ ist nicht nur ein hervorragendes Buch, sondern auch ein wundervoller Film, der allerdings im Kopf des Lesers entstehen muss. Das ist aber gerade das Faszinierende und Wunderbare an Büchern! Ach, wie so anders mein Theodor Fontane. Hier will die reiche Frau Kommerzienrätin Treibel partout nicht zulassen, dass ihr jüngerer Sohn, eine Professorentochter heiratet. Die sei nicht standesgemäß. Sie selbst stammt aus einfachen Verhältnissen, hätte um ein Haar den Vater der Verlobten beinahe selbst geehelicht, aber nun ist halt alles anders. Dass sich am Ende alles zum Guten kehrt und jeder den richtigen Partner heiratet, ist bei Fontane selbstverständlich. Der Mann schreibt diese Art von Romanen einfach hinreißend. Sie sind konstruiert und doch ist man nicht verstimmt. Die Namen, die er seinen Helden gibt, sind scheußlich: Kuh, Rindfleisch, Adolar und so weiter. Egal, das macht alles nichts. Fontane beobachtet genau, er gibt Stimmungen fein wieder, er malt Gespräche, Tafelrunden und Landpartien präzise aus. Am Ende ist es ein reines Vergnügen und herrlich entspannend. Also werde ich weiter nach inhaltsschwereren Lektüren einen Roman von Theodor Fontane in die Hand nehmen. Neue Lektüre erlesen Vorab aber ein Wort zum Buch an sich. Schön, dass es Bücher gibt. Vielleicht hätte ich es noch schlichter ausdrücken sollen, aber auch so ist es gut und vor allem richtig. So ein Text löst doch ungemein viel im Menschen aus. Da stellt man sich Personen und Orte vor, da leidet man mit diesen Personen und freut sich mit ihnen, man nimmt sich ihrer an. Sie werden zum Teil des eigenen Seins. Wunderbar! Also neue Lektüre. Im letzten Jahr jubelte die Presse eine junge Autorin hoch. Das kann die Presse heute vorzüglich, die Presse hat die Macht dazu und einzelne Mitglieder dieser Zunft ganz besonders. Allen voran, wenn es um Literatur geht, Marcel Reich-Ranicki. Der alte Herr gilt als deutscher Literatur-Papst. Und wenn er in seiner Fernsehsendung ein Buch nur behandelt, kann der Verlag sich beglückwünschen, schließlich wird die Auflage sprunghaft steigen. Wenn es dann noch gelobt wird, möglicherweise sogar einhellig, dann ist ein Bestseller geboren worden. Ich folge den Empfehlungen dieser Meinungsmacher nur selten, dann auch nur unwillig und mit einer gehörigen Zeitverzögerung. Häufig genug habe ich hinterher ein so hoch gelobtes Buch aus der Hand gelegt und mich gefragt, was daran nun so Wundervolles gewesen sein soll. Auf diese beschriebene Weise kam auch Judith Hermann zu entsprechenden Meriten. Ihr Vater ist der bekannte Bühnenbildner, sie ist in einem künstlerischen Umfeld aufgewachsen, wird es sicherlich auch leichter gehabt haben, einen Text bei einem Verlag zu platzieren. Nun liegt, seit letztem Jahr, wie gesagt, ein Bändchen mit Erzählungen von ihr vor: „Sommerhaus, später“. Eine Handvoll Erzählungen. Junge Menschen spielen die Hauptrolle. Sie scheinen alle nicht zu arbeiten, sie leben in einem Boheme Milieu, kiffen, werfen Tabletten ein und saufen. Es handelt sich um Begegnungen, folgenlose Begegnungen, die im Mittelpunkt der Erzählungen stehen. Es passiert nichts Aufregendes. Ab und an wird auch noch gevögelt, immerhin, aber sonst hält sich das Geschehen in bescheidenen Grenzen. Nichts Besonderes also, kann man nun denken. Doch das stimmt nicht. Die Sprache ist schön, sie ist frisch, aber nicht einer bestimmten Szene verhaftet. Sie ist von heute und doch nicht schludrig. Schöne Metaphern enthält der Band und wundervolle Einfälle. Großmutter steckt sich selber an, fackelt sich ab, nachdem sie die letzten Rechnungen beglichen hat. Eine an einen Computer angeschlossene Kamera überträgt mit einem geringen Zeitverzug die Handlungen zweier Menschen bis diese sich aus dem Blickwinkel entfernen und die Kamera nicht mehr erfassen kann, was da am Boden zwischen einem jungen Mädchen und einem zwergenhaften, hässlichen Regisseur passiert. Ich jubele nach der Lektüre nicht, aber ich bin gespannt, was Judith Hermann als nächstes publizieren wird. Ferienlektüre, wieder einmal „Unterm Birnbaum“ hat Theodor Fontane diese Novelle genannt, die er ursprünglich „Es ist nichts so feingesponnen“ nennen wollte. Der letzte Satz dieser Novelle beginnt mit diesem Halbsatz und fährt fort „‘s kommt doch alles an die Sonnen!“. So ist es natürlich in diesem „Krimi“ auch. Hradscheck weiß nicht ein noch aus. Der Wirt und Krämer ist hochverschuldet und so erschlägt er den Schuldeneintreiber und mit Hilfe seiner Frau gelingt es ihm, die Bewohner seines Dorfes hinters Licht zu führen. Zwar fällt der Verdacht auf ihn, aber schließlich wird er rehabilitiert. Allein die Gewissensbisse und das ständige Gerede seiner alten Nachbarin werden ihm zum Verhängnis. Die Geschichte soll nach wahren Begebenheiten niedergeschrieben worden sein. Sie ist gleichwohl eine Geschichte Fontanes. Er erzählt und seine Andeutungen sind meisterlich, seine Dialoge – zumal im Oderplatt – sind dem Volke vom Maul geschaut und so kann diese kurze Geschichte durchaus den einen oder anderen Leser zu Fontane führen. Gleichwohl ich werde erst einmal anderes, aber ebenso leichtes lesen. Vor einigen Monaten war ich durch einen Artikel im Spiegel, den Donna Leon verfasst hatte, auf den Autor Patrick O’Brian aufmerksam gemacht worden. Der Mann ist ein Bestsellerautor, er hat schon an die zwanzig Bände mit Geschichten über den Kapitän Jack Aubrey und den Schiffsarzt Stephen Maturin gefüllt. Die beide leben und kämpfen in der britischen Flotte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. An Deutschland ist dieser Autor, sind seine Seefahrerabenteuer bisher spurlos vorübergegangen, denn als Taschenbuch ist offenbar nur der erste Band erschienen und jetzt, das war der Anlass der Vorstellung im Spiegel, ist der wohl bisher letzte Band in deutscher Übersetzung vorgelegt worden. Die Story hat alles andere als Groschenromanniveau. Mit viel Akribie hat O’Brian in den Seearchiven in London recherchiert, hat die Logbücher der alten großen Linienschiffe gelesen und die Schlachtberichte unverfälscht übernommen. Seine Geschichte lebt von dieser Authentizität, aber nicht nur davon. Er schildert den Beginn einer Männerfreundschaft, er schildert zwei sehr unterschiedliche Typen und das gelingt ihm sehr treffend. Und wie er den nautischen Laien langsam in die hohe Kunst der vielen verwirrenden Begriffe der Segelei einführt, nimmt er den Leser gleich mit. Sehr geschickt! Es gelingt ihm, die Zeit vor unserem Auge erneut entstehen zu lassen. Man lernt mehr über das Leben, das Verhalten der Menschen zu jener Zeit, als aus so manchem großen „Bildungsroman“. O’Brian will unterhalten, aber eben nicht nur. Er versteckt Lebensweisheiten und vielfältige Beobachtungen in seinem Buch, so dass ich mich ärgerte, ohne Bleistift gelesen zu haben. Denn bekanntlich ist „reading without a pencil like daydreaming“! Dass ich das Buch nun auch noch auf Mallorca las, war besonders angenehm. Schließlich spielen viele Passagen, zumindest die meisten Landszenen auf Menorca. Und wenn man dann liest, dass Gefangene auf der Dracheninsel ausgesetzt wurden, dann sieht man dieselben Tage später mit ganz anderen Augen. Das erste Kommando des Kapitäns Jack Aubrey heißt in der Übersetzung übrigens: „Kurs auf Spaniens Küste“! Ich werde mich um die nächsten Bände kümmern, auch im Original sollten sie eine sehr unterhaltsame und spannende Ferienlektüre darstellen. Ich werde mich weiter mit den beiden Freunden und ihrem abenteuerlichen Leben beschäftigen; so viel steht fest! Was über Ferienlektüre noch zu sagen bleibt, ist schnell erledigt. Noch mehr „Brunetti-Romane“ von Donna Leon. Und die Erkenntnis, dass es nicht um Kriminalromane handelt, wohl aber um hervorragende Beschreibungen der italienischen Gesellschaft und liebevollen Bildern des wunderschönen Venedigs. In der Eile fast vergessen Ich habe das Buch bereits weiterempfohlen, ich habe es gern gelesen, ich schätze es. Dennoch habe ich ganz vergessen darüber ein paar Notizen in meinen Computer zu hacken. Ganz vergessen habe ich es aber nicht, denn schließlich suchte ich nun nach einer entsprechenden Aufzeichnung und hole das Vergessene nach. Also los: Margaret Mazzantini hat in einem Roman das Leben ihrer Familie in den letzten hundert Jahren dargestellt. Im Mittelpunkt steht die Großmutter der Erzählerin. Am Fuße des aufgebahrten Leichnams betrachtet die Enkelin das Leben der Großmutter. In wenigen Strichen schafft es Frau Mazzantini jeweils ein sehr lebendiges Bild der Situation zu malen. Kräftige Farben und doch jede Menge Zwischentöne. Es ist mehr als nur das Leben der Frau im Italien dieses Jahrhunderts, das hier bebildert wird. Es ist das Bild der italienischen Gesellschaft. Zu Beginn dieses Jahrhunderts, während und nach den Kriegen. Es ist die Geschichte, wie sie sich überall und immer wieder abspielt: Kindheit, aufregende Jahre der Jugend, Älterwerden und schließlich das Alter. Das Leben währet 70 oder 80 Jahre und wenn es gut war, dann war es Müh und Arbeit. Das hat Frau Mazzantini in einem wirklich schönen Textband zusammengefasst. Und da immer wieder eine Zinkwanne in der Erzählung auftaucht, die sowohl als Wäschezuber, wie auch zum Waschen der Enkelin hergehalten hat, heißt der ganze Roman so: Die Zinkwanne. Sehr empfehlenswerte Lektüre! Noch ein großer holländischer Autor Marcel Möring hat einen Roman geschrieben: „In Babylon“. Es gibt Werke, die sind so vielschichtig, dass es gescheiter ist, erst gar nicht den Versuch unternehmen zu wollen, alle Einzelheiten, alle Stränge der Erzählung nachzuvollziehen. So ein Werk liegt jetzt hinter mir und zugleich vor mir, denn ich gestehe, dass ich diesen Roman sicher noch einmal lesen muss. Er hat so viel Kraft, so viel Raffinesse, dass sich vieles erst bei einer Zweitlektüre erschließen wird. Um überhaupt etwas über den Inhalt hier festzuhalten, lasse ich am besten und ausnahmsweise einmal den Klappentext sprechen: „Vielfarbig wie auf Breughels Gemälde erzählt Nathan Hollander die Saga seiner durch Zeiten und Länder getriebenen Familie. Vor mehr als drei Jahrhunderten war der Uhrmacher Levie achtzehn Jahre lang zu Fuß durch Europa geirrt, nachdem seine Familie in Litauen unter Pogromen leiden musste. In den Niederlanden fühlte er sich schließlich daheim und nahm aus Dankbarkeit den Namen Hollander an. Aber die Rastlosigkeit blieb in der Familie, und spätere Generationen der Hollanders wanderten ruhelos durch die Welt. So waren auch Nathans Vater Emmanuel Hollander und dessen Bruder Herman in den dreißiger Jahren nach Amerika emigriert und später zwischen den Kontinenten gependelt. Der kinderlose Herman verspricht, Nathan als Erben einzusetzen, wenn er sein Leben aufschreibt. Als der Onkel tot ist, bricht Nathan nach Nordostholland auf, um diese Aufgabe zu erfüllen und um den Nachlaß zu sichten. Nina, die Tochter seines Bruders, begleitet ihn. Unterwegs legt sich ein Schneesturm über ihr Auto, als wollte die Welt untergehen. Doch sie kommen ans Ziel. Prallvoll mit Vorräten scheint das Haus für eine Belagerung gewappnet zu sein. die Möbel sind in einer Barrikade aufgetürmt, Tonbänder verlautbaren unverständliche Botschaften. Und der Rückweg ist aussichtslos verschneit.“ Nun ja. In Babylon passiert viel viel mehr. Was davon Dichtung, was Wahrheit ist, bleibt unklar. Nathan ist schließlich Märchenerzähler von Beruf. Was erlebt er wirklich, was ist erfunden. Was ist dem Morphium geschuldet. Der Roman hat ein kleines Vorwort, ein Satz von Isaac Deutscher: „Bäume haben Wurzeln. Juden haben Beine.“ Das Wort ist Motto. Der Roman ist auch eine Geschichte der ewig wandernden Juden. Sind sie im gelobten Land nun eigentlich angekommen? Möring verbindet die Geschichte der Familie Hollander mit wichtigen Ereignissen unserer Geschichte. Nathan ist Zeuge der Zündung einer der ersten Testbomben in den Vereinigten Staaten. Monate später werden über Japan zwei Atombomben abgeworfen. So prallvoll die Regale im Haus Hermans sind, so prallvoll ist das Buch angefüllt mit Geschichten, auch sehr erotischen Momenten. Ein wundervolles Buch, weil voller Wunder. Nun habe ich also noch einen ganz großen holländischen Erzähler nach Mulisch und Hart kennen gelernt: Marcel Möring. Bitte merken! Graf Petöfy Im Moment habe ich folgenden Lese-Rhythmus: Ein Buch eines Autors unterschiedlicher Herkunft und danach ein Buch von Theodor Fontane. Viele Bücher sind es nicht mehr, die ich von diesem märkischen Dichterfürsten noch zu lesen habe. So habe ich mich seinem „Graf Petöfy“ zugewandt. Ein älterer Mann, der Graf eben, heiratet eine viel jüngere Schauspielerin. Er sieht über die Probleme, die eine solche Verbindung mit sich bringen musste, hinweg. Sie ist nicht nur jung, sondern auch noch aus Norddeutschland (!), er dagegen Ungar und dann ist sie auch noch Protestantin. Es kommt wie es kommen muss. Sie hat offenbar in einer schwachen Stunde, nach einem aufregenden Abenteuer, dem Neffen ihres Gatten nachgegeben. Nun scheidet der Graf aus dem Leben. Die junge Frau, Franziska, wird nicht etwa nun dem Werben des jungen Mannes nachgeben, sondern sich zurückziehen und sich wahrscheinlich auch der katholischen Kirche zuwenden. Wie immer bei Fontane, eine wundervoll zart gemalte Frauengestalt, ein wenig Aberglaube (eine Glocke zerbricht, beim Einzug des Ehepaares in das Schloss der Petöfys), der Seitensprung nur in einer mehr als diskreten indirekten Andeutung (ein kleiner Ring Franziskas am Finger des jungen Grafen verrät es), gelungene Dialoge und sehr kurios und nicht alltäglich der Handlungsort. Wien und Ungarn, nicht Berlin und die Mark. Mich bewegt immer mehr die Frage, was Fontane bewegt haben mag, immer starke und sehr sympathische Frauengestalten geformt zu haben. War es der Wunsch, so seine Tochter sehen zu wollen, war es seine Vorstellung von einer Frau, wie er sie mutmaßlich nicht selbst gehabt habe mag. Dieser Frage werde ich weiter nachgehen, meinen Rhythmus beibehalten! Die Akten des Vogelsangs Schon lange hatte ich mir vorgenommen, das alte Reclam-Bändchen in die Hand zu nehmen und zu lesen. Ich wollte schon lange mit dem Autor Wilhelm Raabe in Berührung kommen. Schließlich kann man nicht immer nur Fontane lesen und denken, dass damit die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts abschließend behandelt wäre. Also „Die Akten des Vogelsangs“! Hinter diesem Namen verbirgt sich ein Ortsteil eines kleinen Residenzstädtchens, Göttingen. Dort wachsen drei junge Menschen auf, Karl, der Erzähler, Helene und Velten. Letzterer entwickelt sich zum, heute würde man sagen, Problemkind. Sein Vater ist früh gestorben, Karls Vater ist so etwas wie ein Vormund, aber Velten lässt sich nicht bändigen und in die bürgerliche Welt einordnen. Velten reibt sich an Helene und es wird klar, dass diese beiden Menschen aneinander gekettet bleiben werden. Helene wird Veltens Schicksal, sie verlässt mit ihren Eltern Deutschland, aber nicht Veltens Leben. Velten wird zu einem Aussteiger, er reist Helene nach, die sich aber inzwischen an einen anderen gebunden hat. Am Ende wird Helene Velten die Augen zudrücken, wird in seinem Angedenken leben. Der Vogelsang hat sich inzwischen verändert, nicht mehr die alten Nachbarn leben hier, sondern ein Vergnügungsviertel ist entstanden und ein Industriestandort ist aus dem einstigen Idyll geworden. Wie Raabe die Veränderungen zu den Akten nimmt, wie seine Erzähltechnik die Lesenden in seinen Bann zieht, ist beeindruckend. Ein moderner Roman! Am Anfang bekommt der arrivierte Karl einen Brief von Helene, in dem diese ihm mitteilt, dass Velten gestorben sei. Also wird der Leser von Anfang an mitgenommen auf die Erinnerungsreise. Velten ist seiner Zeit einfach ein Stück voraus, er passt nicht in die Gesellschaft. So ging es zu jeder Zeit Menschen, so wird es auch weiter sein. Das war der erste Roman oder besser die erste Erzählung, die ich von Wilhelm Raabe gelesen habe, aber, bei Gott, es wird nicht die letzte sein. Ein neues Literaturwunderland hat sich mir geöffnet! Eine beglückende Begegnung! Die Brücke vom Goldenen Horn Sicherlich ist es nicht alltäglich, wenn eine Türkin in deutscher Sprache Romane schreibt. Emine Sevgi Özdamar ist eine solche Autorin. Sie hat vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel „Die Brücke vom Goldenen Horn“ vorgelegt, das sie einen Roman nennt. Meines Erachtens ist es die Teilbiographie ihres eigenen Lebens. Die Zeit ihrer Jugend in Berlin und in der Türkei. Eine unruhige Zeit, weil wir uns im Jahre 1968 oder danach befinden. Eine bewegende Zeit, in der eine Türkin Selbstbewusstsein erlernt und zu einer Persönlichkeit heranreift. Eine Zeit in der aus einem Mädchen eine Frau wird. Nicht zuletzt handelt die Hälfte des Buches davon, dass sie endlich ihre Jungfernschaft verlieren will. Sie nennt diesen Vorgang, poetisch überhöht, ihren Diamanten verlieren. Die andere Hälfte ist den Unruhen in der Türkei und randständig auch in Berlin gewidmet. Zugegeben hat mich das Buch genervt, ich habe es sozusagen mit langen Fingern gelesen. Nur an einer Stelle ist ihr etwas Außerordentliches gelungen. Sie beschreibt den Unterschied zwischen Türken und Deutschen. Diese Überlegung ist ihr gelungen, ich möchte sie unkommentiert an das Ende dieser kurzen Rezension stellen. Mein Fazit, gerade nach der Lektüre von Raabe, man muss dieses Buch wahrlich nicht gelesen haben! »Der Türke fühlt sich am Meer wohl, der Deutsche im Wald. Der Schriftsteller Elias Canetti sagte: >Der Deutsche fühlt sich im Wald wohl, weil die aufrechten Bäume des Waldes die Deutschen an ein Heer erinnern<. Aber weil sie so lange in den Wäldern gelebt hatten, waren sie misstrauisch geworden. Hinter jedem Baum sahen sie eine Gefahr, in den tiefen, dunklen Wäldern gab es überall Schatten. Erst als die Deutschen ihre Wälder abgehackt und Wege gebaut hatten, merkten sie, dass es auch andere Menschen in der Welt gab und andere Länder. Die Engländer, Spanier und Holländer waren sehr früh Kolonialherren, weil sie Menschen vom Meer waren. Sie hatten am Meer gestanden und früh gesehen, dass die Welt groß ist. « Die Chronik der Sperlingsgasse Und gleich noch ein Roman von Wilhelm Raabe! Ähnlich wie in den Akten des Vogelsangs wird auch in der Chronik der Sperlingsgasse über einen Zeitraum berichtet, über einen Lebensabschnitt in einer Berliner Gasse. Wieder gibt es eine junge Liebe, die allerdings diesmal hält, die sich in einer Gemeinschaft der Liebenden widerspiegelt. Stärker als in den später erstandenen Akten, werden in der Chronik die politischen Verhältnisse kritisiert, wird die Armut der Bewohner geschildert und die Willkür der Polizei, all diesem kann man nur durch Flucht, durch Auswanderung nach Amerika entgehen. Wieder nimmt mich der Stil, die romantische Ausmalung der Stimmungen und der gesamte Aufbau der Erzählung für Raabe ein. Wie da Erinnerungen mit Schilderungen aus der Gegenwart miteinander verwoben werden, ist meisterlich komponiert. Märchenhaft! Überhaupt hat „Die Chronik der Sperlingsgasse“ viel von einem Märchenbuch. Kommt, setzt euch zu mir, ich erzähl euch etwas, so könnte diese Erzählung beginnen. Das Buch hat wieder einen starken Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bin gespannt auf weitere Werke dieses großen deutschen Erzählers. Wieder einmal: Zwei unterschiedliche Lektüren Also zunächst einmal der neueste Roman von John Grisham. Er heißt „The Street Lawyer“, was mir viel besser gefällt als die deutsche Übersetzung „Der Verrat“. Aber nicht nur deshalb habe ich auch diesen Roman wieder in seiner Originalfassung gelesen. Die Geschichte ist wie immer, da bricht einer aus der Karriere aus, aus der großen Firma und im Kampf zwischen David und Goliath gewinnt dann auch noch David. Wieder viel Sozialkritik, wenig Spannung und Entwicklung. Also nichts Neues von Grisham. Von Tolstoi schon. Da habe ich mir die Erzählung „Die Kosaken“ vorgenommen und bin enttäuscht worden. Zwar eine frühe Erzählung, aber bei weitem noch kein Meisterwerk, schon gar nicht in einem Atemzug mit den wirklich gigantischen Romanen von ihm zu nennen. Die Figuren schwach gezeichnet, die Geschichte nur wenig überzeugend und einzig die Landschaftsschilderung ist sehr gelungen. Und mir ist klar geworden, dass der Konflikt zwischen Tschetschenen und Russen viel älter ist, als ich bisher gedacht hatte. Überhaupt hatte ich einige Male den Eindruck ich lese das russische Pendant des Lederstrumpfes. Aber nun will ich mit dem Mäkeln aufhören und mir ganz schnell viele schöne Lektüre wünschen. Erste Begegnung mit Puschkin Goethes Geburtstag jährt sich zum 250sten Male, Puschkin wurde vor 200 Jahren geboren. Endlich habe ich angefangen, seine Werke zu lesen. Ich begann mit „Eugen Onegin “. Was für ein Werk! Zunächst Hut ab vor dem Übersetzer. Schließlich hat er es fertiggebracht, diesen gedichteten Roman geradezu wundervoll zu übertragen. Eine grandiose Leistung! Doch der Roman selbst. Wie kann man nur so vollendet dichten? Wie ist es möglich, komplizierte Sachverhalte ebenso leicht darzustellen, wie die Landschaftsbilder zu skizzieren und die Charaktere lebendig werden zu lassen. Ein Gedicht! Jetzt weiß ich erst, was der Berliner damit meint, wenn man ihn nach der Qualität irgendeiner Sache fragt und er darauf antwortet, dass es sich dabei um ein Gedicht handele. Die Ironie, der Charme, die unendliche Leichtigkeit der Sprache und gleichzeitig ihre Präzision, ich habe etwas Vergleichbares noch nicht gelesen. Ein großer Rausch durchzog mich, ich war geblendet von der Pracht dieses Meisterwerks, so muss sich Eugen gefühlt haben, als er Tanja nach Jahren wieder trifft. Ich überlegte im ersten Moment, ob ich nicht ein Jubelgedicht auf diesen Versroman verfassen sollte, nur bin ich viel zu stümperhaft, als das ich so etwas könnte. So bleibe ich in Demut still und bescheiden und suche Verse als Lob zu vermeiden. Ich schwor jedoch leichten Herzens, treu und klar, dass dies nicht die letzte Begegnung mit Puschkin war. Gleich die Erzählung „Pique Dame “ angeschlossen! Eine ganz gedrungene Geschichte, die andere Russen sicherlich zu einem mehrere hundert Seiten umfassenden Roman aufgebauscht hätten. Nicht so Puschkin. Er verdichtet, er bleibt an der Geschichte. So erhöht er die Spannung und zwingt zum Lesen. Weiterlesen, nicht aufhören! So rauscht die Erzählung an dir vorbei. Aber sie bleibt dir gleichzeitig gegenwärtig. Die Karten bleiben im Gedächtnis und ist es nicht so, dass ein Rausch einen mitzieht, blind macht und man sich deshalb irrt. Daran irre wird, werden muss! Wie Hermann, der Genieoffizier? Wundervoll, diese Erzählung. Schön, diesen Autor endlich entdeckt zu haben. Weitere Lektüre ist geplant! Ich werde darüber berichten. Ein Spiel und ein Zeitvertreib Als das Buch 1967 erschien, muss es viele Leute sehr schockiert haben. Zumal in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dass dieses Buch, dreißig Jahre später ins Deutsche übertragen, keinen Schock mehr auslöst, verwundert überhaupt nicht. Es ist nichts Besonderes dabei verschiedene Praktiken des Geschlechtsverkehrs darzustellen. Dieses Buch wirkt durch etwas ganz anderes. Es ist die schlichte Geschichte von der Begegnung eines jungen Mannes mit einem jungen Mädchen. Es ist die Schilderung vom Finden, dem Wunsch sich zu binden, zusammen Erfahrungen zu sammeln, groß und erwachsen zu sein und doch noch Suchende zu sein. Es ist der Stil, der besticht. Kurze Sätze. Nie macht der Autor dem Leser etwas vor. Im Gegenteil, der Leser wird ermahnt, alles als das zu nehmen, was es ist: Eine Geschichte, nicht mehr. Ein Erzähler, zwei Hauptpersonen. Sie werden nicht zusammenbleiben. Sie sind lediglich Episodenfiguren im Leben des anderen. Der junge Mann wird nach Amerika zurückkehren und Anne-Marie bleibt in Frankreich. Der junge Mann, Dean, stirbt an den Folgen eines Autounfalls, sie heiratet. Zwei Personen haben Erfahrungen gemacht, sie werden, aneinander denken. Aber die Zeit schreitet voran, ihre Begegnung war ein Spiel und ein Zeitvertreib . Der Titel ist aus einem Satz des Koran entnommen: „Bedenke aber, dass das Leben in dieser Welt nichts ist als ein Spiel und ein Zeitvertreib…“. Ja, darüber lohnt es sich nachzudenken. Mir wird dieser Roman in Erinnerung bleiben, nicht wegen einiger schlüpfriger Seiten, sondern wegen seines Hintergrundes. Wenn das Leben nichts weiter ist, was kommt danach, worauf bereiten wir uns vor? Diesen Roman hat James Salter 1967 geschrieben, erst im letzten Jahr ist der Roman in die deutschen Buchhandlungen gelangt, besser spät als nie. Unwiederbringlich Zuerst die Geschichte nacherzählt: In einer adligen Beziehung kriselt es. Unmerklich entwickeln sich die Eheleute auseinander. Sie, der klügere Teil der Beziehung, sorgt sich um das Seelenheil der Familie, um die Erziehung der Kinder und um den Bau einer neuen Gruft. Er ist mehr an dem Bau seines Schlosses interessiert gewesen, will jetzt Ställe nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft bauen lassen und freut sich, dass er, in einem Nebenjob, als Kammerherr am Hof einer dänischen Prinzessin einige Monate im Jahr Kopenhagen genießen darf. Ein drittes Kind ist nach der Geburt gestorben, vielleicht war dieser Tod der Auslöser für die schleichende Entfremdung, vielleicht hat diese auch andere Ursachen. Unser Kammerherr wird in Kopenhagen eine junge, attraktive Frau kennenlernen, die ebenfalls in Diensten der besagten Prinzessin steht. Ein Flirt beginnt und schließlich gilt für unseren Kammerherrn, reinen Tisch zu machen. Er trennt sich von seiner Gattin, eigentlich verlässt sie ihn. Er will die junge Frau heiraten, doch diese hielt den Flirt für eben einen solchen und gibt dem armen Kerl einen Korb. Nach mehr als einem Jahr söhnt sich das Paar aus und wird vom alten Pastor noch einmal vermählt. Dieses daraus ja möglicherweise entstehende Glück ist jedoch von nur allzu kurzer Dauer. Sie nimmt sich das Leben und er bleibt nunmehr allein zurück. So ist das Leben im Roman. Diesen Roman „Unwiederbringlich“ hat Theodor Fontane geschrieben. Woran lag es, dass ich diesen Roman beinahe verschlungen habe? Ich hatte das Gefühl, vieles von dem schon erlebt zu haben. Ich war betroffen, ich erkannte mich selbst an einigen Stellen wieder. Wie kommt es, dass sich zwei Menschen so voneinander entfernen können? Sie hatten sich doch offensichtlich früher einmal einiges zu geben. Nun sticheln sie nur noch. Nun erkennen sie oder glauben zumindest, die Fallstricke, die der andere legt zu erkennen. Die Böswilligkeit in den Absichten. Das Vertrauen ist dahin, unwiederbringlich. Es muss sich dabei nicht um gesteigerte Religiosität handeln, wie im vorliegenden Falle. Es genügt schon, wenn der Partner das Gefühl hat, man habe sich von ihm irgendwie abgewandt und verwende die Aufmerksamkeit jetzt auf andere Bereiche, schlimmer noch andere Personen. Auch grundlose Eifersucht treibt auseinander. Sie begründet oft erst die Schritte, die dann tatsächlich Anlass zu wirklicher Beunruhigung bieten. So ist eine Spirale konstruiert, die unaufhaltsam nach unten weist. Unwiederbringlich geht Vertrauen verloren, trocknet Liebe aus. Es bleibt ein schaler Geschmack zurück, Unverständnis für den anderen. Manchmal sogar nur noch Hass. Der Mann, oft wie auch in unserem Beispiel, der schwächere Teil, reagiert instinktiv. Er will Lachen um sich, er will Vergnügungen und er will einige seiner Ideen, so verschroben sie auch sein mögen, in die Tat umgesetzt sehen. Er ist bereit viel von dem abzutreten, was ihn nach außen stark erscheinen lässt. Doch er erntet nicht Verständnis, nicht ein wenig Entgegenkommen, sondern nur Kritik. So geht er dem ersten strahlenden Lachen auf dem Leim. So verwechselt er Amüsement mit tieferen Gefühlen, so macht er sich vor, geliebt zu werden, das irdische Paradies gefunden zu haben. Und der Aufprall ist dann sehr heftig. Er ist der Dumme, er steht blöd da. Immerhin war er mutig genug, im vorliegenden Fall, seiner Frau die Situation einzugestehen. Andere an seiner Stelle hätten, hatten, haben diesen Mut nicht und werden ihn nie besitzen. Am Ende dieses Buches steht ein Selbstmord, der nicht einleuchtet. Er passt nicht zu einer frommen Frau. Sie könnte verrückt werden, sie könnte einsam werden und der Mann könnte sich anschicken, sie wieder zu verlassen. Aber sich umbringen, nein. Aber vielleicht ja doch. Wenn die Verzweiflung so groß wird, wenn die Erkenntnis, man werde es nicht schaffen, nicht so sein, wie andere einen gern sähen, zur Gewissheit wird. Vielleicht geht man dann diesen Weg konsequent zu Ende. Ohne Umkehr und unwiederbringlich. Ich ziehe mal ab, was immer man an Fontane kritisieren kann. Seine Art zu erzählen, die feinen Dialoge, die diskrete Weise auf Dinge zuzusteuern, ohne grelle Farben zu verwenden. Das ist gekonnt, nein, das ist mehr, nämlich meisterhaft. Es wäre auch spannend, der Frage nachzugehen, woher er die Erfahrungen für das, was er schreibt nahm. Wahrscheinlich eigene, denn warum soll es dem Manne besser gegangen sein als mir oder all den anderen des vermeintlich so starken Geschlechts. Eine stark erzählte Geschichte, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt, unwiederbringlich. Ein Belfast-Roman Robert McLiam Wilson hat einen Belfast-Roman geschrieben: „Eureka Street, Belfast“. Es ist eine Liebesgeschichte, denn der Autor sagt es mit seinem ersten Romansatz: „Jede Geschichte ist eine Liebesgeschichte.“ Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an Belfast, an schöne Amerikanerinnen und weibliche Bewohner Nordirlands. Eine Ode an die Freundschaft von Männern und Frauen und natürlich eine Liebeshymne. Ich erzähle die Geschichte hier nicht nach, nur so viel: Am Anfang hatte ich kurzzeitig Probleme, der Erzählung des Ich-Erzählers Jake zu folgen. Ich musste mich an den Perspektiv-Wechsel gewöhnen, als Chuckies Geschichte im Mittelpunkt steht. Ich war immer wieder überrascht von der Erzählkunst des Autors und er hat es geschafft, mich zu schockieren als er ein Bombenattentat und dessen Folgen schildert. Ganz unscheinbar kommt er daher und dann platzt die Bombe. Genial! Und erst auf der vorletzten Seite wird klar, mit wem Jake ein Verhältnis hat, fast so als ob in einem Kriminalroman die Morde der vorangegangenen 400 Seiten aufgeklärt würden. Der Mann kann schreiben und immer merkt man ihm an, dass er Belfast liebt, dass er Menschen liebt und noch einmal vierhundert Seiten hätte füllen können. Ein sehr gutes Buch, ein intelligentes obendrein. Ein Autor, den ich mir merken werde! Quitt Der Roman „Quitt“ von Theodor Fontane ist ein gar merkwürdiges Stück Literatur. Irgendwie passt da etwas nicht so ganz zusammen. Einerseits versteht Fontane es meisterhaft, den Hintergrund auszubreiten, der zu dem Geschehnis führt, das im Mittelpunkt der Handlung steht. Es wird einem klar, wie Lehnert Menz (was für ein Name!) zum Mörder von Förster Opitz wird. Wobei ich zögere, das Wort Mörder an dieser Stelle zu benutzen. Schließlich hätte auch Opitz den Menz erschießen können, hätte das Gewehr nicht versagt. Gleichviel, dieser Teil, bis zum tödlichen Schuss, ist schlüssig. Man merkt Fontane an, dass er die Gegend gut kannte, dass er die Leute vor Augen hatte und auch dass er die Touristen kannte, die, wie er, ins Riesengebirge in die Sommerfrische reisten. Dann kommt ein zweiter Teil der Erzählung, der in den Vereinigten Staaten spielt und der sehr gedehnt erscheint, der nicht so richtig komponiert erscheint, wie sonst das Werk des märkischen Dichters. Auch ist das Ende von Lehnert ein wenig zu schicksalhaft als das es echt sein kann. Der geschickte Bergsteiger, der gewandte Wanderer kugelt sich auf einem Geröllfeld die Hüfte aus. Nein, das ist denn doch zu stark aufgetragen. Und er stirbt wie Opitz, vielleicht noch ein wenig grandioser. Und mit eigenem Blut schreibt er, dass er hoffe, man sei nun quitt. Nein, das ist denn doch zu triefend! Ein dritter Teil des Romans, der nicht ausgearbeitet worden ist, der auch immer so sich mit hinzieht ist die Geschichte der Familie Espe. Hier schien es mir, als ob Fontane lange daran gedacht hat, aus der Geschichte eine eigenständige Erzählung zu bilden und dann doch darauf verzichtete. Nun hängt dieser Strang in der Luft. Ziemlich merkwürdig und so ausgesprochen unfertig. Gleichwohl habe ich auch diese Geschichte gern gelesen, denn sie enthält auf der anderen Seite doch einige kluge Gedanken und schöne, sehr liebevolle Landschaftsschilderungen. So etwas macht Fontane so schnell niemand nach. Ein wenig blutleer ist der Roman, ein wenig bieder, aber eben doch von Fontane. Die Rückkehr Auch dieses Büchlein von Joseph Conrad liegt schon lange in meinem Bücherschrank. Jetzt habe ich es gelesen. Mit Gewinn will ich gleich anfügen. Eine Frau hat ihrem Mann einen Abschiedsbrief hinterlassen, sie will zu einem anderen. Der Mann ist verzweifelt, auch über die Tatsache des Verlassenseins, mehr aber noch über die Gedanken, die er sich um den gesellschaftlichen Skandal macht. Die Frau kehrt jedoch schon wenig später zurück – die Rückkehr! Sie ist nicht zu dem anderen Mann gegangen. Die Vorhaltungen beginnen jetzt. Die ganze Verletzung des Mannes wird sichtbar. Man einigt sich, den Schein zu wahren, was aber nicht gelingt, nicht gelingen kann. Zu tief ist die Verletzung, zu groß das Misstrauen. Am Ende der Erzählung geht der Mann und kehrte nie zurück. Stark ist die Erzählung, weil Conrad ständig die Gefühle des Mannes schildert, man nimmt an dem inneren Dialog des Mannes teil. Das ist aufregend, obwohl sonst nicht viel passiert. Ich werde Conrads größere Werke lesen, um ihn dann würdigen und einordnen zu können. Der Anfang war jedenfalls vielversprechend.   Stine

Ein kleiner Roman von Theodor Fontane, eher eine Erzählung. Ein junger kranker Adliger verliebt sich in die Schwester der Liebschaft seines Onkels. Er will dieses junge Mädchen heiraten, aber das realistische Mädchen Ernestine oder kurz Stine, versagt sich ihm. Dem Enttäuschten bleibt kein anderer Ausweg als sich aus dem Leben zu verabschieden.

Diese Erzählung wirkt auf mich reichlich konstruiert und sehr flüchtig. Sie ist sicherlich nicht das was man von Fontane gelesen haben muss. Aber an einigen Stellen schimmert der große Erzähler durch und vor allem der liebevolle Gestalter von Frauenfiguren. Stine ist eine davon.

Seemannsgarn

Ich habe schon von den Büchern des Schriftstellers Patrick O’Brian berichtet. Nun habe ich den zweiten Teil seiner vielbändigen Geschichte der Freundschaft zwischen dem Kapitän Jack Aubrey und dem Arzt Stephen Maturin gelesen. Diesmal an der Ostsee. Wieder kann ich nur feststellen, dass die Romane dieses Autors mehr sind als nur Seemannsgarn. Die Verhaltensweisen der Menschen werden ausgeleuchtet, ja es wird philosophiert und trotzdem bleibt es spannend. Die Spannung wird nicht aufgebaut, sondern sie kommt manchmal ganz plötzlich, unvorhergesehen. So wie im wirklichen Leben. Eben noch wiegt man sich in Sicherheit und dann kommt es ganz dick.

„Das Leben ist eine Krankheit zum Tode, und die letzten Jahre sind entsetzlich: Kräfteverfall, Steinleiden, rheumatische Schmerzen, Nachlassen der Sinne, Verlust der Freunde, der Familie, des Berufs – ein Mann kann nur um Schwachsinn beten oder um ein Herz aus Stein. Alle sind zum Tode verurteilt, oft zu einem schändlichen, meist zu einem schmerzhaften Tode. Und dann dieser unglaubliche Leichtsinn, mit dem die winzige Chance auf Glück verspielt wird: aus Eifersucht, schlechte Laune, Verbohrtheit, Eitelkeit oder falschem Ehrgefühl, diesem albernen, nichtswürdigen, tödlichen Motiv.“

Solche Sätze heben das Buch heraus aus einfacher Abenteuerliteratur. Aber dennoch als Ferienlektüre hoch geeignet. Der zweite Roman heißt in der deutschen Übersetzung „Feindliche Segel“.

Cécile

Von allen Frauengestalten Fontanes ist Cécile mir am entferntesten. Was will diese Frau eigentlich? Sie ist jung, offensichtlich schön und hat als Geliebte erst einem alten Adligen angehangen und dann dessen jungen, aber kranken Nachfolger. Beider Tod hat sie vermögend gemacht und dann hat sie in die Heirat mit einem nicht mehr jungen Offizier eingewilligt. Dieser hat sich für sie in einem Duell geschlagen, sein Leben gewonnen, aber die Zugehörigkeit zur Armee verloren. Das alles hat die gute Cécile so mitgenommen, dass sie ihre angeschlagenen Nerven im Harz zu erholen trachtet.

Dort lernen sie und ihr Ehemann den jungen Ingenieur Gordon kennen. Natürlich verliebt dieser sich in die Schöne. Sie macht ihm aber klar, dass zwischen ihnen nie etwas anderes als eine freundschaftliche Beziehung bestehen könne. Der gute Mann ist einverstanden, erfährt aber von dem Vorleben der Frau, will nun doch mehr und als er sie zufällig in der Oper mit einem anderen entdeckt, wird er eifersüchtig. Sein Benehmen ruft den Ehemann auf den Plan, der den guten Ruf seiner Gattin in Gefahr gebracht sieht, soweit dieser in der Gesellschaft überhaupt vorhanden ist. Das fällige Duell entscheidet der Ehemann für sich. Gordon stirbt, Cécile folgt ihm nur wenige Tage später nach.

So schaurig, so antiquiert kann Theodor Fontane sein. Und hätte ich diesen Roman eher gelesen, hätte ich mein Vorhaben, das nun bald vollbracht ist, das gesamte Werk Fontanes gelesen zu haben (mit Ausnahme der Wanderungen und seiner Lebenserinnerungen – jedenfalls im Moment nicht), wohl gleich wieder aufgegeben. Was mir von diesem Roman bleiben wird, ist das Foto auf dem Umschlag der Aufbau Verlagsausgabe. Eine Photographie einer bildschönen jungen Frau! Sie ist nie im Leben Cécile!

Rauch

Ich habe Iwan Turgenjews Roman „Rauch“ gelesen. Nein, nicht eigentlich gelesen, mehr verschlungen. Denn mir hat dieser Roman fast von der ersten Seite an gefallen. Ich fand es spannend und wollte wissen, wie es weitergeht.

Ein junger Russe kommt nach Baden-Baden, um sich mit seiner Verlobten zu treffen. Dort begegnet er zunächst einer großen Anzahl Landsleuten, die alle an ihrem Land leiden, die es verändert sehen mögen, ohne selbst die Kraft zur Veränderung zu besitzen. Sie langweilen sich, sie philosophieren über alles, sie räsonieren, nur anpacken und tatkräftig verändern können und wollen sie nichts.

Dann läuft ihm seine erste Liebe über den Weg, sie bittet um ein Treffen und er erliegt fast augenblicklich ihrer Anziehungskraft. Sie hatte ihn Jahre zuvor verlassen und wird ihm nun von dem zu kosten geben, was noch alle Männer zum Verzeihen und zu Liebesschwüren geführt hat. Sie ist mit einem General verheiratet, aber erklärt sich bereit mit ihrem Geliebten zu fliehen. Dieser eröffnet der inzwischen angereisten Braut seine Situation und will mit seiner angebeteten Herzensdame in ein neues Leben aufbrechen. Allein, sie will nicht, kann nicht. Es ist unklar, ob alles für sie nur ein Spiel, ein Zeitvertreib war oder, ob ihre Skrupel denn doch zu groß waren.

Unser junger Held reist allein und genauso betrübt ab, wie seine Entlobte.

Jahre später kommt es, Turgenjew sei Dank, zu Versöhnung und nun wird wohl doch noch geheiratet werden können.

Was mir diesen Roman so lesenswert macht, ist die Schilderung der Russen im Ausland. Ihr Verhalten der Obrigkeit gegenüber, ihre Charakterisierung als wenig entscheidungsfreudiges und tatkräftiges Volk, das sich nur allzu gern gängeln lässt. Das ist so aktuell und gibt einem geradezu den Schlüssel zum Verständnis vieler Vorgänge im heutigen Russland. Was mir diesen Roman so über allen Maßen liebenswert macht, ist die genaue Beschreibung der Gefühle des jungen Litwinow, so heißt der Held; seine Zerrissenheit, seine Skrupel, sein sich Verlieren und seine Gefangenschaft in einer selbst gebauten Falle. Das ist meisterhaft beschrieben, weil ebenso beobachtet, ob an sich selber oder an anderen.

Wieder hat sich meine Vorliebe für russische Literatur bestätigt. Ich freue mich auf weitere Werke.

Ellernklipp

Theodor Fontane beschreibt in dieser schmalen Erzählung das Schicksal dreier Menschen. Vater und Sohn lieben die gleiche Frau. Der Sohn wird bei einem Gerangel in eine Schlucht gestürzt, eben von jener Klippe – Ellernklipp -, oder stürzt er nicht eigentlich ohne fremdes Zutun? Der Vater wird die Frau, seine Adoptivtochter ehelichen, aber einige Zeit später sich erschießen. Seine Frau kurze Zeit danach sterben.

Fontane packt viel in diese Geschichte hinein. Sein Spleen, den Handelnden komische Namen zu geben, seine Vorliebe für Spukgeschichten, seine Kunst, Orte und Personen sehr genau zu beschreiben.

So entsteht eine dicht erzählte Geschichte, deren Handlung vorgezeichnet ist, wenn man Fontane kennt. Deren Erzählweise fasziniert und bindet und erst wieder loslässt, wenn die Erzählung beendet ist.

Mehr ist über dieses Büchlein nicht zu sagen, allenfalls noch, dass die Gestalt der jungen Frau Hilde eine weitere große Frauenperson in der Fontanschen Sammlung darstellt.

Die Prozedur

Manche Bücher beginnen ganz unheimlich schnell den Leser einzufangen, um ihn dann abrupt wieder fallen zu lassen. Andere schaffen es, dich von der ersten Seite an sich zu binden und dich nicht einmal loszulassen, wenn die letzte Seite längst umgeblättert wurde. Dann gibt es noch Bücher, da quält man sich durch einen gar scheußlich langweiligen oder langatmigen Beginn und plötzlich tut sich die ganze Schönheit einer neuen Welt vor einem auf. Es gibt natürlich auch Bücher, die sind von der ersten bis zur letzten Seite schlicht unerträglich, aber solche Bücher lese ich nicht.

Warum diese langatmige Einführung? Weil ich erklären will, warum mir der Roman von Harry Mulisch „Die Prozedur“ so gefallen hat, obwohl er geradezu unverdaulich daherkommt. Obwohl man fast so weit ist, das gute Stück in die nächste Ecke zu pfeffern und zu hoffen, dass ganz schnell Gras darüber wachsen werde. Der Autor hat das selbst gemerkt und sagt zu Beginn des zweiten Kapitels, dass es geschafft sei, man sei nun unter sich. Ein Autor schreibt gegen seine Leser!

Was für ein Roman! Die Geschichte ist nur denkbar mit unserem heutigen Wissen über Klonierung, über biochemische Vorgänge im Prozess der Entstehung von Leben. Eine Geschichte, so prall gefüllt, so wundervoll erzählt, dass ich gespannt darauf bin, wann Mulisch den Literaturnobelpreis zuerkannt bekommen wird. Nur eine fürchterliche Macke hat der Roman. Das ist sein Ende. Das Ende des Helden. kafaesk, was nicht zufällig so ist. Schließlich erinnert schon der Titel an Kafkas Roman „Der Prozess“. Ende schlecht, aber sonst meisterhaft. Ein neuer Geniestreich unseres holländischen Nachbarn.

Vor dem Sturm

Es drängt sich ein Vergleich auf. So wie Leo Tolstoi den Untergang der französischen Armee in Russland beschrieben, ein Schlachtengemälde erstellt hat mit unglaublich vielen Farben und Schattierungen, so hat Theodor Fontane die Stimmung in der Zeit vor dem Beginn des Befreiungskrieges gegen Napoleon in Preußen eingefangen und so ausführlich ausgemalt, dass ich mit noch größerer Achtung vor dem Werk dieses wohl immer noch unterschätzten Autors stehe.

Eine Fülle von Figuren wird uns vorgestellt, wie in „Krieg und Frieden“, einige wären sicherlich entbehrlich gewesen, aber es macht nichts. Geschichten werden erzählt, die sich teilweise noch ausgeschmückter auch in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg wiederfinden. Doch das ist unerheblich. Es wird manchmal auch viel über Nebensächliches geschwätzt, doch das ist ohne Belang. Es fügt sich alles zusammen, man muss Geduld haben, sich auf diese epische Erzählweise einlassen und sich hineinziehen lassen in die Geschichte.

Was dann passiert, ist einfach ein sehr schönes Leseerlebnis. Am Ende haben sich zwei Menschen gefunden, ist Preußen wieder selbständig und leider Renate tot. Sie hätte ein besseres Schicksal verdient. Wer mehr wissen will, muss selber lesen. Nacherzählt wird hier nicht!

Der Roman „Vor dem Sturm“ ist meines Erachtens Fontanes bester. Ich bin begeistert, und traurig, dass ich dieses wunderbare Werk nicht schon eher entdeckt habe.

Fluchtstücke

Ich habe ein Buch gelesen und es fiel mir schwer, es zu lesen, es durchzulesen, es zu beenden. Ich habe gewürgt, es hat Brechreiz verursacht. Es hat mich an einigen Stellen gefesselt, aber meistens hat es mich abgestoßen, mich angewidert.

Ein Junge, Jakob, erlebt die Ermordung seiner Eltern durch die Nazis mit. Er kann fliehen. Seine Schwester vielleicht auch; er wird sie sein Leben lang suchen. Er wird von einem griechischen Archäologen gefunden und in dessen Heimat geschmuggelt. Gemeinsam mit diesem Athos gelangt Jakob nach Kriegsende nach Kanada. Das Leben Jakobs wird vor uns aufgeblättert, seine erste unglücklich verlaufende Ehe und seine große Liebe zu einer jüngeren Frau, der es gelingt, Jakob die Alpträume, die ihn seit seinen traumatischen Erlebnissen begleiten, zu entreißen.

Dann ein Bruch und das Buch berichtet von Ben, einem anderen Opfer der Nazis. Er kennt auch Jakob, er wird später, als Jakob tot ist, dessen Haus in Griechenland nach dessen Tagebüchern durchsuchen. Er wird dort auch ein erotisches Abenteuer erleben, aber für mich bleibt es ein Bruch.

Das Buch heißt „Fluchtstücke“, es ist von der Kanadierin Anne Michaels geschrieben, die „Creative Writing“ an der Universität in Toronto unterrichtet. Das Buch hätte besser Bruchstücke heißen sollen. Dass diese Autorin das oben genannte Fach unterrichtet, wird in vielen Sätzen und Absätzen des Romans deutlich. Beispiel: “Meine Begierde war eine raue Metallkante, die unter dem grellen Lichteinschlag plötzlich glatt wurde.“

Ja, so ist dieses Buch. Es konfrontiert mich mit der Schuld meiner Landsleute, es ist grausam, aber leider unehrlich, verlogen, plakativ und deshalb zum ….

Grete Minde

Das ist also Fontanes zweites Werk. Eine Novelle über eine Verzweiflungstat. Der Autor mag die Täterin, sie ist eher ein Opfer. Alles, was spätere Bücher von ihm auch haben, ist hier bereits angesammelt. Scheinbar überflüssige Beschreibungen, klare Vergabe seiner Sympathie und auch seiner Abneigung. Diese Geschichte ist schlank, aber auf dem Punkt zugespitzt. Seine latent geführte Diskussion über die richtige Religion (katholisch oder evangelisch) bricht hier bereits auf. Und ich vermag nicht zu sagen, ob der Autor nicht doch eine deutliche Leidenschaft für das katholische gefasst hat und es im eigenen Leben sich nur nie getraut hat, den Schritt zu vollziehen. Schön wie er zärtlich die Regungen junger Liebender beschreibt. Alles bleibt korrekt, keine Anzüglichkeit, der Leser muss sich seinen Teil denken. Theodor Fontane hat so viele sympathische Frauengestalten geschaffen, Grete Minde ist eine von ihnen.

Die schwarzen Vögel

So heißt ein Roman von Maarten’t Hart. Es gibt diese Romane, die man einfach liest, ohne Luft zu holen, weil man eingetaucht ist in eine Geschichte und nicht an die Oberfläche zurückkommen möchte, bevor nicht die letzte Seite umgeblättert worden ist. „Die schwarzen Vögel“ ist so ein Roman: Thomas hat in der Woche, die Leonie bei ihrer Mutter verbringt, seine Bekanntschaft zu Jenny intensiviert. Er zieht mit ihr durch die Kneipen, er darf sie küssen, aber sie will nicht mit ihm ins Bett. Dann taucht die Polizei auf und sucht nach der verschwundenen Jenny. Thomas ist der letzte mit dem sie gesehen wurde. Jenny wird tot sein, Thomas ihr Mörder. Leonie glaubt das nicht. Sie glaubt nicht, dass eine Leiche von Ratten spurlos beseitigt werden kann, selbst wenn die Ratten mehrere Tage auf Diät gesetzt worden waren. Thomas ist Pharmakologe, Versuche mit Ratten gehören zu seinem Beruf. Thomas muss in Untersuchungshaft, weil es einen Kronzeugen gibt, der gesehen hat, wie Thomas Jenny in das Laborgebäude gezogen hat und allein, viele Stunden später, wieder herauskam. Die Sachen von Jenny finden sich im Laborgebäude und Leonie erfährt viel über das Leben von Jenny, über ihre Ehe mit Thomas, die kinderlos bleiben wird; sie erfährt viel über das Leben, das doch mehr ist als der vorübergehende Aufenthalt eines Sonnenstrahls auf seinem Weg ins Weltall.

Was nun wirklich passiert ist, wird natürlich hier nicht verraten. Nur so viel, es ist ein spannendes Buch. Literarisch nicht auf dem allerhöchsten Niveau, aber so ungemein unterhaltend. Das ist sehr, sehr viel!

Pfisters Mühle

Ein Sommeridyll wird beschrieben. Ein junges Glück dazu. Der junge Mann zeigt seiner frisch angetrauten die Stätten seiner Kindheit und Jugend. Er ist der Sohn des Müllers. Hier hat der Müller ein gutgehendes Ausflugslokal betrieben, hier kamen alle gern hin, um die Stadtluft zu vergessen und unter den schattenspendenden Bäumen zu trinken, zu reden und sich die Zukunft schön zu denken. Der junge Pfister ist Lehrer geworden und lebt nun in Berlin, seine Mutter ist früh gestorben, sein Vater erst vor kurzem. Es wird der letzte Besuch in der Mühle sein, denn sie wird abgerissen, sie weicht dem industriellen Fortschritt.

Ihm ist auch der Vater gewichen. Sein Mühlbach fing an zu stinken. Am oberen Wasserlauf hatte sich eine Zuckerfabrik angesiedelt und während der Kampagne wurde das Abwasser in den Bach geleitet. Es wird vom Fischsterben berichtet und von dem Gestank, der die Gäste vergrault, die Menschen an Leib und Seele krank macht und schließlich zur Aufgabe zwingt. Zwar gelingt es mit Hilfe des ehemaligen Mentors des Sohnes einen Prozess zu führen und zu gewinnen, aber der alte Pfister ist zerbrochen, seine Welt hat sich in Gestank zersetzt.

„Pfisters Mühle“ heißt dieses „Sommerferienheft“ von Wilhelm Raabe. Es ist eine bezaubernde Erzählung, die hundert Jahre alt ist, aber durch die die hässliche Fratze des Industriezeitalters bereits hindurchscheint.

Kerrs Berliner Briefe II

Nun ist der zweite Band der Berliner Briefe vor einiger Zeit erschienen und ich habe ihn ebenso wie den ersten mit großem Vergnügen gelesen. Nicht nur Vergnügen, auch Respekt, auch Bewunderung. Der Mann konnte schreiben!

Wie er über Venedig, über Chioggia schreibt! Wie er seine Amouren aufblättert, wie er mit seinem Herzeleid umgeht! Und dann die Beschreibung des Besuchs bei jener jungen Venezianerin, die ihn in die italienische Sprache eingeführt hatte. Das ist ein Stück Poesie, da schwingt alles mit, was eine romantische Seele zu bieten in der Lage ist.

Der Mann kann polemisieren und auch verletzen. Seine Feder ist spitz und scharf. Er prangert den genusssüchtigen, größenwahnsinnigen Kaiser an. Aber bei Alfred Kerr funkelt manchmal auch etwas Wilhelminisches durch. Hass und Liebe können manchmal sehr dicht beieinander liegen.

Zumindest ist klar, dass Kerr seinen Wert kannte, schon in jenen noch jungen Jahren. Das ist ihm nicht vorzuwerfen. Und wo er Konkurrenz witterte, da ist er auf der Hut, da schlägt er zu. Man siehe das Beispiel Maximilian Harden.

Aber dies ist jetzt keine kleinkrämerische Nörgelei an diesem Mann. Es ist nur der Versuch, einer objektiven Betrachtung.

Die Briefe sind ein faszinierendes Zeugnis des Lebens vor hundert Jahren. Sie sind so unglaublich aktuell. Sie passen so hervorragend in diese verrückte Zeit, wo alle von den bevorstehenden Ereignissen (ich sage nur „Millennium“!) faseln. Man mag sich ja die Zeit noch so schnell reden, viele Dinge bleiben viel länger auf der Tagesordnung als uns Menschen lieb sein kann.

Die Glut

Ich habe schon wiederholt darüber berichtet, dass ich zwar das „Literarische Quartett“, eine Literatur Talkshow des Fernsehens, gern sehe, aber auf das Urteil der dort versammelten Kritiker nicht viel gebe. Nun haben die vor einiger Zeit ein Buch eines ungarischen Autors, Sándor Márai[i], allesamt derartig gelobt, dass ich nicht umhinkam, diesen Roman, „Die Glut“, zu lesen.

Ein alter KuK-General empfängt einen Besucher, auf den er einundvierzig Jahre gewartet hat. Man isst und der General monologisiert. Es geht um die Wahrheit, es geht um die Aufdeckung eines Vorgangs, der eben genau diese einundvierzig Jahre zurückliegt.

Der Besucher ist der Freund des Alten. Gemeinsam haben sie in der Kadettenanstalt den Drill über sich ergehen lassen. Sie haben alles geteilt, sie waren wie Brüder. Dann tritt eine Frau in ihr Leben, die der Freund schon lange kennt, die der General heiraten wird. Man lebt weiter zusammen, man verbringt die Zeit nun zu dritt. Bei einer Jagd aber wird dem General klar, dass sein Freund ihn umbringen will oder zumindest einen Moment mit dem Gedanken spielte, ihn zu ermorden. Als er ihn am nächsten Tag in dessen Wohnung aufsuchen will, um über den Vorfall zu sprechen, ist der Freund abgereist. In der Wohnung taucht die Frau des Generals auf und es wird klar, dass sie nicht zum ersten Mal in der Wohnung weilt. Von da an werden sich die Eheleute nicht mehr wiedersehen. Acht Jahre später ist die Frau gestorben, weitere dreiunddreißig Jahre später kehrt der Freund für einen Abend zurück. Er antwortet nicht auf die Fragen, die ihn der alte General stellt, und am Ende bleibt der Alte zurück. Er wird nicht erfahren, ob sein Freund ihn umbringen wollte und nicht, ob seine Frau sogar von der Absicht wusste.

Dieser Roman ist in einer wunderbaren dichten Sprache verfasst. Er hält die Spannung, er legt das Leben von drei Menschen offen. Er tut dies sachlich, kühl, aber nie distanziert. In einer so wunderbaren Weise kommen vielleicht nur die Romane von Joseph Roth daher. Kakanien lebt dabei auf, die Klaviermusik Chopins wird hörbar, die Polyphonie dieses Reiches, wo Csárdás und Walzer durcheinander klingen. Ein großes Buch und ein Autor, dessen Name mir bisher unbekannt war, haben sich einen festen Platz in meinem Gedächtnis erobert!

Die Zelle

Ich habe die Lektüre eines beeindruckenden Buches beendet, ohne dass ich jetzt jedermann raten könnte, es mir nun gleich zu tun und den Roman von Anatoli Asolski „Die Zelle“ zu lesen.

Das Buch ist die faszinierende Schilderung des Lebens in der Ära Stalins. Der Wahnsinn galoppiert durch das Buch. Der Wahnsinn der Häscher und irgendwann auch derjenige der Gejagten. Man versteht besser, warum dieses riesige Land, diese Sowjetunion, derartige Schwierigkeiten hatte sich zu etablieren und den Menschen eine lebenswerte Existenz zu garantieren. Der Autor durfte fünfundzwanzig Jahre lang in seiner Heimat nichts publizieren. Er musste schweigen, sein Roman ist eine schreiende Anklage gegen die Unfähigkeit des Stalinismus, demokratische Verhältnisse herzustellen. Ich möchte an dieser Stelle gern den Klappentext sprechen lassen:

„Was, wenn Francis Crick und James Watson in der Sowjetunion zur Welt gekommen wären? Oder wenn sie dort tatsächlich zur Welt kamen:

Denn Iwan und Klim, zwei junge Russen, fanden das Geheimnis der DNS schon Jahre früher- nur dass keiner je davon erfuhr. Anatoli Asolski erzählt die tragische, fesselnde Lebensgeschichte zweier ungleicher, hochbegabter junger Männer in den dreißiger bis fünfziger Jahren: Der eine stark, frech, spielsüchtig, Held und Rächer; der andere dem Leben fremd, von Wahn und Neurose bedrohtes Genie. Die beiden sind besessen zu ergründen, welche biologische Keimform der menschlichen Individualität zugrunde liegt und für Wiederholung und Reproduktion sorgt:

Verheißung des Neuen und dessen Verhinderung zugleich, irgendwo in den Tiefen der Zelle … irgendwo im Riesenschattenreich Sowjetunion.

Ganz auf sich gestellt, immer auf der Flucht vor den Häschern des NKWD, geistern sie zwischen Memel, Schwarzmeer und tiefem Sibirien umher; finden nirgends Ruhe. Hoffnung gibt es nicht; moralische Integrität lässt sich nur in einem Schattendasein bewahren, Freiheit nur durch Aufgabe einer zivilen Existenz behaupten.

»Die Zelle« ist eine Chiffre menschlicher Selbstbehauptung im 20.Jahrhundert.“

Dem ist fast nichts hinzuzufügen; nur es ist anstrengend, diesen Roman zu lesen und einige Male fragte ich mich, wer sich denn nun wieder hinter dem einen oder anderen Namen verborgen hielt. Doch spannend und unterhaltsam ist dieser Roman allemal.

Ein Hoch der Liebe

Ich bin auf besondere Weise auf dieses Buch aufmerksam geworden. Eine Kollegin hatte dieses Buch bei sich, als ich gemeinsam mit weiteren Kollegen in der Kantine saß. Eine andere Kollegin erkannte das Buch und schwärmte mir sofort davon vor. „Du musst das lesen!“, sagte sie mir.

Ich tat es. Ich habe es nicht bereut.

Connie Palmen ist eine holländische Autorin, die mit ihrem ersten Roman sehr erfolgreich war; nicht nur in den Niederlanden. Sie wurde in eine berühmte Show eingeladen, die ein in Holland offenbar sehr bekannter Moderator leitete. Ischa Meijer (I. M.) heißt er, genauer hieß er, denn er ist 1995 gestorben. Vier Jahre nach dem Beginn der Bekanntschaft der beiden; was sage ich Bekanntschaft, der Liebe dieser beiden. Einer grenzenlosen Liebe, einem Ereignis, das sich wohl jeder Mensch für sein eigenes Leben wünscht, ersehnt, erträumt, erhofft.

Nach vier Jahren reißt der Tod diese Menschen auseinander. Frau Palmen kann diese Zeit nur verarbeiten, indem sie dieses Buch schreibt, indem sie die vier Jahre grenzenlosen, bodenlosen Glücks nachzeichnet. Und ich muss sagen, dass es mich mit Begeisterung aber auch mit Neid erfüllt hat. Begeisterung über die Art der Aufzeichnung, schonungslos, ganz nah am Menschen, damit sehr intim und für Verletzungen anfällig. Neid, weil ich eine derartige Liebe (sagt man amour fou?) – noch – nicht erlebt habe.

Es zerschmettert einen förmlich, wenn I. M. am Tage seines Geburtstages an einem Herzinfarkt stirbt. Es ist unglaublich mit welcher Intensität die Autorin bis zur letzten Seite dieses Berichtes nacherzählt, Stimmungen und Gefühle schildert und immer wieder von dieser fassungslosen Mächtigkeit einer Liebe jubilieren kann.

Ein Buch! Was für ein gewaltiges Buch!

Ein Roman von John Irving

Ich bin schon seit längerer Zeit skeptisch, wenn mir Leute, auch solche, deren Urteil ich durchaus schätze, mir einen Bestseller empfehlen. Aber dann sage ich mir, etwas weniger Voreingenommenheit tut mir sowieso gut und dann lese ich los. So hatte ich mir den Roman von John Irving „Witwe für ein Jahr“ zum Geburtstag gewünscht und ihn nun gelesen. Stolze 760 Seiten!

Ein Schriftsteller schreibt über Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ein sechszehnjähriger erhält einen Ferienjob als „Schriftstellerassistent“ bei einem sehr bekannten Kinderbuchautor. Der braucht aber nur einen Chauffeur, weil er selbst zum zweiten Male seinen Führerschein wegen Alkoholmissbrauchs abgeben musste. Eddie, der Junge, wird sich in Marion, die bildschöne Frau des Autors verlieben, wird von ihr in die Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeführt und wird diese Frau immer weiter lieben. Marion hat den Unfalltod ihrer beiden Söhne nicht verwunden, die kleine Tochter Ruth ist kein Ersatz. Da der Kinderbuchautor mehr mit seinem Ruhm und dem Verführen junger Mütter beschäftigt ist, verlässt Marion Mann und Tochter und auch Eddie.

Sie nimmt alle Bilder ihrer Söhne mit, die im Hause an den Wänden hingen, und entzieht damit Ruth eine wichtige Ebene. Ruth kannte alle Geschichten über die Photographien auswendig, nun wird sie selbst Geschichten erfinden müssen. Sie wird eine berühmte Bestsellerautorin. Eddie wird Autor von Romanen, die immer wieder seine Ferienzeit mit Marion reflektieren. Marion wird ihren Verlust als Schriftstellerin von Kriminalromanen, deren Heldin sie selbst ist, zu verarbeiten versuchen. Ted, der Kinderbuchautor, hat das Schreiben aufgegeben und widmet sich nur noch den Müttern. Am Ende nach fünfunddreißig Jahren und vielen Wirren, einem Mord, einem Selbstmord, einer Heirat, dem Tod des Gatten von Ruth und einer erneuten Heirat, wird Marion zu Eddie zurückkehren. Sie nun hoch in den siebzig, er über fünfzig. Ende.

Es wird in diesem Buch gevögelt, dass einem die Lust vergeht. Es werden Klischees bedient und alles ist so schrecklich konstruiert. Das angenehmste, was ich von diesem Roman sagen kann, ist, dass er sich sehr leicht liest, man gleitet durch die Seiten und unterhält sich, wenn man sich unterhalten will. Wenn man mehr will, dann sollte man die Finger von diesem Buch lassen. Weiter bringt es einen nicht!

Die Dämonen

Vor einem halben Jahr etwa habe ich in der Volksbühne in Ostberlin eine dramatisierte Fassung von Dostojewskis[ii] Dämonen gesehen. Ich konnte mit der Inszenierung nicht viel anfangen, weil ich das Stück nicht durchdrang. Ich beschloss, den Roman zu lesen und anschließend noch einmal das Theater zu besuchen. Jetzt habe ich den Roman gelesen. Ich habe mich durch das Stück gebissen. Es war zäh, manchmal musste man kräftig beißen, aber ich habe es nicht ungern getan. Dies sei vorausgeschickt.

Im Nachwort meiner Romanausgabe findet sich folgender Absatz: “Der angemessene Zugang zu den Dämonen wird des Weiteren dadurch erschwert, dass hier ungewöhnlich hohe Anforderungen an die Rezeptionsfähigkeit des Lesers gestellt werden. Nicht nur sind die Inhalte von einer verwirrenden Vielfalt und Mehrschichtigkeit; die Art der Darbietung ist zudem mit der gezielten Unterschlagung aller Übersichtlichkeit ganz und gar darauf angelegt, den Leser zu überwältigen, ihn gleichsam zu überfluten.“

Wohl wahr möchte man ausrufen. Schließlich zeigt der Roman zum Beispiel keine eigentliche Hauptfigur. Er entwickelt sehr schön einige Charaktere. Doch für wen immer man sich entscheiden mag, es könnte ebenso eine andere Figur die zentrale Rolle übernehmen.

Sicher ist nur, dass ein außergewöhnlich präzises Bild des Russlands um 1875 gezeigt wird. Wir befinden uns schon am Vorabend der Revolution. Wir bewegen uns im Anarchistenmilieu, wir bekommen einen Einblick in die russische Seele, die offenbar ebenso tief, wie das Land weit ist. Gelten Sätze noch heute, die davon sprechen, dass die Russen niemals arbeiten werden.

„Zudem ist Russland ein viel zu großes Chaos, als dass wir es allein, ohne die Deutschen und ohne Arbeit entwirren könnten.“ Gilt so ein Satz am Tage, da in Russland ein neuer Präsident gewählt wurde noch genauso wie vor hundertfünfundzwanzig Jahren?

Das Buch zeichnet sich durch seinen besonderen Erzählstil aus. Der Erzähler weiß nicht mehr als wir oder nicht sehr viel mehr, obwohl er alles erst aufschreibt, als die Geschichte schon auf tragischen Höhen geendet hat. Er ist nicht bei jedem Gespräch dabei und doch tut er manchmal so. Das Buch, wie gesagt hat keinen Helden, keinen strahlenden jedenfalls. Das Buch bringt aber sehr viel Personal ins Spiel und es gelingt dem Autor, mit allen zu jonglieren. Keine Person taucht auf und fällt dann ins Nichts. Alle Schicksale werden begleitet bis zu ihren zum großen Teil bitteren Enden.

In der Person des Pjotr Stepanowitsch ist Fjodor Dostojewski ein beeindruckendes Bildnis eines Volksverführers, eines Intriganten, eines frühen Apparatschiks gelungen. In der Darstellung des Vaters von Pjotr, eine Witzfigur eines intellektuellen Müßiggängers, eines liberalen Gecken, der erst in seiner Todesstunde Mitleid beim Leser auslöst. Zu spät!

So könnte man weiter die Figuren beleuchten und sich der Flut dieses Romans aussetzen. So könnte man den wahnsinnigen Versuch unternehmen, den Inhalt nachzuerzählen. So könnte man es auch bleiben lasen und schlicht feststellen, dass es ein wahres Stück Weltliteratur ist. Man muss sich die Dämonen allerdings erschließen, man muss an ihnen Arbeit verrichten. Dann geben sie ihre Tiefen preis und ein wahrer russischer Kosmos öffnet sich.

Lektüre auf Reisen genossen

Gerade beendet habe ich den Roman „Washington Square“ von Henry James. Vorweg: Mich hat der elegante Stil sofort beeindruckt und ich war gefesselt. Nicht von der Geschichte an sich, die ist eher läppisch.

Ein Vater hält erfolgreich seine Tochter von einer Heirat mit einem Mitgiftjäger ab. Gefesselt war ich davon, wie man es schaffen kann 250 Seiten zu diesem Thema zu schreiben, ohne zu langweilen; wie man es fertigbringt, die Geschichte in der Schwebe zu halten. Denn vielleicht war der junge Mann so schlimm ja auch nicht, vielleicht der Vater nur besonders selbstsüchtig. Die Personen werden wundervoll beschrieben, die Charaktere trefflich fein gezeichnet. So kann eine Geschichte, die doch eher weniger Spannung enthält, doch fesseln und das zeugt von einer hohen Meisterschaft. Es war mein erster Roman von Henry James, aber bestimmt nicht mein letzter.

Zwei Lektüren habe ich in diesen Tagen abgeschlossen:

Tolstois Kreutzersonate und Donna Leons „A noble radiance“. Zu den Krimis der Donna Leon habe ich mich schon häufiger geäußert, sie sind einfach gut! Brunetti ist der Krimi-Kommissar für mich schlechthin. Einfach wirklich gut!

Leo Tolstoi. Er zieht über die Liebe her, über die Ehe. Predigt Keuschheit, sowohl vor als in der Ehe. Sieht den Ehebruch schon vollzogen in der Andeutung von einem freundlichen Umgang miteinander. Sein Held tötet die eigene Frau, ob sie ihrem Mann untreu geworden ist, was den Mord nicht rechtfertigen würde, bleibt unklar. Tolstoi hat ein ganzes Kapitel als Erklärung für diese Erzählung nachgeschoben, die mir von seiner Einstellung her zu verschroben ist, die aber brillant geschrieben ist und die auch das menschliche Verhalten sehr genau beschreibt.

Wilhelm Raabe schrieb zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Roman „Stopfkuchen“. Er nennt ihn eine Mord- und Seegeschichte. Dies stimmt so nicht, da der Erzähler zwar diese Geschichte auf See, auf seiner Heimfahrt aus dem beschaulichen Deutschland nach Südafrika aufschreibt, aber nur Einsprengsel, kurze Unterbrechungen diesen Begriff oberflächlich rechtfertigen. Eine Mordgeschichte ist auch nur reißerisch. Schließlich handelt es sich um einen schon eine Generation zurückliegenden Fall, der nun endlich aufgedeckt wird. Eigentlich passiert alles an einem Tag als der Erzähler seinen früheren Freund besucht und dieser, mit dem Spitznamen Stopfkuchen seit seiner Kindheit belegte Mensch, in einem Monolog seinem Schulkameraden darlegt, dass auch ein Landei, ein daheim- und zurückgebliebener durchaus ein Leben zu gestalten versteht. Man muss sich an den Stil Raabes gewöhnen, mehr noch, man muss sich darauf einlassen. Schon in anderen Erzählungen, die ich von ihm gelesen habe, ist diese ironisierende, sich häufig im Bericht wiederholende Erzählweise vorhanden. Immer kommen Leute zurück an Orte ihrer Kindheit, legen sich und anderen Rechenschaft über Geleistetes und Misslungenes ab. Lässt man sich auf diesen behäbigen und gewöhnungsbedürftigen Stil ein, so ist das Werk, das sich auftut meisterlich zu nennen. Da schreibt ein gebildeter Mensch mit viel Lebenskenntnis und –weisheit über Lebenslügen und –irrtümer. Da sollte man hinhören!

Patrick O’Brian „Duell vor Sumatra“. Das ist das dritte Buch von ihm. Und ich lasse mich, gerade wenn ich am Meer bin, gefangen und mit auf die Abenteuerreisen des Vollkapitäns Jack Aubrey und seines Freundes und Schiffarztes Stephen Maturin nehmen. Gerade die Figur dieses begnadeten Arztes, der auch noch Geheimagent, unglücklicher Liebhaber und ein begeisterter Naturforscher ist, ist so liebevoll ausgemalt, dass es schon deshalb ein Lesevergnügen ist. Man muss nichts von Seefahrt verstehen, man muss die einzelnen Segel überhaupt nicht auseinanderhalten können, um dennoch mit hohem Vergnügen und auch einiger Spannung die Seeschlachten und Manöver zu verfolgen. Ich hoffe, dass bald weitere Romane von O’Brian als Taschenbuch erscheinen, damit auch bei meinen künftigen Meeres- und Inselurlauben ich mit viel Spaß in die Abenteuerwelt dieses Autors einzutauchen vermag!

Nino Filastò: „Der Irrtum des Dottor Gambassi“. Im Original heißt dieser italienische, in der Toscana angesiedelte Kriminalroman „Die ägyptische Ehefrau“ und kommt einem Teil der Geschichte näher, einem Teil. Scalzi ist der Held des Romans, ein florentinischer Anwalt. Die Geschichte ist verworren, ein Ägypter wird angeklagt, seine italienische Ehefrau umgebracht zu haben. Aber es gibt keine Leiche, keinerlei Hinweise auf die Tat, bis auf Briefe, die von der ägyptischen Ehefrau (aha, ein Bigamist also) stammen sollen, in denen von einer Leiche oder so die Rede ist. In Wirklichkeit hat der Ägypter diese Briefe selbst geschrieben und sie sind Lagepläne, um zu einer Höhle zu gelangen, in der besagter Dottore Gambassi Milliarden Lire der kalabrischen Maffia aufbewahrt, aber dieser nicht wiedergeben will. Alles sehr verworren wie gesagt, aber unerhört spannend und mit sehr viel Kritik an den italienischen Verhältnissen gespickt. Ich sage es klar und deutlich, dass ich die anderen Romane dieses Autors zu meiner Ferienpflichtlektüre machen werde, neben Patrick O’Brian, versteht sich.

Der arme Verschwender

Wenn man nicht weiß, was man lesen soll, einen Hinweis benötigt, was denn ein gutes Buch sei, das zu lesen lohne, so gibt es für mich seit einiger Zeit nur eine Antwort: „Der arme Verschwender“ von Ernst Weiß!

Die Lebensgeschichte eines Mannes wird vor uns entrollt. Sohn eines Augenarztes, der darauf bedacht ist die Geldstücke zusammenzuhalten. Dieser Vater wird von seinem Sohn vergöttert. Egal ob dieser ihn grob behandelt, ihn manipuliert, nicht um dem Jungen einen wirklichen Gefallen zu tun, sondern viel, um eigene Interessen besser durchsetzen zu können. Dieser Roman spielt in der KuK-Monarchie und endet nach dem verlorenen ersten Weltkrieg. Der Sohn ist inzwischen selbst Arzt, hat aber auch hier nicht seinen Neigungen nachgegeben und ist Nervenarzt geworden, sondern er ist in die Fußstapfen seines inzwischen hochberühmten Vaters getreten und selbst Augenarzt geworden. Er ist und bleibt hier aber nur der Sohn des berühmten Vaters, der nicht davor zurückschreckt, selbst Forschungsergebnisse des Sohnes zu publizieren, ohne den Urheber zu erwähnen.

Die Lebensgeschichte dieses Mannes ist die Geschichte eines grandiosen Scheiterns aus Liebe. Aus Liebe zum Vater, zur Mutter und zu den zwei Frauen, die sein Leben bestimmen, es dominieren und schließlich auch zu einem frühen und traurigen Ende führen.

Es ist ein so grandioser Roman, eine so wundervoll dichte Schilderung von Seelenzuständen, subtilen Erpressungen und Nötigungen. Dieser Roman gehört für mich zu den beeindruckendsten Werken moderner deutscher Literatur. So ein Roman hätte den Literaturnobelpreis verdient.

Ernst Weiß aber ist vielmehr im Exil an den Verhältnissen zerbrochen, er hat sein Leben beendet. Ein Leben, das die Nazis auf dem Gewissen haben, wie so viele andere auch. Dieser Roman und dieser Autor haben sich aber ein Denkmal gesetzt, das alle Zeit überstehen wird. Die Lektüre dieses Romans ist keine Verschwendung, sondern purer Genuss. Allerdings einer mit einem sehr bitteren und schalen Nachgeschmack. Aber dies ist beabsichtigt und zeigt die wahre Größe dieses Werkes!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Das Testament

John Grisham scheint beim Schreiben immer schon das Drehbuch für die sicherlich bald fällige Verfilmung seiner Romane im Kopf zu haben. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und sogar behaupten, dass das Personaltableau im Kopf bereits abgeschlossen ist. So könnte ich mir den alkoholabhängigen Anwalt O’Riley gut durch einen Schauspieler vom Format eines Kevin Spacey dargestellt vorstellen. Natürlich würde alles an Originalschauplätzen gedreht, denn der brasilianische Urwald muss eben wirklich ganz echt scheinen. Ich sehe schon die wunderschönen Aufnahmen der Pantanal Region aus der Vogelperspektive mit weiten Kameraschwenks und der Vermittlung des Gefühls, dabei zu sein, mittendrin. Aber bei all diesen Bemühungen geht die Qualität der Erzählung verloren, es wird kaum noch Spannung aufgebaut, man ergeht sich in der Schilderung von Typen, hier dem kauzigen Milliardär und seinen missratenen Erben. Das liest sich nett, auch im Original, aber ist weit davon entfernt die Kraft der frühen Thriller zu besitzen. Schade. Das Testament ist nicht zum Nachlesen empfohlen und seine Verfilmung kann man sich getrost auch ersparen.

Die kleine Stadt

Das Buch von Heinrich Mann liest sich wie ein Drehbuch zu einer verrückten Geschichte in einer italienischen Kleinstadt, in der die Figuren des Don Camillo und des Peppone schon vorweggenommen wurden. Hier ist es der Advokat Belotti und Don Taddeo. Das Ganze spielt vor dem Hintergrund eines Gastspiels von Sängern in der Stadt, die eine melodramatische Oper auf die lange verwaiste Bühne der Stadt zaubern. Dass der ganze Roman eine Art Libretto für eine weitere melodramatische Oper darstellt, ist so offensichtlich und macht Spaß beim Lesen. Es ist ein Roman, der das geschäftige und doch so liebenswerte Treiben einer kleinen Stadt in Italien zeigt, die aber so viel lebensfroher und lebensbejahender ist als irgendeine Stadt in Deutschland der Weimarer Zeit oder gar des Wilhelminismus dies je hätte sein können. Dieser Roman ist nicht der größte des Autors, aber wahrlich nicht gering zu schätzen!

Vom Kuchen Balzacs gekostet

Nun endlich habe ich mich an den ersten Roman dieses schreibwütigen Autors herangewagt. Modeste Mignon ist vielleicht ein besonders geeigneter Einstieg in die Romanwelt der menschlichen Komödie des Honoré de Balzac[iii].

Modeste hat nach kurzer Zeit es mit drei Bewerbern zu tun, deren Motive sehr unterschiedlich sind. Und natürlich kommt am Ende die richtige Paarung zusammen, aber das ist nicht so klar und auch wenn die blinde Mutter ihre Sehkraft wieder durch Operation zurückerlangt, wie auch der Vater wieder zu Geld und Ehren kommt. Alles gehört sich so in einem Roman, der märchenhaft daherkommt und dem man nicht mehr aus der Hand legen will, wenn man erst einmal über die ersten mühevollen und so genauen Beschreibungen der Personen und des Umfeldes durch den Autor hinweggekommen ist. Und kluge Sätze sind in diesem Werk angesammelt und man spürt, wie genau dieser Autor die Menschen beobachtet hat, um sie so genau beschreiben zu können.

Ein Meisterwerk!

Schlicht ein Meisterwerk.

Esoterische Lektüre

Geh, wohin dein Herz dich trägt. Lebe deinen Lebensplan.

Das sind keine schlechten Ratschläge und ich mache mich nicht lustig. Ich finde es richtig, über verschiedene Deutungen dieser Welt, über das warum, das wieso und wohin, nachzudenken.

Der Brasilianer Paulo Coelho hat mit seinem Welterfolg, dem dünnen Bändchen „Der Alchimist“ dazu seinen Beitrag leisten wollen.

Ein junger Mann, ein Hirte, erfährt im Traum von seinem Lebensziel. Er macht sich auf die Schatzsuche. Er wird am Ende an den Ort seines Traums zurückkehren und den Schatz finden. Zwischendrin muss er Gefahren überstehen und lernt, die Welt besser verstehen.

Das ist alles ganz unterhaltsam, das liest sich schnell herunter und am Ende bleibt die Lehre: Behalte dein Ziel im Auge, gehe deinen Weg, achte auf die Zeichen! Und das ist sicherlich richtig und von daher kann ich mich über das Büchlein nicht ärgern.

Gogols tote Seelen

Nun habe ich auch ein Werk von Nikolai Gogol gelesen! Sein Romanfragment „Die toten Seelen“ hat mich zutiefst beeindruckt.

Da ist ein weiterer russischer Meistererzähler. Noch einer, der Russland schildert, wie es wohl gewesen sein muss. Korrupt, faul, träge und unermesslich schön. Seine Gutsbesitzer werden schonungslos geschildert. Die vielen nichtsnutzigen, die ihre Wirtschaft vor die Hunde gehen ließen und die wenigen, die es anders, besser gemacht haben, die aber in der Minderheit gewesen sind.

Das Bild, das von dem Land und seinen Menschen gezeichnet wird, könnte auch noch heute gültig sein, zumindest ist es nicht ganz auszuschließen. Vielleicht wartet der Mensch in der unendlichen russischen Weite auch heute noch auf die eine Person, die „Vorwärts!“ ruft und damit alles in Schwung brächte.

Der Roman, obschon Fragment, enthält so viele köstliche Studien von Menschen, von menschlichem Verhalten, dass allein diese Betrachtungen und Schilderungen, die Lektüre wert sind. Doch der Roman ist mehr, er ist die wundervolle Abrechnung mit einem korrupten System – ich bin versucht zu sagen, einer Bananenrepublik – und es ist eine Liebeserklärung an die Heimat. Eine Heimat, die jeder Mensch in sich trägt, immer und überall. Und die man so schön und strahlend erleben möchte, wie nur irgend möglich. Und umso mehr macht einem dann die korrupte, dekadente Gegenwart zu schaffen.

Gogols Roman ist ein Stück Weltliteratur, auch heute, mehr als einhundertfünfzig Jahre nach seiner Entstehung noch!

Wieder Balzac

Natürlich hatte mir der zufällig ausgesuchte erste Roman, den ich von Honoré de Balzac gelesen habe Appetit auf mehr gemacht. Also habe ich mir einen weiteren Roman aus der Menschlichen Komödie ausgesucht: Die Frau von dreißig Jahren.

Es ist zu früh, über das Werk dieses Sprachmagiers und Schreibgiganten wirklich zu urteilen, jedoch ist es auffällig, wie er an einen Roman herangeht. Häufig kommt er über die Beschreibung einer Landschaft, ähnlich Fontane, der sich aber fast ausschließlich auf das Brandenburgische beschränkte, daher. Balzac scheint in ganz Frankreich zu Hause zu sein. Er muss bei seinen zahlreichen Reisen immer Auge gewesen sein, für Landschaften, für die Kunst und – vor allem – für Menschen.

Er muss Menschen, deren Verhalten genau studiert haben und dann eine Geschichte darum konstruiert haben. Wundervoll.

Der Roman der Frau von dreißig ist, verzeih mir Honoré, schwach. Er ist zerfasert, ein Handlungsstrang ist natürlich vorhanden, aber eigentlich ist es eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit dem gleichen Personal ausgestattet worden sind. So simpel, wie die Botschaft hinter der Geschichte lautet, ist das Leben nicht. Eine Frau kann, da bin ich sicher, ein Kind auch lieben, wenn es nicht von dem geliebten Manne stammt, sondern von einem anderen. Sofern sie nicht vergewaltigt wurde, was in dem vorliegenden Fall nicht der Fall ist. Die Frau hat eine ungeliebte Tochter und sonst nur Kinder der Liebe, aber alle diese Kinder, bis auf eine Tochter, werden vor ihrer Mutter sterben. Am lächerlichsten, weil an den Haaren herbeigezogen ist eine Begegnung auf See zwischen Tochter und Vater, die Tochter ist das ungeliebte Kind ihrer Mutter, weil es von dem falschen Manne stammt. Nun ja, es ist ein schwacher Roman; hätte ich ihn als erstes Produkt von Balzac gelesen, vielleicht hätte ich den Wunsch auf mehr nicht verspürt, so sage ich mir, es wird bessere geben, man muss sie nur in diesem großen Angebot finden.

Vorleser gelesen

In den letzten Jahren gab es wenige deutsche Romane oder Erzählungen, die international erfolgreich waren, was immer das heißen mag. Meist heißt es schlicht, dass das Buch schlicht in viele fremde Sprachen übertragen wurde und dann sogar noch reichlich verkauft worden ist. Wenn es und das bedingt sich in der Regel noch in irgendwelchen berühmten Literatursendungen des Fernsehens gelobt wurde, ist ein internationaler Bestseller geschafft.

Einen derartigen Erfolg hat Bernhard Schlink mit dem Roman „Der Vorleser“ erzielt.

Das Buch schildert die Geschichte eines jungen Menschen, dessen erste Liebe wesentlich älter als er selber ist, die eines Tages aus seinem Leben verschwindet und Jahre später wieder auftaucht in der Rolle einer Naziverbrechen Angeklagten.

Diese Frau wird geschildert in ihrer Schuld und ihrer Unschuld, da wird nichts beschönigt, nichts verklärt und nichts bejubelt. Eine Metapher für das Verhalten einer ganzen Generation könnte diese Erzählung sein. Man ist in eine Sache hineingeschliddert, ohne lesen zu können, man nahm dann allerdings die Schuld auf sich mit allen Konsequenzen. Es ist eine mögliche Interpretation, nicht mehr.

Das Buch liest sich gut, es wartet geradezu auf das Weiterlesen, es will ausgelesen werden.

Unterwelt

Ich bin zurück von einer längeren Lesereise. Sie war anstrengend, aber reisen bildet.

Nur ein Beispiel: Man braucht fünfhundert Seiten, um zu einer Erklärung für den Titel des Romans zu gelangen, man befindet sich auf der Seite 922, um eine mögliche weitere (oder doch die gleiche) zu erhalten. Das ist doch anstrengend, oder?

Die Geschichte ist nicht nachzuerzählen, man kann nur Stichworte liefern, einzelne Stränge der Geschichte. Und das geht dann so:

Am Tage, an dem die Sowjetunion ihre erste Atombombe zündete, werden in New York die Giants Baseballmeister durch einen phantastischen Schlag. Der Baseball gerät in die Hände eines Fans und wird dann weiterwandern im Laufe der nächsten knapp 45 Jahre. Ebenso wie die Angst vor der Bombe, der Strahlung und all den anderen Folgen. Es ist die Geschichte von vielen verschiedenen Figuren, die miteinander verwoben sind. Ein Roman aus „short cuts“, eine Geschichte aus Kurzgeschichten, die miteinander verwoben sind in einem großen amerikanischen Flickenteppich. Zeitsprünge, die die Lesenden klüger machen als die Figuren, wenn man ihre Entwicklung bedenkt. Sie geben sich der Illusion hin, ihr Leben beeinflussen zu können, in Wirklichkeit ist schon alles entschieden.

Da ist ein Ich-Erzähler, der aber nicht die ganze Zeit erzählt, da ist Nick, jetzt ein Müllmanager.

Überhaupt Müll!

Müll spielt eine wichtige Rolle, am Ende besucht man in Kasachstan eine ehemalige Versuchsanstalt zur Bombenzündung. Jetzt soll atomarer Müll unterirdisch vernichtet werden. Müll ist die geheime Geschichte, die Untergeschichte. Müll in der Unterwelt!

Da ist eine Künstlerin, jetzt alt, ehedem kurzzeitig die Geliebte von Nick, obwohl viel älter. Sie gehört ebenso zu dem großen Personal dieses Romans, wie Matty, Nicks Bruder, der Wissenschaftler in einer Atomanlage geworden ist. Der Vater der beiden ist eines Tages verschwunden, er war ein kleiner Buchmacher, ein italienischer Einwanderer. So ist die Gegend von Italo-Amerikanern geprägt, so liebt Albert, der erste Mann der Künstlerin diese Gegend und die Menschen darin. So wird George, der Kellner, erschossen. Nick fragte, ob das Gewehr geladen sei und George verneint. Der Schuss bringt Nick in die Besserungsanstalt und auf einen bürgerlichen Weg. Nick hat den Baseball irgendwann erworben, für einen horrenden Preis. Der Vater des Jungen, der den Ball an sich brachte, hat nur wenige lumpige Dollar erhalten und sich den lebenslangen Zorn des Sohnes zugezogen. Da sind die Nonnen, die sich um Straßenkinder kümmern, eine von ihnen hat schon Matty erzogen. Da sucht Klara, die Künstlerin gemeinsam mit ihrer Galeristin, einen jungen Graffitikünstler. Da wird ein Film Eisensteins vorgeführt, „Unterwelt“! Und ein kurzer Film eines Amateurs, der den Mord des Präsidenten Kennedy festhält auch.

Ein vielstimmiger Chor, eine Sinfonie von Stimmen. Ein ganz außergewöhnliches Werk. Ein anstrengendes Buch, keine Feierabendlektüre. Die Lektüre ist richtige Arbeit, aber lohnend.

Was mich beschäftigt ist die Frage, ob und wie viel biographisches Material in diesen Roman eingeflossen ist. Der Autor Don DeLillo ist Italo-Amerikaner und ein ganz großer seiner Zunft zu dieser Zeit!

Ein Roman namens Sturmhöhe

Das ist ein ganz schrecklicher Romantitel: „Sturmhöhe“! Das lässt mich an den ersten Weltkrieg und irgendwelche sinnlosen Scharmützel um die Einnahme von Hügeln oder Höhenzügen in Frankreich denken, was natürlich völlig falsch ist. Hier ist ein irgendwo in den englischen Midlands gelegenes Gut gedacht, das den Namen „Wuthering Heights“ trägt, weil das Wetter hier rau und unfreundlich ist und sich so die Typen, die diesen Roman bevölkern, gut einpassen. Die Übersetzerin muss wohl gedacht haben, das kann man nicht so stehen lassen und nun hat dieser Roman von Emily Brontë seit Generationen diesen „bescheuerten“ Titel.

Der Roman ist ganz und gar nicht bescheuert, sondern schildert in tristen Farben, aber mit unerhörtem Sog die Schicksale einer Familie, die auf diesem Gut lebt und sich bekämpft, bis am Ende zwei Nachgeborene zueinander finden und den ganzen Spuk überwinden werden. Eine kraftvolle Erzählung, eine eigene Sprache, die manchmal fast kindlich anmutet, aber möglicherweise alles andere als das ist, sondern vielmehr einfach nur die jeweilige Stimmung richtig wiedergibt und man als Leser den Figuren zurufen möchte haltet ein, passt auf. So wie Kinder beim Kasperlespiel den Kasper warnen, wenn das Böse sich hinterrücks nähert.

Ich habe nicht bereut, den Roman gelesen zu haben.

Lord Jim

Das war eine Arbeit, das war ein schweißtreibender Marathonlauf. Alle paar Kilometer ging mir die Luft aus, musste ich verschnaufen, Gehpausen einlegen, um wieder zu Atem zu kommen, der mir dann über die nächsten Kapitel half. So ging es mir schon häufiger, zum Beispiel bei den Romanen von Raabe, die ich doch außerordentlich schätze.

Raabe übrigens. Ja es gibt gute Gründe, sich an ihn erinnert zu fühlen bei der Lektüre dieses Romans von Joseph Conrad mit dem kurzen Titel „Lord Jim“.

Eine verschränkte Erzählweise, die Neigung zum Plauderton, der eben langatmig daherkommt und vom Leser Geduld und Langmut erfordert. Nun wer sich aber darauf einlässt und seine oben beschriebenen Probleme zu überwinden versteht, dem wird auch einiges geboten. Zum Beispiel Sätze wie: „Die Welt war still, die Nacht atmete um sie her, eine dieser Nächte, die wie geschaffen sind, der Zärtlichkeit Schutz zu bieten; und es gibt Augenblicke, da unsere Seelen – wie befreit von ihrer dunklen Hülle – in einer besonderen Empfindlichkeit erglühen, die ein gewisses Schweigen beredter als lange Reden sein lässt.“

Oder: „Das ist Natur – das Gleichgewicht kolossaler Kräfte. …Der Mensch ist erstaunlich, aber kein Meisterwerk.…Der Mehltau der Nichtigkeit, der menschliches Reden stets zu befallen droht, hatte sich auf unsere Unterhaltung gelegt und machte daraus ein leeres Wortgeklingel.“

Schließlich: „…ein hoher Beamter; einer jener glänzend begabten Menschen, die nicht stumpfsinnig genug sind, um auf Erfolg bedacht zu sein, und deren Karriere oft im Unglück endet.“

So könnte weiter zitiert werden und so liest sich dann dieser Roman zwar mit großer Anstrengung, aber eben doch mit ebenso hohem Genuss. Die Geschichte ist konstruiert, aber das macht nichts und auch die teilweise seltsame Vorstellung von den Rassen und ihrem Verhalten tut der Güte des Textes keinen Abbruch. Und so bleibt am Ende, nur den Hut zu ziehen und sich vor der grandiosen Leistung des Autors zu verneigen!

Hampels Fluchten

Ein Mann namens Michael Kumpfmüller hat einen Roman geschrieben (Hampels Fluchten), sein Erstlingswerk.

Da wird eine tolle Geschichte erzählt: Ein Mann namens Heinrich Hampel, ein Bettenverkäufer, geht wegen riesiger Schulden von Deutschland West nach Deutschland Ost. Er flieht sozusagen in die falsche Richtung über die Grenze. Er lebte auf großem Fuße in Regensburg und wir lernen in Rückblenden sein Leben kennen. Seine Kriegsjahre, seine Jahre ohne Ausbildung, aber dem Willen zu überleben. Sein Liebesleben, ja das hat er und nicht zu knapp. Seine Erfolge im Bettenhandel hängen mit seinen Möglichkeiten zusammen, mehr zu bieten!

Immer ein Kapitel über Heinrich und sein Leben in der DDR, das voller Reinfälle sein wird, ohne Perspektive, ohne Hoffnung. Eigentlich nur getrieben von dem Wunsch nach Leben und Anerkennung und körperlicher Nähe.

Immer ein Kapitel Rückblende, die immer weiter zurückreicht, bis zum Zeitpunkt des Kennenlernens seiner Eltern und der Schilderung des Lebens in der Zeit der Naziherrschaft. Ein deutscher Bilderbogen über knapp siebzig Jahre wird ausgebreitet. Eine Geschichte über das Leben in diesem Land, das so unverzeihlich schrecklich das Gesicht der Welt im zwanzigsten Jahrhundert geprägt hat.

Ein Scheißleben hat dieser Heinrich Hampel, eine Scheißzeit hat er sich ausgesucht und nichts daraus gemacht! Und am Ende ist er tot, totgesoffen, verlassen und ohne Hoffnung. Ein Hampelmann, dessen Stricke gerissen sind, hängt nur noch hilflos am Haken. Ende.

Kumpfmüller schreibt mit einem Druck, er hat einen großen Roman hingeschrieben. Das Buch liest sich mit einem unwahrscheinlichen Zug, es zwingt zum Weiterlesen. Es ist nicht pornographisch, es ist nicht in irgendeiner Weise schmierig. Es ist ein Roman fast aus einem Guss. Am Ende gibt es ein paar kleine Holprigkeiten, als würde Kumpfmüller gar nicht aufhören wollen, zu schreiben, zu erzählen. Und der Leser möchte gar nicht aufhören, zu lesen!

Russische Lektüre

Der Roman „Arme Leute“ von Fjodor Dostojewski ist in Briefen verfasst. Zwei Menschen, obwohl sie in Sichtweite beieinander wohnen verkehren in Briefen miteinander, vorwiegend jedenfalls.

Er ist beträchtlich älter als sie, beide sind sie arme Schlucker. Er ist Schreiber, sie Waise, die von Gelegenheitshandarbeiten ihren Unterhalt bestreitet. Er liebt sie, kann sich ihr aber nicht wirklich erklären, bleibt im onkelhaften Ton und sie ist ihm sicherlich aus Dankbarkeit sehr zugewandt. Er verschuldet sich ihretwegen, sie wird am Ende einen reichen Gutsbesitzer heiraten und aus seinem Leben verschwinden. Nicht einmal seine Briefe wird sie mitnehmen, er wird in ihre bisherige Unterkunft einziehen. Arme Leute sind es halt.

Wie Dostojewski diese Menschen miteinander reden lässt, wie er die Lebensverhältnisse dieser armen Menschen beschreibt, zeigt die riesige Kluft zwischen Armen und Reichen in diesem riesigen schwerfälligen Zarenreich, zeigt die Unbedingtheit der Entwicklung einer Revolution. Es musste so kommen und Dostojewski ist mit diesem kleinen Briefroman Chronist.

Der Roman „Ein Adelsnest“ von Iwan Turgenjew schildert dagegen die Sorgen des Adels, des kleineren zwar, aber doch die immateriellen und manchmal so sehr viel Drängenderen. Der Held der Geschichte ist von seiner Frau nach Strich und Faden betrogen worden, hat Jahre gebraucht, um sich einigermaßen davon zu erholen und kehrt in ein kleines Gut seines Besitztums zurück. Er wird sich in ein junges Mädchen verlieben, die seine Gefühle erwidert und im Moment des größten Glücks kehrt die totgeglaubte Gattin zurück. Sie wird ihn wieder betrügen, aber die Romanze ist vorbei. Das junge Mädchen geht ins Kloster. Das Glück findet woanders statt.

Das ist ein Turgenjew – Roman auf den zutrifft, was ich als unbedarfter Schüler einmal in einem Referat über Fontane irgendwoher abgeschrieben hatte: Fontane hat sich an Turgenjew geschult. Ja, dieser wunderschöne Roman könnte auch von Fontane sein, dann würde er irgendwo in der Mark spielen und ein Pastor hätte eine gewichtigere Rolle. Eine angenehme Lektüre, eine entspannende und geistreiche obendrein.

Begegnung mit Thomas Hardy

Thomas Hardy „Fern vom Treiben der Menge“! Da spielt sich auf dem Lande ein dramatisches Geschehen ab, nichts mit ländlicher Idylle und Abgeschiedenheit. Da wird eine junge Frau von mehreren Männern begehrt und vom falschen, weil schlechten geheiratet, da wird dieser schlechte Mensch von einem Rivalen erschossen und der Dritte, der sowieso der erste war, der um die Hand der jungen Dame anhielt wird sie nun heiraten.

Das klingt sehr platt, wenn man es so verknappt erzählt. In Wirklichkeit ist der Roman voller Farben, voller Nuancen. Er ist so wundersam ausschweifend erzählt mit einem so unwahrscheinlich langen Atem, dass man vor Bewunderung schier blass wird.

Hardy ist so reich an Metaphern, so sicher im Umgang mit ihnen, dass es Spaß macht, ihn zu lesen.

Beispiele gefällig?

„Doch er hätte ebenso gut daran denken können, einen Wohlgeruch in einem Netz davonzutragen, als den Versuch zu unternehmen, seine unbestimmten Gefühle in die groben Maschen der Sprache zu kleiden. So blieb er still.“

„Dass Blindheit nachdrücklicher wirken kann als Voraussicht und die auf Kurzsichtigkeit beruhende Wirkung größer ist als die auf Weitblick beruhende, dass Beschränkung und nicht umfassendes Wissen benötigt wird, um etwas zu vollbringen.“

So habe ich einen ersten Einblick in eine wundervolle neue Romanwelt, diejenige des Thomas Hardy, unternommen.

Bauchlandung

Bauchlandung heißt der Titel eines dünnen Bändchens mit Erzählungen der jungen deutschen Autorin Julia Franck.

Die Erzählerinnen sind alle ziemlich einsam und leben zu einem guten Teil in ihrer Phantasiewelt. Der Untertitel des Bändchens lautet „Geschichten zum Anfassen“. Anfassen kann man schon, denn es sind Geschichten über die Liebe, manchmal nur die körperliche Liebe und über den Tod.

Beeindruckend mit welcher Distanz sie den nahen Tod eines Großvaters schildert und wie knapp sie vom Tod eines Vaters zu berichten versteht. Die Geschichten haben immer einen „Höhepunkt“. Irgendwie knallt da immer ein Sektkorken. Bei der kurzen Geschichte über den Tod eines Vaters denkt der Leser zunächst an alles andere als daran. Dann erzählt ein junges Mädchen von der Bekanntschaft zu einem wesentlich älteren Mann. Na, das kann ja heiter werden. Doch dann ist es der Vater und der ist plötzlich tot.

Oder der Hausfreund, der am Maifeiertag mit Mutter und deren beiden Kindern flüchtet, während der Vater in Ostberlin bleibt und sich die Bettdecke über die Ohren zieht.

Die Texte haben es in sich. Sie gehen unter die Haut, sie berühren. Insoweit ist der Untertitel vielleicht sogar falsch es sind nicht Geschichten zum Anfassen, sondern Geschichten, die berühren!

Eine alltägliche Geschichte

Nun bin ich dabei auch Iwan A. Gontscharow zu entdecken. Sein Roman „Eine alltägliche Geschichte“ liegt jetzt beendet vor mir und ich freue mich noch immer, diesen Roman gelesen zu haben.

Ja, es war also schon vor 200 Jahren eine alltägliche Geschichte, der junge Mann aus der Provinz, der in die große Stadt, die große Welt kommt und zerrissen wird von all den Eindrücken und Erlebnissen. Der Onkel versucht, ihn zu führen, aber dessen Meinung zählt nicht viel. Schließlich wird der junge Mann nach überstandener Lebenskrise genau in dem Moment in die Fußstapfen seines Onkels treten, als dieser erkannt hat, dass es im Leben um mehr als nur um Arbeit und Gelderwerb geht. Wie der Weg des jungen Mannes aussehen wird kann man sich denken, er wird irgendwann zu den gleichen Einsichten gelangen wie sein Onkel und viele andere vor ihm und nach ihm. Eine alltägliche Geschichte eben.

Nur wie blendend ist sie erzählt, wie witzig die Dialoge, wie gegenwartsnah viele der Szenen. Das ist ein wundervoller Roman, lebensnah und prall und bunt.

Nun freue ich mich schon auf den Oblomow!

Fegefeuer der Eitelkeiten

Schon lange wollte ich den Roman über das Amerika der achtziger Jahre lesen, aber lange habe ich mich davor gedrückt, nachdem ich einmal ein Kapitel gelesen hatte und nicht sofort gefangen genommen war.

Tatsächlich hatte ich auch bei dem zweiten Anlauf Startschwierigkeiten und zwischendurch Phasen, wo ich nicht gerade danach gierte, wissen zu wollen, wie es denn nun eigentlich im Roman „Fegefeuer der Eitelkeiten“ von Tom Wolfe weitergehen wird.

Die Geschichte ist genial konstruiert: Ein reicher Wall Street Manager gerät in eine sehr dumme Geschichte. Mit seinem Wage wird ein junger Farbiger von der Geliebten des Managers angefahren. Ein anderer Farbiger und das Unfallopfer hatten versucht, den beiden Weißen zu helfen, vielleicht aber auch, sie zu überfallen. Da Wahljahr ist und die Farbigen in der Bronx als Wähler gebraucht werden, wird von der Staatsanwaltschaft mit viel Druck ermittelt und die Presse saugt Honig aus einem solchen Stoff. So gerät der gute Manager, der natürlich verheiratet ist, in die Mühlen der Justiz und der Boulevardpresse. So wird er zermalmt.

Allein, man hat kein Mitleid mit diesem Kerl und auch keiner anderen Gestalt dieses Romans gelingt es, sich Sympathie zu erspielen. Das ist der verblüffendste Trick des Autors, nicht nur, dass seine geniale Konstruktion als Falle für den „Helden“ funktioniert, nicht nur, dass alle, ob Iren oder Italiener, Farbige oder Weiße, gleich unsympathisch sind, man bekommt einfach kein positives Gefühl für irgendeine Person zu Stande. Nicht mal dem sechsjährigen Töchterchen des „Helden“ gelingt das, weil ein verwöhntes kleines Monster auf der Bildfläche erscheint, der das Schicksal ihres Vaters völlig egal ist, und die sich höchstens eines Tages ärgern wird, dass der einstige Luxus durch Vaters Schuld unwiderruflich vergeben worden ist.

Das ist eine ganz starke Geschichte, eine, die man gelesen haben sollte!

Ein Jahrhundertbuch

Günter Grass hat 1999 ein Buch mit Kurzgeschichten vorgelegt, das er „Mein Jahrhundert“ nannte. Natürlich steckte dahinter das Kalkül zum Ausklang der Jahre mit der Ziffer 19, was bei vielen und vor allem den Medien als Millenniumswechsel gefeiert wurde, mit von der Partie zu sein, wenn es um das Geschäfte machen geht. So hat er 99 Geschichten vorgelegt; für jedes Jahr eine. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich, inhaltlich und auch qualitativ. Am besten ist Grass, wenn er aus persönlichem Blickwinkel Ereignisse schildert. Egal, ob es seine Treffen mit den Schriftstellerkollegen in Ostberlin sind oder die Italienfahrt mit seinen erwachsenen Töchtern. Auch als er seine Aufregung am Wahltag des 28. September 1998 schildert, wo die Zahl der von ihm gefundenen Pilze den erhofften Sieg über das Kohl-Regime andeutet, ist er der große Literat. Schließlich auch als er seine tote Mutter noch einmal auferstehen lässt, ist er nahe an seinem Jahrhundertbuch dran. Nur wenn er bemüht Dialekt sprechende kleine Leute auftreten lässt, die von bestimmten Ereignissen fabulieren, dann sträuben sich dem Leser ab und zu die Nackenhaare.

Aber kein Verriss, nein, nur einige kritische Anmerkungen zum bisher letzten Buch des großen deutschen Erzählers. Im Jahre 1999, nach Erscheinen dieses Buches hat er den Nobelpreis für Literatur erhalten.

Márai zum zweiten

Der Verlag Piper weidet den Nachlass des ungarischen Autors Sándor Márai aus. Nun ist vor einiger Zeit der kleine Roman „Das Vermächtnis der Eszter“ erschienen. Wieder, wie schon in der Glut, wartet man nach vielen Jahren auf die Rückkehr eines Menschen, mit dem man sich ein letztes Mal auseinandersetzen muss. Hier wartet Eszter auf Lajos. Er kommt, um ihr das letzte noch verbliebene wegzunehmen. Sie wird es zulassen. Lajos besitzt die Fähigkeit, alle um den Finger wickeln zu können. Auch wenn alle erkennen, dass Lajos ein notorischer Lügner ist, ergibt man sich ihm, wie einer unaufhaltsamen Flutwelle.

Beeindruckend an diesem Roman ist die Darstellung der Menschen, die Beschreibung der Situationen, in denen sie sich begegnen, meisterlich ist die Sprache, irgendwie süß, aber nicht klebrig. Und so lese ich diese Erzählung, ohne abzusetzen, wie ein Dürstender das Wasserglas in einem Zug leert.

In der Tat haben diejenigen recht, die behaupten, mit Márai einen ganz großen europäischen Autor entdeckt zu haben.

Jane Eyre

Es ist immer wieder faszinierend, wenn man in eine Romanwelt eintauchen kann. Gut ist der Roman, wenn er ein Eintauchen überhaupt ermöglicht. Sehr gut ist er, wenn er neue Perspektiven eröffnet, wenn er unbekannte Tiefen zeigt und in die wunderschöne Welt der Meerestiefen schauen lässt.

So ein Roman ist „Jane Eyre“, die fiktive Autobiographie einer jungen Frau, die früh eine Waise wird, von der Tante in eine Schule abgeschoben wird und schließlich als Erzieherin, dem Mann ihres Lebens begegnet, den zu heiraten ihr zunächst versagt bleibt, weil der Mann noch an eine Irre gekettet ist. Nach einem Intermezzo, bei dem sie nicht nur Verwandte überraschend erhält, sondern auch ein Vermögen erbt, kehrt sie zu dem Mann ihrer Träume zurück, der inzwischen Witwer und auch noch Invalide geworden ist, dessen Liebe zu Jane aber ungebrochen ist, ebenso wie die ihre zu ihm.

So ein Stoff kann fürchterlich kitschig erzählt werden oder aber kunstvoll, spannend und voller Weisheiten, die für eine Autorin im England der Königin Victoria so selbstverständlich nicht gewesen sein können.

Ich habe mich gern in die Tiefen hinab ziehen lassen. Ich bin voller Bewunderung für die Autorin Charlotte Brontë aus dieser Lektüre wieder aufgetaucht.

Stendhals Rot und Schwarz

Zugegeben, ich habe mich mit der Lektüre schwergetan. Einige Male war ich versucht, den großen Roman Stendhals „Rot und Schwarz“ zur Seite zu legen.

Ich habe es nicht getan, weil mich das Schicksal dieses Julien Sorel doch irgendwie gefesselt hatte. Am Ende wird er zu Tode kommen; am Ende eines kurzen Lebens. Sohn eines Sägemüllers, der als Hauslehrer die Mutter seiner Zöglinge und später in Paris die Tochter seines Dienstherrn, dem er als Sekretär dient, zur Geliebten macht. Auch hier, wie in der „Kartause von Parma“, sind die Menschen auf der Suche nach Liebe.

Darum und um nichts anderes geht es Stendhal und all den anderen Autoren. Und darum geht es immer! Und das ist gut so!

Die Bruderschaft

John Grisham hat in seinem neuesten Roman zwei Handlungsstränge anfangs so lange neben einander herlaufen lassen, dass ich manchmal schon glaubte, dem Verlag wäre ein peinliches Versehen passiert und man hat zwei Geschichten zusammen geheftet, die nichts miteinander zu tun haben.

Doch dann erklärt sich alles und wie üblich bei Grisham ist es spannend und irgendwie so, als ob man im Kopf schon die spätere Verfilmung ablaufen sieht. Hier wird das ein Fest für ältere Schauspieler werden. Denn die Bruderschaft setzt sich aus drei inhaftierten Richtern zusammen. Zwei sind Juristen, der dritte war Friedensrichter. Man sitzt in einem Bundesgefängnis wegen verschiedener minderschwerer Delikte ein. Und man ist kreativ, man erpresst von schwulen älteren Männern Schweigegeld. Die Kerle haben einen Briefwechsel mit fiktiven jungen Männern begonnen und haben ihre wahren Gefühle zu verheimlichen versucht, sie sind wohl situiert, haben Frau und Kinder, vielleicht sogar Enkel und somit in jedem Fall viel zu verlieren. Anders wie die drei ehrenwerten Herren, die ja schon hinter Gittern sitzen. Zufällig fällt ihnen der ganz große Fisch in die Hände. Ein Mann, der vom Geheimdienst ausersehen ist, Präsident zu werden. Aus dem Nichts die Vorwahlen gewinnt, droht über eine kleine Schwäche zu stürzen, die er sich zugestanden hatte, als selbst er nicht daran dachte, sich um die Präsidentschaft zu bewerben.

Wenn auch das Buch einige kleine Ungereimtheiten hat, vielleicht lag es auch nur an meinen Englischkenntnissen, so ist es doch spannend und damit auch entspannend.

Der Liebeswunsch

In einer Anordnung, die derjenigen in Goethes Wahlverwandtschaften gleicht, lässt Dieter Wellershoff einen hervorragend geschriebenen Roman spielen, den er Liebeswunsch nennt.

Schon am Anfang weiß man, dass Anja Selbstmord verübt hat. Man weiß immer etwas mehr als die Figuren, die er gerade berichten lässt. Er lässt aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen, greift zurück und geht dann weiter. So fesselt die Erzählung, so ist man gebannt von der Stilsicherheit und der einfachen klaren Sprache. Die Metaphern sind wohlgesetzt, die Beschreibungen der Figuren, der Orte, der Gesten der Leute sind präzise, schnörkellos. Kein Wort zu viel. Da hat ein großer Romancier ein wunderbares Buch komponiert!

Der Doppelgänger

Das ist ein merkwürdiges Buch, diese Erzählung von Fjodor Dostojewski, die den aussagekräftigen Titel „Der Doppelgänger“ trägt. Es ist die brillante Schilderung des langsamen Abgleitens eines Menschen in die Schizophrenie. Der arme Held erlebt sein zweites Ich als sehr präsenten Doppelgänger, der ihn austrickst und gegen ihn intrigiert. Der arme Held versinkt sehr schnell in diese für ihn neue Welt. Am Ende wird er von seinem Arzt in eine Irrenanstalt eingeliefert.

Wie das geschrieben ist, verblüfft den Leser. Es ist so modern, so ganz anders als alles, was sonst zu dieser Zeit geschrieben wurde. Es liest sich nicht leicht, weil man manchmal sehr in die Gedankengänge des Helden hineingezogen wird und dieser manche Gedanken gar nicht mehr zu Ende denkt, zumindest sie nicht mehr fähig ist, auszudrücken.

Eine außergewöhnliche Erfahrung, ein Leseerlebnis der besonderen Art und eine ganz neue Seite, die man an Dostojewski entdecken konnte.

Ein Kriminalroman aus Italien

Der Autor heißt Nino Filastò. Der Mann schreibt Kriminalromane mit einem Anwalt als Helden, der in Florenz lebt und arbeitet. Sein zweiter Roman, den ich jetzt gelesen habe, heißt „Alptraum mit Signora“. Das Buch ist um Klassen besser als sein „Irrtum des Dottore Gambassi“. Dieses Buch war doch sehr konstruiert, dieses Mal bewegt der Autor sich in der Welt der Bilder, echter und erfundener. Kopien und Originale und einem genialen, aber eben auch verrückten Fälscher, der seine Modelle schlicht umbringt.

Das ist ein Roman, der sich einfach gut lesen lässt, der sogar anregend auf die Kunstrezeption wirkt und im Leser die Frage auftauchen lässt, ob nicht so manches Bild eine Fälschung ist, beziehungsweise nicht vom Pinsel dessen stammt, dem es zugeschrieben wird.

Liebesfluchten

Mir wurde der Erzählband „Liebesfluchten“ von Bernhard Schlink geschenkt. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.

Das sind Geschichten!

Schlink kommt bei seinen Geschichten sofort zur Sache. Er treibt die Erzählungen voran, bringt sie zum Punkt. Und dennoch ist alles genau beschrieben, dennoch werden sowohl die Atmosphäre als auch die Handelnden hervorragend skizziert.

Keine der Erzählungen heißt wie der Buchtitel, aber dieser Titel beschreibt alle Geschichten treffend. So ist eben der Autor, prägnant, auf den Punkt.

Seine Akteure sind lebendig, ihre Gedanken sind auch vom Leser schon gedacht worden. Man liest und denkt dann so manchmal genau das ist es, das ist eine exakte Formulierung meiner Gedanken.

Ob ein Mann vor seinen Frauen flieht, und ihnen doch nicht entgehen kann, ob ein Vater vor all seinen Pflichten flieht und ihnen dennoch nicht entgeht, ob der Verrat eines Mannes an seiner Frau in der DDR, ob die Erfüllung, die mögliche, des Traums eines Mannes. Immer flieht jemand, immer spürt man die Vergänglichkeit und das zweite große Thema, das sich schon durch den Vorleser zog. Wie gehen wir Deutsche mit unserer Vergangenheit um.

Es sind großartige Geschichten, die der Autor in diesem Band versammelt hat. Eine Meisterleistung!

Abschied von Gülsary

Ein schmaler Band nur, ein großes Lesevergnügen dennoch!

„Abschied von Gülsary“ heißt dieser Roman von Tschingis Aitmatow. Ein Pferd stirbt und sein langjähriger Herr lässt das Leben des Pferdes und damit auch sein eigenes Leben noch einmal vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Es ist eine wundervolle Kritik an den Verhältnissen in der ehemaligen Sowjetunion, am Leben im Kommunismus. Die Menschen glaubten daran, sich zu befreien, glaubten daran, ihre Lebensverhältnisse verbessern zu können. In Wirklichkeit verschlimmerte sich alles, alles wurde marode und blieb auf der Strecke. Das war ein mutiges Buch in seiner Zeit, es ist ein erstaunliches Buch heute und eine erste sehr angenehme Bekanntschaft mit einem großen Schriftsteller der Sowjetunion.

Márais Lebenserinnerungen

Die lange Fahrt über die Alpen habe ich genutzt um die Lebenserinnerungen oder besser die Erlebnisse der Kindheit und Jugend von Sándor Márai zu Ende zu lesen. Es war eine mühselige Lektüre. Teilweise verzweifelte ich am langatmigen Text, teilweise ließ er mich nicht los. Nicht nur als über das Berlin der Nachkriegszeit des ersten Weltkriegs berichtet wird. Doch irgendwie findet Márai nicht zum Punkt. Was wollte er eigentlich loswerden? Er wollte sich etwas „von der Seele schreiben“, aber was? Es eröffnet sich mir nicht. „Die Bekenntnisse eines Bürgers“ haben mich nur an wenigen Stellen bereichert. Vielleicht ist diese Autobiographie sehr überschätzt.

Meldungen aus Weimar

Wenn man sich daran macht, den Thomas Mann Roman „Lotte in Weimar“ zu lesen, dann braucht man gute Nerven. Man muss über sehr viele Klippen hinweg. Die Dialoge sind langatmig, manchmal geradezu unerträglich. Bildungsberge, nein ganze Gebirge werden vor einem aufgetürmt. Muss man sich das antun, fragt man sich zwischendurch immer wieder. Und doch gibt es sehr lesenswerte Abschnitte, brillante Sätze, geistreiche Einschübe. Ein Kapitel fällt aus dem Rahmen, nicht nur weil es mit einem bestimmten Artikel besetzt wird, sondern weil es aus der Sicht des Meisters selbst geschrieben wurde. Johann Wolfgang von Goethe denkt hier selbst. Hat er so gedacht, so gestelzt, so geschraubt? Ich kann es nicht glauben! Also kommt man zu dem Ergebnis, dass Mann etwas anderes beabsichtigte als am Auftauchen der Lotte, die Goethes Begierde einst war und, die er in seinem Wehrter verewigt hat, die Gedanken des großen Mannes und eine langatmige Betrachtung über die Sicht anderer, insbesondere seiner „Domestiken“ zu beschreiben. Wahrscheinlich wollte er eine Goethe Biographie vorlegen. Das ist ihm dann sehr gut gelungen. Schließlich beschreibt er detailgetreu einen bestimmten Lebensabschnitt des Dichters und auch des Sohnes August. Mich veranlasste die Lektüre eine „echte“ Biographie in die Hand zu nehmen und darin so gründlich zu schmökern, dass ich mich zur kompletten Lektüre – übrigens zum zweiten Male – entschloss.

Schiffsmeldungen

Quoile, das ist ein Name. Da schmeckt man das schwabbelige, da spürt man das fettige und große und irgendwie auch quallenartige. Quoile ist der Held eines Romans von E. Annie Proulx, „Schiffsmeldungen“.

Ein Mann wird von einer Frau geheiratet und von dieser nach Strich und Faden betrogen. Er wird Witwer und geht mit einer Tante und seinen zwei kleinen Töchtern nach Neufundland, wo er sich in einer total unwirtlichen Umwelt einrichtet, zu sich selbst und zu einer neuen Frau findet.

Er erlebt sein Leben neu, er findet es überhaupt erst einmal. Und das alles wird so wundervoll rund erzählt, kommt ohne Aufregungen und ohne sonstige Dramatik aus, dass ich schier verrückt und süchtig wurde nach diesem Roman und gar nicht wollte, dass er endete. Und er endet dann doch mit einem oder zwei Happyends, wie sollte, wie könnte es auch anders sein.

Goya, der Roman von Feuchtwanger

Bei einem Besuch meines Buchhändlers fiel mir vor einigen Jahren der Taschenbuchband mit der Abbildung der nackten Maya in die Hände. Lion Feuchtwanger ist der Autor dieses Romans und der Titel ist schlicht Goya. Der Roman schildert das Leben dieses Malers, präziser einen Lebensabschnitt. Die Zeit, die er mit der Herzogin von Alba verbrachte, die Zeit, in der er taub wird. Die Zeit, in der er seinen Malstil verändert, von der Inquisition verfolgt wird und schließlich auch neue, sehr eigene Sujets findet.

Der Roman hat mich ziemlich gelangweilt, aber immer wieder doch gefesselt. Ein Sittengemälde sagt man in einem solchen Fall wohl. Ich erfahre etwas über eine spannende Zeit in einem Land, das den Anschluss an Europa zu dieser Zeit wohl noch nicht erlangt hatte.

Ein Roman, den man nicht unbedingt gelesen haben muss, den man aber, wenn man sich dazu entschlossen hat, mit Gewinn gelesen haben wird.

Ein Roman über die dänische Revolution

Der Schwede Per Olov Enquist hat einen Roman über die dänische Revolution geschrieben. Die steht so in keinem Geschichtsbuch, da sie von oben verordnet wurde und nur knappe zwei Jahre dauerte. Der Roman „Der Besuch des Leibarztes“ beschreibt das Wirken des Grafen Struensee, der nicht nur Dänemark in eine aufgeklärte Zeit schicken wollte – zwanzig Jahre vor der französischen Revolution – sondern der zugleich dem kranken jungen König ein Freund zu sein, sich anschickt und der ein nicht folgenloses Verhältnis mit der jungen Königin eingeht.

Der Roman ist nüchtern geschrieben, die Leidenschaften sind fast völlig aus den Sätzen verdrängt. Alles klingt historisch, so als wäre der Autor dabeigestanden, als hätte man das Drehbuch zu einem Dokumentarspiel vor sich.

Das ist zunächst sehr gewöhnungsbedürftig, dann jedoch zunehmend fesselnd und schließlich einfach für sich einnehmend. Dabei wird harter Stoff geboten, bis hin zur Enthauptung Struensees und eines Mitangeklagten. Ein Stück Geschichte wird da ausgebreitet und das in einer sehr raffinierten Art und Weise.

Ein Meisterwerk

Ich habe, fast wie im Rausch, zumindest berauscht, ein Meisterwerk gerade aus der Hand gelegt. Ich habe es verschlungen wie einst Rosenkranz und Güldenstern oder die Buddenbrooks. Es ist ein Roman, der einen fesselt, der sich in einem ausbreitet und nicht mehr loslässt. Es ist die Geschichte des jungen und schönen Habenichts Georges Duroy, der sich sehr schnell in einer Zeitung hochdient, der bei den Frauen ankommt, der die Spielregeln erlernt und am Ende des Romans vor einer glänzenden Karriere steht, die ihn zum Minister oder gar Regierungschef machen kann.

Das ist so mühelos geschrieben, so brillant entwickelt. Nahezu schwerelos wird man durch dieses Buch geleitet und alles ist so modern, so gar nicht angestaubt. Ein Meisterwerk, ein Meisterwerk!

Du fragst noch, wie es heißt? Ei: „Bel Ami“ von Guy de Maupassant natürlich!

Der Mandarin

Nun habe ich endlich ein erstes Werk eines Meisters gelesen, der mir hoch empfohlen, aber leider so gut wie mit keinem Werk derzeit auf dem deutschen Buchmarkt mehr vertreten ist. Der Portugiese José Maria Eça de Queiroz hat einige bedeutende Romane zum Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben. Seine Probe nun das kleine Büchlein vom Mandarin weckt durchaus den Appetit nach mehr, viel mehr.

Die Idee der Geschichte ist faszinierend und einfach zugleich. Ein Mann tötet einen Mann Kraft der eigenen Phantasie am anderen Ende der Welt und übernimmt dessen Reichtum, aber er wird die Tat nicht los. Er wird mit dem Geld, der Macht und all den schauerlichen Irrtümern des Menschen nicht glücklich. Und doch weiß der Autor, der Ich-Erzähler, als er das Ende fühlt, dass er Nachahmer finden wird, der Mensch ist so, wie er ist. Er ist schlecht!

Raabes Odfeld

Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu Wilhelm Raabe. Das wird sich wahrscheinlich nicht mehr ändern. Trotzdem lese ich immer wieder einmal einen Roman von ihm, habe sogar antiquarisch den einen oder anderen Roman erworben und quäle mich dann durch die Seiten, ärgere mich meist darüber, wieder einen Roman von ihm in die Hand genommen zu haben und doch lese ich ihn dann brav zu Ende.

So ist es mir wieder ergangen, dieses Mal mit dem Odfeld. Eine Geschichte aus dem Siebenjährigen Krieg um einen alten Schulmeister, der in die Wirren einer Schlacht gerät, der die sich ihm anvertrauenden und sich selbst schlussendlich in Sicherheit bringt, wenn auch einer seiner Schützlinge dabei zu Tode kommt.

Mich ergriff die Geschichte nicht, sie langweilte mich, sie berührte mich nicht. Sein Erzählstil ist veraltet, er ist wirklich antiquiert. Bildungsgeladen und so unendlich langweilig. Das Odfeld ein Ödfeld!

Guy de Maupassant, der Gigant

Wieder ein wundervoller Roman dieses außergewöhnlichen Schriftstellers! „Stark wie der Tod“ heißt er, und stark ist er, bärenstark!

Dieser Autor kennt das Leben, kennt die Frauen, kennt alle Schliche, alle Beweggründe und Ausflüchte. Ein genauer Beobachter, ein genauer Erzähler, ein genialer Schriftsteller.

Er schildert die Geschichte eines Künstlers. Der Mann hat ein langjähriges Verhältnis zu einer Gräfin, die er als junge Frau porträtierte. Nun ist deren Tochter erwachsen und der Maler verliebt sich in dieses junge Mädchen, das ein Abbild der Mutter ist. Er wird von dieser Liebe aufgezehrt und die Gräfin ebenfalls, denn sie spürt diese neue, tiefe Verliebtheit. Am Ende gerät der verwirrte unglückliche Maler unter einen Omnibus und stirbt in der Gegenwart seiner Geliebten. Aber er wünscht sich nichts sehnlicher als noch einmal seine Traumfrau, die Tochter der Gräfin, sehen zu dürfen.

Wie Maupassant das alles beschreibt, wie er Szenen und Gefühle, Landschaften und Situationen schildert, ist meisterhaft. Es gibt nichts Dichteres, nichts Wahrhaftigeres als diese Erzählung. Ich freue mich schon auf den nächsten Roman, ich werde ganz schnell mir dieses Werk erschließen. Ach ja, eine Bemerkung noch, an einigen Stellen erinnerte mich dieser Roman an Fontane. Kein schlechtes Kompliment für den märkischen Dichter, wahrlich nicht!

Tschechow, der Romanautor

Ein Autor muss schon ziemlich genau wissen, dass er eine hervorragende Feder schreibt, wenn er einen kleinen Roman „Eine langweilige Geschichte“ nennt. Denn entweder ist sie es, dann ist der Hohn und der Spott der Kritik ihm gewiss oder aber sie ist es nicht, dann ist es ihm die Anerkennung.

Tschechow lässt einen Erzähler auftreten, der unheilbar krank ist, nur noch kurze Zeit zu leben hat und seine Umgebung schonungslos offen darstellt. Egal, ob es sich um seine Ehe, seine Tochter und deren Zukünftigen handelt, ob es um die Wissenschaft oder um das Theater geht, stets wird gnadenlos seziert und das Verborgene an das Licht gezerrt. Sezieren kann der Erzähler, schließlich ist er Pathologe, ein berühmter wohl obendrein. Und natürlich kann dieser Mediziner sich nicht helfen, kann wahrscheinlich auch anderen nicht helfen. Man ist Dilettant, man hat sich damit arrangiert. Und erst wenn die letzten Tage anbrechen, dann bemerkt man, dass es doch irgendwie falsch gelaufen ist, das Leben. Dann ist es zu spät. Aber wenn man es wenigstens irgendwann einmal erkennt!

Eine kleine Geschichte, aber überhaupt nicht langweilig.

Balzac – Beatrix

Nun habe ich wieder einmal einen Roman von Balzac in die Hand genommen und gelesen. Ach, so schnell wird dies nicht wieder der Fall sein. Denn ich habe mich durch diesen Roman, der mir so gar nichts gegeben hat, gequält. Die Geschichte dieses jungen Bretonen, der erst die eine, dann die andere Frau liebt, eine dritte heiratet. Diese mit der zweiten betrügt und schließlich durch eine Intrige wieder zu seiner Ehefrau zurückgebracht wird, ist so konstruiert und fern unserer Zeit, dass man immer wieder den Kopf schüttelt und sich entschließen möchte, das Buch zur Seite zu legen. Allein die Kunst des Autors, die Kunst des Erzählens, der Beschreibung hielt mich und ließ mich die geradezu heroische Tat begehen, die Lektüre zu beenden. Also erst einmal eine Lesepause, was Balzac anbelangt. Und warum das Buch nach der Dame Beatrix benannt wurde, bleibt sein Geheimnis.

Oblomow

Da rollt Iwan Gontscharow auf den ersten knapp zweihundert Seiten seines Romans einen Tag im Leben seines Helden aus; der Mann kommt nicht aus dem Bett, vom frühen Vormittag bis zum späteren Nachmittag empfängt er zahlreiche Gäste, aber er kommt nicht raus aus seiner Bettenburg. Er hat Pläne im Kopf, wie sein Gut neu zu gestalten, der Ertrag zu verbessern wäre und so weiter. Aber es bleibt Plan, alles bleibt Plan. Nichts packt er an, nichts wird Tat, alles bleibt Papier. Von Strolchen umgeben, die ihm auf der Tasche liegen, versteckt er sich besser im Bett. Nur nicht gegen sie auftreten, sich ihrer erwehren. Dann tritt nach diesen zweihundert Seiten sein Freund auf, sein Helfer in jeder Notlage. Stolz, ein deutschstämmiger Russe, der seinen Freund aus der selbstgewählten Lethargie befreien will, ihn hochreißen, fortzerren will. Es scheint zu gelingen, man verabredet eine Auslandsreise, aber Oblomow tritt die Reise nicht an. Er hat sich in Olga verliebt, sie sich in ihn und alles scheint in Glück sich aufzulösen. Nur Olga verlangt, so wie Stolz zuvor, Aktivität, verlangt von ihrem Freund, dass er seine Verhältnisse ordnet, bevor er um ihre Hand anhalten kann. Er wird sich dazu nicht aufraffen können, man trennt sich. Oblomow verharrt bei einer Witwe, wird von deren Bruder betrogen, dabei beinahe an den Bettelstab gebracht, wenn nicht Stolz ihm helfen, ihn in Schutz nehmen würde; aber aus der Lethargie wird er ihn nicht befreien können. Stolz ist längst mit Olga verheiratet; Oblomow mit der Witwe. Diese ist am Ende des Romans zum zweiten Male Witwe, der gemeinsame Sohn genießt die Erziehung in der Familie von Stolz und wird wohl kein zweiter Oblomow.

In jedem von uns steckt ein Stück Oblomow, wie auch Stolz. Die beiden Prinzipien streiten miteinander, immer! Oblomow hat eine zarte glasklare Seele, er ist die Freundschaft Stolzens wert, nicht aber seiner Hilfe, sagt er an einer Stelle, ziemlich zum Schluss, nach seinem ersten Schlaganfall. Er hat sich für seine Art des Lebens entschieden, Stolz für eine andere. Alle, jeder Mensch, muss nach dem Ziel des Lebens fragen, muss suchen und wird hoffentlich fündig. Jeder! Zu allen Zeiten! Das ist der Kern des menschlichen Daseins. Das ist der Sinn des Romans. Ein Stück „Weltliteratur“!

Der Vergleich mit Faust und Mephisto drängt sich auf, aber es ist müßig zu viel darüber zu spekulieren, ob er beabsichtigt oder rein zufällig ist. Wichtig allein ist die Tatsache, dass da einer einen Roman von ungeheurer Spannkraft und Fülle geschrieben hat, das ist es, was „Weltliteratur“ auszeichnet.

Mont Oriol

Guy de Maupassant: „Mont Oriol“. Das ist der Name eines Bades in der Auvergne. Andermatt, der Tycoon, hat es erbauen lassen. Ihn interessiert die Vermehrung des Geldes, wie einem Archäologen die kleinsten Versteinerungen als Zeugen einer längst vergangenen Zeit interessieren. Seine Frau findet einen Geliebten für einen Sommer, für ein Jahr. Bis sie von diesem geschwängert wird, dann verliert der Mann das Interesse. Im nächsten Jahr, der Kurort boomt, wird Paul, der Geliebte, sich verloben und der Bruder von Frau Andermatt auch. Und sie wird ihre Tochter zur Welt bringen, wird damit immer ein Zeugnis ihrer großen Liebe um sich haben und trennt sich von ihrem Geliebten.

Nicht der größte Roman Maupassants sicherlich, aber wie der Mann die „moderne Geschäftswelt“ beschreibt, die Werbung als wichtigen Faktor darstellt. Wie er die Veränderungen in dem Verhalten von Paul und seiner Geliebten zeichnet, anfänglich das stetige Nähern, das Bewusstsein des großen umfassenden Glücks und dann der langsame Prozess der Trennung, das ist schon meisterlich, großmeisterlich!

Ein weiterer kleiner Roman von Tschechow

Jetzt wieder einer jener kurzen Romane von Tschechow, die mir mehr, wie Skizzen zu seinen – ungeschriebenen – Dramen vorkommen.

In dem Roman „Ein Duell“ beschreibt Tschechow das Leben einiger Russen im Kaukasus, also fern von zu Hause. Es ist gleichsam ein etwa einhundert Seiten starker Bericht über die Entstehung eines Duells, zunächst eher geistig ausgetragen und dann schließlich in die tätliche Auseinandersetzung mündend. Dass es kein Opfer zu beklagen gilt, ist auch eher Zufall, dass am Ende die ehemaligen Gegner, zwar nicht als Freunde, aber doch respektvoll voneinander Abschied nehmen, ist ein wenig zu konstruiert. Aber zwischendrin werden Gemälde ausgerollt und die großen Dramen, die Personenführungen werden sichtbar. Tschechow setzt sich mit Tolstois Kreutzersonate auseinander, stützt deren Thesen, obwohl er modernere Personen vorführt. Zum anderen aber auch die Geschichte einer Wandlung. Der „Held“ wandelt sich nach dem Duell, wird arbeitsam, versucht, seine Schulden zu begleichen. Sie wird Ehefrau, man gibt dem Zusammenleben eine Form, man wird gesellschaftsfähig. Was man vorher abgelehnt hatte. Kann man sich, noch dazu in kurzer Zeit so wandeln? Kann man das? Ich zweifele! Ein irgendwie seltsamer Roman. Keiner den man unbedingt gelesen haben muss.

Maupassants Herz

„Unser Herz“ von Guy de Maupassant. Hier fesselt eine emanzipierte Frau einen Mann so vollkommen, dass es kein Entrinnen, keine Fluchtmöglichkeit für ihn gibt. So sehr der Mann auch leidet, so sehr ist es dennoch ein Roman eines Mannes! Schließlich wird er am Ende zurück in die Fänge dieser Frau kehren und zugleich ein junges Mädchen mitbringen, das ihm das gibt, was die andere ihm vorenthält beziehungsweise zu geben, nicht in der Lage ist. Das ist ein männlicher Wunschtraum, eine Frau für den Intellekt und eine für das Bett.

So einfach kann das Leben sein. Der Roman ist dennoch oder gerade deshalb wiederum von vollendeter Meisterschaft, was seine Beschreibungen anbelangt. Sowohl die Skizzierung der seelischen als auch der körperlichen Symptome. Sowohl die Menschenbilder als auch die Natureindrücke, die er schildert. Alles ist trefflich beschrieben, so eindringlich, so nah, so authentisch. Der Mann ist einfach ein genialer Erzähler! Selbst seine schwächeren Romane sind noch so überragend, dass es großen Spaß macht, sie zu lesen.

Tschechow Roman Nr. 3

Tschechows dritten kleinen Roman, die „Erzählung eines Unbekannten“ habe ich nun auch beendet. Hier, wie häufig in seinem Werk, stellt er die Frage nach dem Sinn des Daseins, nach dem, was die Leute in hundert oder zweihundert Jahren über die Menschen sagen werden.

Hier ist das in eine nicht ganz nachvollziehbare Geschichte eingebettet, in der ein Erzähler, Sozialist offenbar, einen Anschlag auf einen Minister plant und deshalb sich als Lakai, obwohl er selbst Adliger ist, beim Sohn des Ministers verdingt. Der Anschlag findet nicht statt, vielmehr zieht er mit der Geliebten des Sohnes, die ein Kind erwartet, von dannen. Die Frau begeht Selbstmord und für das Kind wird gesorgt werden. Man sieht Tschechows Moral, man sieht sie mit einem Kopfschütteln.

Wider die Bigotterie

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein junger Pater im Portugal des 19. Jahrhunderts lebt bei einer Witwe und deren 23-jähriger Tochter. Die beiden jungen Leute verlieben sich ineinander. Der Pater zieht zwar aus, um nicht Anlass für üble Nachrede zu bilden, aber das Verhältnis der beiden bleibt nicht ohne Folgen. Geschickt löst man das Problem, um die Schwangerschaft vor der Öffentlichkeit zu verschleiern. Die junge Frau stirbt, das Kind, wird einer Frau von zweifelhaftem Ruf anvertraut, überlebt ebenfalls nicht. Der Pater wird Karriere machen. Portugal ist ein frommes Land, er ein frommer Mann Gottes.

Das ist ein Roman von ungeheurer Kraft. Alles ist glaubwürdig, nichts konstruiert. Die Charaktere sind wundervoll herausgearbeitet. Niemand ist schwarz-weiß gezeichnet, alle haben eine vielfarbige Gestalt. Und die Botschaft kommt nicht platt daher, sondern so vielschichtig, wie das Problem nun einmal auch ist. Das Zölibat ist ein Schwachsinn, diese katholische Kirche ist bigott. Und nicht nur in Portugal.

Der Mann, der dies schonungslos und meisterhaft schildert, ist kein anderer als José Maria Eça de Queiroz. Der Roman, dieses wundervolle Meisterwerk, heißt „Das Verbrechen des Paters Amaro“.

Ein Leben

Noch ein Meisterwerk von Guy de Maupassant!

Ein Leben heißt dieser Roman, der in einer wunderschönen einfachen Sprache das Leben einer Frau schildert. Wie sie jung und unerfahren heiratet, wie sie eine kurze Zeit des Glücks erlebt, wie sie ein Kind bekommt, feststellt, dass ihr Mann sie mit ihrem Dienstmädchen betrügt. Wie sie sich abkapselt, ihr Mann vom gehörnten Kontrahenten samt seiner Geliebten ins Meer geworfen wird. Ihr Sohn verzogen und missraten sie ausbeutet. Sie von der Person, mit der sie einst ihr Mann betrog und die ein Kind von ihm bekommen hat, gerettet wird und am Ende wird sie ihre Enkeltochter gemeinsam mit eben dieser Person aufziehen können.

Das ist ein Leben. Es war mühselig, selten fröhlich. Es ist so typisch und deshalb so wunderbar. Ein Genuss, Maupassant zu lesen!

Vetter Basilio

Die Geschichte eines Ehebruchs.

Anders als die mir bekannten von Tolstoi, Fontane, Flaubert oder Clarín ist in dem Roman „Vetter Basilio“ von José Maria Eça de Queiroz alles etwas weniger spektakulär. Eine Tragödie ist es dennoch, obwohl der Roman ständig zum Schmunzeln verleitet.

Genial ist er konstruiert, er lässt sich Zeit beim Aufbau. Es fügt sich alles ineinander. Es kommt immer überraschend, man denkt schon beinahe, dass die Heldin gerettet, alles gut werden würde. Da fällt dem Ehemann ein Brief in die Hand, so wie Innstetten zufällig ein Päckchen Briefe seiner Frau Effi findet.

Es ist schon tragisch. Und die Heldin stirbt, sie heißt nicht Anna, Effi, Emma oder Ana, sondern Luisa. Sie reiht sich ein in diese Galerie der Frauen, die aus dem Ehejoch ausbrachen zu einer Zeit, da dies undenkbar und doch ständig praktiziert wurde.

Wieder ein Leseerlebnis. Dieser Autor ist ein großer Künstler. Wie er den Basilio beschreibt, wie er das heimtückische Dienstmädchen, das arme Luder, schildert. Den Kanzleirat mit doppelter Moral, den bedingungslosen Freund der Familie und auch den Ehemann, der auf Reisen schon ganz gern mit den Damen in seiner Umgebung flirtet.

Ein großer Roman, keine Frage!

Vorabend

Die Geschichte einer großen Liebe, die nur durch den Tod beendet werden kann. So etwas kann kitschig sein, aber auch einfach stimmig. Im Falle des Autors Iwan Turgenjew ist es keine Frage, dass es stimmig ist. Die Heldin lernt einen jungen Bulgaren kennen, verliebt sich langsam in ihn und heiratet ihn ohne Segen der Eltern. Schließlich folgt sie ihm nach Bulgarien, wo der Krieg bevorsteht – man befindet sich am Vorabend des Krieges -. Leider kommt der Mann nicht mehr lebend in Bulgarien an, denn er stirbt auf der Reise in Venedig. Seine Frau bringt ihn in sein Heimatland zurück, aus dem sie nie mehr nach Russland zurückkehrt.

Kitschig, wie gesagt könnte es sein, ist es aber nicht. Im Gegenteil: Beispielsweise das Kapitel in Venedig, die Beschreibung dieser wundervollen Stadt ist einfach gelungen, einfach meisterhaft. Der Roman „Vorabend“ gehört sicherlich zu den großen Romanen Turgenjews. Und ich bekenne es gern, er ist einer meiner Lieblingsautoren.

Die Reliquie

In dem Roman „Die Reliquie“ schildert der vortreffliche José Maria Eça de Queiroz wie eine Gesellschaft verkommt, wenn der Glaube längst zum Aberglauben pervertiert ist, wenn Geldgier regiert und Geld zur einzigen Richtschnur des Handelns erhoben wird.

Ein armer Neffe versucht der reichen Tante, die einem übersteigertem Christentum anhängt, zu gefallen, damit er ihr Alleinerbe werde und sich dann den Reichtum mit den Frauen teilen kann. Der Tante spielt er einen frommen nur den jenseitigen Werten zugewandten Mann vor. Er geht auf Pilgerreise nach Jerusalem und bringt der Tante eine Reliquie mit. Die Dornenkrone des Herrn, natürlich nicht wirklich, aber die Tante würde es glauben. Das Erbe wäre gewiss. Leider wird das Päckchen verwechselt, ein Nachthemd, Andenken einer Geliebten kommt zum Vorschein und aus ist der Traum.

Dieser Roman kommt beinahe als Schelmenroman daher, bricht dann aber, weil er auch Bildungsroman sein will. Ein elendig langes Kapitel mit einem Traum des Helden, der sich zurückversetzt fühlt in die Zeit unseres Herrn Jesu. Das sprengt die Form, das ermüdet, auch wenn es genial geschrieben ist. So bleibt ein fader Geschmack nach der Lektüre zurück.

Doch dieser Autor ist ein genialer Mensch, einer vom Olymp!

Der Verschwender

Ferdinand Raimund hat ein Zaubermärchen geschrieben und es „Der Verschwender“ genannt. Es handelt vom reichen Mann, der allen gibt, bis das Geld zur Neige gegangen ist. Bis er gealtert und arm zurückkehrt, wo ihn aber einer, der Valentin, sein früherer Diener, nicht vergessen hat. Und da eine Fee den reichen Mann einst liebte, ist für ihn auch vorgesorgt worden und so ist nicht alles verloren.

Ende gut, alles gut. Das schönste an dem Drama ist das Hobellied (so setz ich meinen Hobel an und hobele alles glatt)!

Mehr ist nicht dazu zu sagen.

Marianela

Marianela ist ein junges unscheinbares Mädchen, das nur einen Lebensinhalt hat: Es ist Auge für seinen blinden Herrn. Als dieser durch einen Augenarzt sehend gemacht wird, hat das Mädchen Angst, den Blicken ihres Herrn zu begegnen. Er würde dieses hässliche Mädchen verachten, er hat sich sowieso bereits seiner blendend schönen Cousine zugewandt.

Sie versucht sich das Leben zu nehmen, wird vom Augenarzt davon abgehalten und stirbt vor Angst, „gesehen zu werden“.

Diese Geschichte ist verpackt in das Leben des sich gerade entwickelnden Spaniens. Sie enthält eine genau dosierte Menge Gesellschaftskritik und genaue, wenngleich unterkühlte Beschreibungen der Figuren.

Der Roman „Marianela“ stammt aus der Feder von Benito Pérez Galdós. Dieser Autor, er wurde auf Gran Canaria 1843 geboren, zählte Balzac zu seinen literarischen Vorbildern und studierte Jura. In Madrid lebte er, unverheiratet, mit seinen Schwestern. Er schuf ein ähnlich umfangreiches Werk wie sein französisches Vorbild. 1920 starb er, als Schriftsteller hochgeachtet, erblindet.

Dieser Roman weckt die Neugier auf weitere seiner Werke und so wird an dieser Stelle noch von ihm zu lesen sein.

Die Elemente

Harry Mulisch nennt seine Erzählung „Die Elemente“ selbst einen kleinen Roman. 140 Seiten kann man auch nicht mehr nennen, aber es steckt einiges drin oder dahinter. Vordergründig ist es die Geschichte eines Urlaubs auf Kreta, die Geschichte einer Familie, deren Elternteile sich auseinandergelebt haben. Die Kinder befürchten Scheidung, die Eltern haben sich nicht mehr viel zu sagen. Am letzten Urlaubstag geschieht die Katastrophe. Frau und Kinder sind in die Berge aufgebrochen, während der Vater im Meer taucht. Die Frau drückt ihre Zigarettenkippen nicht gründlich aus, ein Waldbrand breitet sich aus. Das Löschflugzeug angelt den Vater mit aus dem Wasser und schüttet ihn ins Feuer. Mulisch setzt sich mit den Elementen der Alten auseinander und mit dem Tod. Seine zentrale These: Wir leben, um zu sterben.

Dieser kleine Roman lässt sich schnell und leicht lesen, wie wenn man ein vorgewärmtes Messer durch ein Stück Butter gleiten lässt. Er spricht mich Leser direkt an, er will mich reinigen und aus dem Feuer, nein aus der Asche soll ich wie Phoenix aufsteigen.

Mulisch hat diesen Roman vor seinem himmlischen Roman geschrieben, fast wie eine Fingerübung scheint mir. Der Mann ist ein Meister seines Faches, ein bedeutender europäischer Schriftsteller; ein Mann, der durchaus den Nobelpreis für Literatur verdient hätte.

Der Augenzeuge

„Aber mein Unglück war es, beide Parteien zu verstehen, Augenzeuge zu bleiben, nicht zu richten und kein Pharisäer zu sein“. So steht es in dem Roman „Der Augenzeuge“ von Ernst Weiß. Der Satz ist gleichsam Motto für den Roman. Der Ich-Erzähler ist ein Augenzeuge, er mischt sich nicht ein, er ist nicht parteiisch. Allerdings stimmt das auch nicht, aber der Reihe nach.

Der Erzähler hat im 1. Weltkrieg als Arzt die Bekanntschaft eines Gefreiten gemacht, der unschwer als Adolf Hitler zu identifizieren ist. Der Arzt heilt Hitler von einer durch Wut erzeugten Blindheit, nimmt ihm aber nicht die Unruhe und seine Schlaflosigkeit. Unter der leidet anfänglich nur ein Krankenzimmer im Lazarett, später ein ganzer Kontinent. Die Aufzeichnungen, die er sich über den Patienten Hitler gemacht hat, will dieser, an die Macht gekommen, zurück. Der Ich-Erzähler gerät in ein Konzentrationslager, wird beinahe zu Tode geprügelt, auf wunderliche Weise durch seine Frau und einen Freund gerettet und fristet als Exilant sein Leben in Paris. Der Preis für seine Rettung waren die Aufzeichnungen über den Psychopathen Hitler. Nur am Ende seines Weges gibt unser Erzähler seine Augenzeugenrolle auf, er geht nach Spanien, um gegen Franco zu kämpfen.

Ernst Weiß hat dies im wahren Leben nicht gemacht, sondern beim Einmarsch der Nazis in Paris sich das Leben genommen. Keiner kann sagen, dass man über Konzentrationslager nicht Bescheid wusste, keiner kann sich herauslügen. Eine Lektüre, die nicht immer angenehm ist, eine, die schmerzt, die unter die Haut geht.

Doña Perfecta

Schon zurückgekehrt zu diesem spanischen Autor, von dem man mehr gelesen haben sollte. Ja, gemeint ist Benito Pérez Galdós. Sein Roman Doña Perfecta ist eine schreiende Anklage gegen die Scheinheiligkeit der katholischen spanischen Provinz. Der junge Ingenieur, der in diese Region verschlagen wird, soll seine Cousine heiraten. Die beiden Geschwister, sein Vater und seine Tante, sind sich einig. Wenn die jungen Leute sich mögen, dann sollen sie heiraten. Nun hat die Schwester aber ihre Meinung geändert und so beginnt ein ungeheures Mobbing gegen den jungen Mann, der sich tatsächlich in seine Cousine verliebt und die sich in ihn.

Eine Freude ist es, diesen Roman zu lesen, weil der Autor es versteht, die Lesenden in die Geschichte hineinzuziehen. Es bleibt nichts anderes übrig, als die scheinheilige Tante und den schleimigen Priester zu verabscheuen. Das ist die Kunst dieses Erzählers, manchmal habe ich mich an Kasperletheater erinnert, nicht wegen des Stils, nur wegen der eigenen Reaktionen. So wie die Kinder zu brüllen anfingen, wenn das Krokodil von hinten drohte, das Kasperle zu fressen, so möchte man eingreifen, sich schützend vor den Helden stellen und ihm helfen.

Allein es ist vergeblich, am Ende stirbt der Held und seine Geliebte wird irr an dieser Welt.

Das ist ein Roman, das ist ein Autor. Warum liest man so etwas nicht schon in der Schule?

Der wunderbare Erzähler Arthur Schnitzler

Eigentlich wollte ich nur den Leutnant Gustl lesen. Doch diese Erzählung über den Leutnant, der von einem nicht satisfaktionsfähigen Bäckermeister beleidigt wird und nur noch einen Schritt, nämlich den aus dem Leben zur Konsequenz übriglässt, ist nur eine von vielen anderen Geschichten, die in dem Sammelbändchen enthalten sind.

Also lese ich weiter.

Und jede einzelne Geschichte nimmt mich sofort gefangen, lässt mich nicht los und trägt durch die Erzählungen. Ob diese nur wenige Seiten umfassen oder etwas umfänglicher sind. Alle Geschichten haben einen morbiden Charme, sie verströmen den süßlichen Geruch von Todesnähe, sie nehmen häufig unvorhersehbare Wendungen. Immer tragen sie den Leser und machen Geschmack nach mehr.

Ob es sich nun um die wunderbare Geschichte eines Genies handelt, verpuppt in die Gaukelei eines Schmetterlings, um den toten Gabriel, den Irene, seine Verehrerin mit einem unglaublichen Kuss des Hasses rächt. Ob es sich um die Geschichte der Ehefrau des Künstlers handelt, die sich selbst einzureden versucht, nicht eifersüchtig sein zu müssen und doch von diesem Gefühl verzehrt wurde, oder ob es der tote Junggeselle ist, der seinen Freunden posthum eröffnet, mit all ihren Frauen ein Verhältnis gehabt zu haben.

Es sind wundervolle Erzählungen eines wunderbaren, eines genialen Dichters.

Es ist Arthur Schnitzler!

Tod in Venedig

Endlich, endlich ist es mir gelungen, diese Erzählung zu lesen. Sie zu beenden.

Seit vielen Jahren habe ich immer wieder einmal versucht, dieses Bändchen durchzulesen. Immer wieder hat mich die Erzählung nicht lang genug gefesselt, um mich bis zum Ende „durchzufressen“.

Da wird auf mehreren Seiten das Aussehen eines Straßenmusikanten geschildert, der für den Verlauf der Handlung nichts beizutragen hat, außer dass er Spott und Hohn, ja sogar Verachtung über die Zuhörer, die noblen Gäste des Hotels ausschütten kann. Da versteigt sich der Autor in die Höhen der griechischen Mythologie, um zu verbrämen, dass er homoerotische Neigungen verspürt, die auszuleben er sich nicht gestattet, nicht gestatten kann oder will.

Die Erzählung funktioniert auch nicht, wenn man sich den Autor, diesen Herrn Aschenbach als heterosexuell denkt. Dann hätte er andere Probleme, dieses Buch hätte mich sehr viel mehr interessiert.

Manns Erzählung ist nur deshalb so über die Maßen berühmt und bekannt, weil Thomas Mann selbst dieser Aschenbach ist, mit genau dem von ihm geschilderten Problem. Aber es ist nicht mein Problem und so lässt mich auch jetzt diese Erzählung kalt, eiskalt.

Einzig einige Bemerkungen über Venedig, wenige über das Leben sind so ausnehmend scharfsinnig, dass sie die Lektüre erträglich sein ließen: „Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit“.

„Auf dem Bahnhof in Venedig anlangen einen Palast durch eine Hintertür betreten heiße“

Ich kann nunmehr sagen, dass ich die Erzählung „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann gelesen habe.

Fontanes Kinderjahre

Als sich Theodor Fontane, schon hoch in Jahren, in einer körperlichen und vor allem seelischen Krise befand, folgte er dem Rat seines Arztes und schrieb seine Erlebnisse der Kindheit auf. Er genas und konnte noch einige Jahre wundervolle Bücher schreiben.

„Meine Kinderjahre“, die der Autor einen autobiographischen Roman nennt, ist nicht wirklich im strengen Sinne die chronologische Schilderung seines Lebens. Es ist auch nicht ein Roman im eigentlichen Sinne. Aber es ist etwas Besonderes.

Da werden Figuren lebendig, die in den Romanen Fontanes auftauchen. Da werden Geschichten erzählt, die sich ebenfalls in seinem Werk wiederfinden lassen. Schließlich werden Gespräche aufgezeichnet, die sich so auch oder so ähnlich in seinen Geschichten zutragen. Diese Lebensaufzeichnung ist aber darüber hinaus noch etwas ganz Besonderes.

Es ist eine Liebeserklärung an seinen Vater. Es ist die Schilderung eines wunderbaren, sehr modern denkenden und handelnden Menschen, der in seiner Umwelt nicht gut zurechtkommt; der vielleicht sogar ein Gescheiterter ist. Eine wundervolle Skizze!

Modern ist diese Kindheitsbeschreibung immer dann, wenn es um Fragen der Erziehung geht.

Beispiel gefällig? „Unsere Schule geht falsche Wege; die Menschen lernen nicht das, was sie lernen sollten.“ Brauchten wir da noch eine Studie über unsere Schulen?

Lehrreich dann, wenn man von alten Bräuchen, dem Feiern von Weihnachten und Silvester erfährt.

Ein schönes Buch!

Wieder eine Donna Leon Lektüre

Freunde in hohen Positionen heißt der neunte Fall meines Freundes Brunetti. Vielleicht heißt der Roman in der Übersetzung auch anders, aber so ist sein Originaltitel. Brunetti löst den Fall, aber nicht alle Fälle. Er ist Mensch, er wohnt in Venedig, er ist in einem Umfeld tätig, wo man Netzwerke zum Leben, zum besseren Leben durchaus benötigt. Er versucht sich immer wieder dagegen zu stemmen, aber selbst seine eigene Familie ist da nicht frei von Fehl und Tadel.

Der gute aristokratische Schwiegervater!

Am Ende sind wie gesagt nicht alle Fälle zufriedenstellend gelöst, aber wo im wirklichen Leben ist das anders?

Das Buch ist auch deshalb lesenswert, weil Donna Leon meinen „Urlaubsromancier“ Patrick O’Brian feiert.

Mr. Vertigo

Der Roman Mr. Vertigo von Paul Auster liegt schon seit einigen Jahren in meinem Schrank an der Stelle, wo sich die noch nicht gelesenen, aber zum Lesen bestimmten Romane, stapeln. Nun wurde er endlich seiner Bestimmung zugeführt.

Dieser Roman ist ein Nachfolger der wundervollen Schilderungen eines Mark Twain. Der Junge, der hier im Mittelpunkt des Geschehens steht, erzählt sein Leben. Er ist ein Wunderknabe, er kann schweben, er kann über Wasser wandeln. Er kann fliegen. Er lebt in Amerika, in der Zeit der Prohibition. Er wird von einem merkwürdigen, aber doch gutem Menschen beschützt, trainiert und geliebt. Er durchlebt eine wundervolle Geschichte, die man gar nicht aus der Hand legen will. Es ist eine schöne Geschichte, wundervoll angerichtet. So appetitlich und so gut verdaulich.

Weiteres aus Fontanes Leben

Die Fortsetzung der Autobiographie der frühen Kinderjahre von Theodor Fontane heißt „Von Zwanzig bis Dreißig“.

Das ist herzlich falsch, da der Autor so weitschweifig aus seinem Leben erzählt, dass ein viel größerer Zeitraum überstrichen wird. Ein Teil des Buches besteht aus der Aneinanderreihung von Lebensbeschreibungen seiner Weggefährten. Nur wenige von diesen sind den heute Lebenden noch von Bedeutung, natürlich Storm oder Heyse, aber es sind viele, viele andere, die hier aufgelistet werden und denen Respekt gezollt wird. Aber von Fontanes Leben wird wenig offengelegt. Es ist wenig Privates in diesem Band enthalten, alles ist sehr glatt, sehr „nacherzählt“. Es gibt wenig, was die Zeit uns näherbringt. Das ist schade und so war die Lektüre dieses Bandes nicht gerade ein Lesefest, aber auch keine Qual!

Deutlich ist jedoch geworden, dass Fontane im Alter der Niederschrift sich seiner Bedeutung als Schriftsteller durchaus bewusst war, ein um seine Leistung wissender. Das ist ihm aber auch nicht vorzuwerfen.

Aufs Meer, aufs Meer

Ferienzeit ist für mich auch Zeit, ein Buch (oder auch zwei Bücher) von Patrick O’Brian in die Hand zu nehmen. Nun habe ich die nächsten zwei Bände dieser Seemannsgeschichte durchpflügt, wie die Schiffe des wundervollen Kapitäns Aubrey die Meere. Er und sein Schiffsarzt Dr. Maturin, der nicht nur Gelehrter, sondern auch Spion ist, durchleben alle Höhen und Tiefen von Romangestalten. Während man im „Sturm in der Antarktis“ fürchten muss, dass die Helden ertrinken, vielleicht aber auch von der zum Meutern bereiten Mannschaft aus dem Wege geschafft werden, ist der Band „Kanonen auf hoher See“ ein Spionagethriller. Doch am Ende kommt es auch hier zu einer veritablen Seeschlacht.

Der Leser freut sich schon auf die nächsten Bände (zwei weitere schlummern schon in seinem Bücherschrank). Doch dazu muss es Urlaub werden!

Bis dahin ist Landgang angesagt.

Der menschliche Makel

Man stelle sich folgende Situation vor: Man liest ein Buch, einen Roman, der auf vielen Seiten sehr ausführlich schildert, wie ein alter amerikanischer Hochschulprofessor aus der Universität hinausgedrängt wird, weil er in einem Seminar zwei offensichtlich noch nie anwesende Studenten als „spooks“ bezeichnet hatte. Der Übersetzer umschreibt dieses Wort mit „dunkle Gestalten“, eine durchaus geniale Übersetzung, zeigt sie doch die Intention desjenigen, der dieses Wort in den Mund genommen hat. Er wollte nichts weiter, als zum Ausdruck bringen, dass er die zwei noch nie gesehen hat; sehr ominöse Studenten also.

Was er nicht wissen kann, ist die Tatsache, dass die beiden Farbige sind, darüber hinaus die eine weiblichen Geschlechtes ist und sich nun doppelt diskriminiert fühlt. Der arme Professor, ein Jude und damit zu einer in den USA ganz besonderen Minderheit zählend, versucht sich zu verteidigen, muss aber schließlich seine Universität verlassen. Seine Frau stirbt genau zu der Zeit, als die Wogen des „Skandals“ besonders hoch über ihn zusammenbrechen. Er ist außer sich, er will diese gesamte Verschwörung aufdecken, eine junge Dozentin scheint sich rächen zu wollen, da er sie als er Dekan war, offenkundig nur widerwillig eingestellt hatte; er will diese Verschwörung zerschmettern und rehabilitiert werden. Er will, dass ein Schriftsteller sich der Sache annimmt und seinen Fall als Roman behandelt.

Man hat diesen Roman also so weit gelesen, weiß auch, dass unser Professor, eine Geliebte hat, die weniger als halb so alt wie er ist und dass seine Kinder nach dem Tod ihrer Mutter den Kontakt zum Vater stark eingeschränkt haben. Da erfährt der staunende Leser, dass dieser Professor ein Farbiger ist, besser gesagt von Geburt aus gewesen ist. Nur mit so heller Hautfarbe, dass nur wenige Farbige ihn als ihresgleichen erkannten. Er wollte aber weiß sein, wollte nicht den menschlichen Makel der Farbigkeit besitzen, wollte nicht in der Schule seine Klassenbestenrolle für einen Weißen aufgeben, wollte in der Marine als Weißer gelten, wollte ein weißer Professor für alte Sprachen und Literatur sein, wollte eine Weiße, eine weiße Jüdin heiraten, wollte weiße Kinder bekommen, hatte bei jeder Geburt gehofft, dass nicht die „farbigen Anteile“ sich durchsetzen würden. Er hat seine Mutter verleugnet, seine Geschwister, sein Elternhaus, seine Herkunft. Er hat das alles auf sich genommen, um nicht diesen Makel an sich haften zu spüren. Es hat nichts genutzt, nun hat seine Vergangenheit ihn eingeholt, denn er könnte seine Rolle ja aufgeben, er könnte ja nun, wo er sich vor dem Vorwurf der rassistischen Äußerung und Diskriminierung rechtfertigen soll, seine wahre Identität preisgeben. Alles wäre wieder im Lot. Er schweigt. Das ist eine geniale Geschichte und sie geht weiter, weil die junge Frau, mit der er ein Verhältnis hat, nicht so dumm, nicht so unbedarft ist, wie sie sich hinstellt. Sie ist keine Analphabetin, sie hat aber die Leiden dieses Lebens in vollen Zügen auskosten dürfen. Sie hat bei einem Brand ihre Kinder verloren, von ihrem Stiefvater ist sie vergewaltigt worden, von ihrem Mann geschlagen und nach der Trennung von ihm verfolgt worden. Der Mann ist ein Vietnamveteran. So haben wir auch diesen Aspekt der amerikanischen Geschichte in diesem Roman verankert. Die Alpträume der zurückgekehrten Soldaten, die Furcht und die Unfähigkeit, sich in das zivile Leben wieder einreihen zu können. Wir haben auch die Lewinsky-Affäre in diesem Roman als Spiegel des Verhaltens der Figuren in diesem Werk. Ihr dieser späten Geliebten erzählt er – wahrscheinlich – sein Geheimnis. Sie versteht ihn, weil sie den menschlichen Makel selbst erlebt hat. Am Beispiel einer Krähe, die nicht die Krähensprache beherrscht, sondern etwas, das sie dafürhält. Von den anderen Krähen wird sie dafür ausgegrenzt, malträtiert und gezwungen in menschlicher Obhut zu verbleiben. Eine wunderbare Metapher. Klar also, dass diese Frau ihn versteht, wie es eine andere, seine erste Liebe nicht getan hat, die es nicht verkraftete, als er ihr seine schwarze Familie vorstellte.

Dieses Liebespaar dieses Liebesromans kommt bei einem Autounfall ums Leben. Ob der Exmann seine Hände im Spiel hatte, ist unerheblich, wir müssen es annehmen. Wir erleben auch den weiteren Handlungsstrang. Die Dozentin, die sich an dem ehemaligen Dekan zu rächen versucht. Sie liebt diesen Mann, ja sehr wahrscheinlich ist dies so. Und auch dies ist plausibel und kann gar nicht anders sein. Der Schriftsteller, der das alles aufschreibt, ist Nathan, das „Alter Ego“ von Philip Roth.

Mein erster Roman dieses Autors. Und ich muss gestehen, ich bin überwältigt. Das ist eine erzählerische Kraft, das ist eine so fulminante Geschichte, das ist ein Höhepunkt zeitgenössischer Weltliteratur.

So einfach, so wunderschön.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Das etruskische Lächeln

Es gibt Geschichten, die drohen, ins Lächerliche abzugleiten, andere wiederum werden rührend, sie rühren zu Tränen und dann ist die Geschichte verbraucht, verbrannt. Eine solche Geschichte hat vor Jahren Susanna Tamaro geschrieben.

Jetzt habe ich einen Roman beendet, der an der Kippe zu dieser Rührseligkeit entlang hangelt. Aber, das ist das erste Wunder, nie abstürzt.

Was ist das für eine wunderbare Geschichte. Der alte Mann, ein Bauer und Partisan im zweiten Weltkrieg, wird von seinem Sohn aus Kalabrien nach Mailand geholt. Dort soll er medizinisch besser versorgt werden, schließlich hat er einen Darmkrebs im Endstadium. Der alte Mann ist missmutig, er will nicht in diese Stadt. Er will auch nicht so schnell sterben, jedenfalls so lange nicht, wie sein Feind in der Heimat noch lebt. Dieser liegt aber auch im Sterben. Also ein besonderer „Showdown“ über eine große Entfernung.

Dann allerdings begegnet der Alte auf der Reise im Museum in Rom dem etruskischen Paar auf einer Grabplatte. Diese beiden faszinieren den alten Mann, wie sie lächeln, wie sie da beieinander liegen.

Dann begegnet er in Mailand seinem Enkel, nun hat er ein Ziel vor Augen. Dieses Kind muss zum Mann erzogen werden, zumindest der städtischen Schwiegertochter ein Stück entzogen werden. Er will diesen Enkel noch „Großvater“ hören sagen; dann kann er sterben. Vorausgesetzt, sein alter Rivale im fernen kalabrischen Dorf, stirbt vor ihm.

Dass dieser alte Mann in dem feindlichen Mailand, in seinen letzten Lebensmonaten noch so viel erfahren, erleben wird, ist der unglaubliche Roman von José Luis Sampedro. „Das etruskische Lächeln“ auf den Lippen stirbt er dann, am Ende. Das ist dem Leser klar, schon nach wenigen Seiten. Aber was er nicht ahnt, ist die Kunst dieses Autors, ein Leben entstehen zu lassen, eine Geschichte auszubreiten, die so wundervoll das Herz zum Schwingen bringt, wie die ersten warmen Sonnenstrahlen an einem Frühlingstag.

Diese Geschichte ist ein Gewinn für jeden Leser, für mich war sie beinahe eine Offenbarung!

Lolita

Nun habe ich diesen Roman also auch gelesen!

Mein Vater hatte ihn schon im Schrank und wird ihn wohl auch gelesen haben und nun ich.

Was ist an diesem Roman so besonderes? Was macht ihn zur Weltliteratur? Um es gleich zu sagen, es gibt dafür nur einen Grund: Vladimir Nabokov kann schreiben, kann beschreiben und hat einfach Figuren erschaffen, die so lebendig sind, dass man sie atmen (stöhnen?) hören kann und ihre Gegenwart spürt (riecht?).

Mehr ist es nicht. Na, mehr ist auch kaum möglich.

Wenn man sich einen schmuddligen, irgendwie geilen Text vorstellt, dann hat man sich getäuscht. Der Text ist nicht anstößig. Da gibt es ganz andere Romane.

Die Idee ist genial, dass hier ein Mann, dessen ganze Leidenschaft den kleinen Mädchen gilt, sein Leben erzählt, alles vor uns entblättert, was ihn treibt, was ihn zum Mörder macht und was ihn letztendlich zum Fall für den Psychiater werden lässt.

Ein Geniestreich und der Meister möge verzeihen, an einigen Stellen sehr langatmig, sehr langweilig. Es ist manchmal zu viel des Guten was er vor uns an Kleinigkeiten ausbreitet, was er uns so erzählt. Aber schließlich bleibt man an dem Spannungsbogen, den er gespannt hat, dran. Bis zu seiner letzten Seite, bis man „Lolita“ zur Seite legt in dem Bewusstsein, nun endlich dieses Buch gelesen zu haben.

Ein Meer voller Sorgen

Nun habe ich mal wieder so mittendrin, Donna Leons neuesten Roman gelesen. „A Sea of Troubles“ heißt der Roman und er spielt in der Fischerszene von Pelestrina. Er ist brutaler als manch einer seiner Vorgänger und die Polizei verliert den freundlichen Bootsführer Bonsuan und die arme Sekretärin verliert ihr Herz an den Neffen des Mörders. Und Brunetti ist sich seiner Gefühle zur Sekretärin nicht sicher und auch sonst nicht der Stärkste. Wird ihm doch ein anderer vorgezogen bei der kommissarischen Leitung der Behörde. Aber so ist dieser Kommissar, ihm geht es um den Menschen, um das Drumherum, nicht um das „Wer ist der Mörder?“ – Spiel.

So sind sie diese Romane.

Das Hotel New Hampshire

Der Roman über eine Familie. Eine „ganz normale“ Familie. Der Vater, ein Träumer, die Mutter patent, aber dem Vater ergeben. Der älteste Sohn schwul, die älteste Tochter wird vergewaltigt, der mittlere Sohn, der Erzähler, in seine Schwester verliebt, die jüngere Schwester eine Zwergin, die Wachstumsversuche dadurch unternimmt, dass sie Romane schreibt, der jüngste Sohn schwerhörig und in den Hund vernarrt. Dieser Hund mit Verdauungsstörungen geschlagen und selbst ausgestopft noch höchst präsent. Der Opa ein muskelbildender Trainer mit zu schwachem Herzen. Diese Familie führt in einem kleinen Ort in New Hampshire ein Hotel, das nicht gerade gut geht, aber den Kindern Platz zur Entfaltung bietet.

Ein Bär spielt eine Rolle, eigentlich zwei Bären. Ein echter und ein Mädchen mit Bärenfell. Ein zweites Hotel wird geführt. Dieses Mal in Wien. Da wohnen Terroristen, da arbeiten Nutten und der jüngste Bruder und die Mutter sind nicht mehr mit von der Partie, die sind mit dem Flugzeug abgestürzt. Am Ende, der Vater ist blind, nun auch physisch, führt man ein drittes Hotel. Wieder in New Hampshire. Wieder anders als gedacht, aber mit positiver Perspektive.

Das ist das Stichwort. Die positive Perspektive. Das kann ja alles noch so schlimm sein. Wichtig ist nur, dass man die positiven Aspekte im Auge behält. Man ist nur so schräg, wie man sein will. Das Hotel New Hampshire bleibt geöffnet. Es ist eine angenehme Lektüre, anregend und kurzweilig. Der Autor John Irving versteht es meisterlich aus dem Nichts der Handlung eine völlig neue Wendung zu geben. Das ist bemerkenswert und erhöht den Lesespaß gewaltig.

Übrigens im Hotel New Hampshire sind immer Zimmer frei.

Lektüre in den Bergen

Vor einigen Tagen habe ich es bereits vollbracht, die Lektüre von „Die Elenden“ (Les Misérables) von Victor Hugo ist abgeschlossen. Ich bekenne, diesen Roman kein zweites Mal lesen zu werden. Ich bekenne ferner, dass es Kapitel gegeben hat, die ich einfach überblättert habe. Ich gestehe, dabei kein schlechtes Gewissen empfunden zu haben. Ich bin mir sicher, zu der kleinen Zahl derer zu gehören, die überhaupt, diesen Roman (fast vollständig) gelesen haben werden.

Es war Arbeit, Mühe und Plage. Zwischendrin, eigentlich immer, wenn die eigentliche Geschichte erzählt wird, aber auch kurzweilig, abwechslungsreich und unterhaltsam.

Die eigentliche Geschichte ist diejenige des Sträflings Jean Valjean, der vom Saulus zum Paulus gewandelt, sich bemüht nur Gutes zu tun. Durch den Verfolgungswahn eines Polizisten aber öfter gehindert wird, am Ende aber doch in den Himmel kommen wird, weil er sich (das Gute in ihm) einfach durchsetzt. Die Geschichte ist so fürchterlich konstruiert, dass man die Hände über den Kopf zusammenschlägt. Das kann doch nicht wahr sein ruft und es doch weiterliest. Wie gesagt, nur wenn die schon endlosen Betrachtungen über die Schlacht von Waterloo oder die Erläuterungen des klösterlichen Lebens, die Beschreibungen der Kloaken von Paris die Seiten füllen, darf man getrost überblättern. Das herausragende Beispiel ist Waterloo. Fast 60 Seiten (!) werden für die historische Schilderung der Schlacht benötigt (Tolstoi, der auch Schlachten Napoleons schildert, kann dies sehr viel eindrucksvoller), und dann folgt auf einer halben Seite das Begebnis, das für den Fortlauf der Erzählung vonnöten ist. So ist das mit diesem Buch. Bewundernswert ist eigentlich nur, dass der Autor den Stil, dieses getragene Pathos durchhält, dass die Geschichte auf der Kante zur Schnulze, zum Schmalz daher stolziert, aber nicht abschmiert. Das ist schon wieder bewunderungswürdig.

Ich besitze ein Faible für die Romane des Patrick O’Brian. Ich habe es schon geäußert – früher, Ich wiederhole es gern. Für mich gehören die Geschichten über den seetüchtigen Kapitän Aubrey und seinen Schiffsarzt (und Geheimagenten) Maturin zum Urlaub einfach dazu. Egal ob an der See oder wie jetzt in den Bergen. Ich verstehe nichts vom Segeln, ich kann gerade Backbord und Steuerbord auseinanderhalten, aber es ist eine reine Lust die Fortsetzungen dieser Geschichten, die immer wiederkehrenden Beschreibungen von Seeschlachten, schlechtem Wetter, Untergängen, Gefangenschaften und seligen Rettungen zu lesen.

Ich bin jetzt bei Band neun; O’Brian hat zwanzig Bücher geschrieben, ich habe also noch Futter für weitere Urlaube!

Bildung

Dietrich Schwanitz, der Autor des gefälligen Universitätsmilieuromans „Der Campus“, hat einen weiteren Bestseller verfasst. Dieses Mal doch wissenschaftlicher, wie es sich für einen Anglistik-Professor geziemt. Das Handbuch, das ein Wissenskompendium darstellt, nennt er „Bildung – Alles, was man wissen muss“. Das ist ein gewaltiger Anspruch, damit kann man prächtig scheitern. Er tut dies nicht, weil er das Wissen, das er den Lesern vorsetzt, seht hübsch zubereitet hat und ansprechend garniert. Hausmannskost, aber auf feinem Porzellan und gut gewürzt. Mit Metaphern versehen, geradezu vollgestopft, wie eine frisch zum Anzünden bereit gelegte Pfeife. Dies sei ein Zeichen für den gebildeten Autor, schreibt er, also zeigt er, wie gebildet er selbst ist. Die Lektüre dieses Handbuches ist sehr amüsant. Insbesondere die Kapitel über Kritiken und Kritiker und wie man damit umgehen soll. Das ist alles nett geschrieben und gut beobachtet. Man darf nicht alles ernst nehmen, aber es ist anstößig im guten Sinne des Wortes und reflektiert eine – falls vorhanden – eigene Position dazu. Und schließlich der Bildungsbegriff bei ihm ist ebenfalls höchst nachdenklich stimmend: „Bildung ist der Stil der Kommunikation, durch die Verständigung zwischen Menschen zum Genuss wird. Sie ist die Form, in der Geist, Fleisch und Kultur zur Person werden und sich im Spiegel der anderen reflektiert.“

Eines aber geht dem Naturwissenschaftler dann zunächst doch einmal über die Hutschnur, da bezeichnet er nur die geisteswissenschaftlichen Inhalte als Bildungsanteile. Später dann erklärt er in einem Bild diese Haltung sehr eindrucksvoll. Ein junges Paar verliert sich nach dem Abitur aus den Augen. Er studiert Naturwissenschaften, wird Ingenieur, sie Kunstgeschichte oder ähnliches. Als sie sich wieder treffen, ist er nahezu unverändert, nunmehr aber in der Lage eine Familie zu ernähren. Sie dagegen ist weltgewandt, gebildet und findet ihn stinklangweilig. Und spätestens da gibt man ihm schon recht. Zwar gehört zur Bildung auch naturwissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen oder zumindest diese Kenntnisse in größere Zusammenhänge einordnen zu können. Aber eigentliche Bildung ist die Kenntnis von der kulturellen Entwicklung der Menschheit, ihren Umgangsformen und ihren Kommunikationsmöglichkeiten.

n einem aber irrt der Autor. Er spricht von einem Wissenshandbuch, tatsächlich aber offeriert er Informationen. Die Transformation dieser Information in Wissen, muss der Leser leisten. Gott sei Dank!

Frau Sartoris

Schon über den Titel der Erzählung, die die Autorin Elke Schmitter einen Roman nennt, kann man lange nachdenken. Warum den Nachnamen der Frau, die hier als Icherzählerin ihr Leben erzählt? Sie könnte Krause, Maier oder Schulze heißen, es ist egal, auch dass sie Margarethe mit Vornamen heißt, ist bedeutungslos.

Allein ihr Leben ist wichtig, ist interessant. Das erste kurze Glück der Liebe einen Sommer lang, die Heirat mit einem Mann, den sie nicht liebt, als Trotzreaktion. Zwanzig Jahre Leben, in das sie sich einrichtet, ohne zu leben. Dann der Geliebte Michael, der Kulturamtsleiter. Mit diesem Mann will sie ein neues, ein wahres Leben beginnen, ihr Leben. Doch der Kerl ist verheiratet, eingerichtet in ein sehr komfortables Umfeld, das er nicht aufzugeben bereit ist. Er will den Spaß mit ihr, Sex, die Abwechslung. Als ihm klar wird, dass sie mehr will, dass sie mit ihm Zukunft zu gestalten wünscht, bricht er aus. Sie wartet nachts auf dem Parkplatz auf ihn, bereit gemeinsam aufzubrechen. Er kommt nicht. Ihr Abschiedsbrief wird von ihrem Mann zu früh gelesen und nun ist es aus. Sie fällt in Depressionen, sie führt nur noch ein Schattendasein. Hineinmontiert in diese Geschichte, die so völlig ausreichend ist, die vielleicht tatsächlich, wie der etwas übertreibende Hellmuth Karasek meinte, an Emma Bovary erinnern ließe, hineingedichtet ist da noch die Schilderung eines Verbrechens. Frau Sartoris tötet den Liebhaber ihrer Tochter, sie überfährt ihn und will damit ihre Tochter schützen. Dieser Strang der Erzählung ist überflüssig. Die Erzählung ist glänzend; sie hat eine Sogwirkung, der ich mich nicht entziehen konnte. Die Lesenden werden mitgenommen und erst auf der letzten Seite wieder frei gelassen. Eine sehr gut beobachtete, detailgetreue und nie langweilende Erzählung, ein meisterliches Stück Prosa.

Wiederbegegnung mit Hermann Hesse

Nach so vielen Jahren, seit meiner Jugendzeit, als ich selig Narziß und Goldmund, den Steppenwolf und auch das Glasperlenspiel gelesen habe, da bin ich im sogenannten „Hessejahr“ wieder einmal zu diesem wundervollen Schriftsteller zurückgekehrt.

Unterm Rad ist der Schulroman, der den armen Hans zeigt, wie er langsam von einem Schüler, der zu den höchsten Hoffnungen berechtigten Anlass gab, in der Mittelmäßigkeit versinkt und schließlich Opfer seines ersten Gelages wird.

Die Erzählung ist in einem so feinen Ton gehalten, die Schilderung der Umgebung, die freundschaftliche Bande, die Prüfungszeit, der Abstieg, die sich selbst beweisenden Lehrer, alles ist zutreffend. Alles ist ansprechend, alles stimmt. Aber es ist eine alte Sprache, sie ist von gestern. Und ob ich es als Schüler mit Freuden gelesen hätte, wage ich zu bezweifeln.

Aber meine Wiederbegegnung mit Hermann Hesse war dennoch eine schöne, eine gelungene.

Der Badearzt Gräsler

Von Orchestern sagt man, wenn sie wirklich gut sind, dass sie einen eigenen „Sound“ haben. Schriftstellern sagt man dies seltener nach. Wenn es aber auf einen zutrifft, dann ist es Arthur Schnitzler. Der melancholische Ton, der wundervolle Klang. Die genaue Beschreibung der Umgebung, das sich ständig weiter entwickelnde Geschehen der Handlung. Das alles ist so original von Schnitzler.

Die Erzählung „Doktor Gräsler, Badearzt“ ist eine feine Studie über ein Leben, ein durchaus bewegtes Leben, aber dennoch eins, das arm ist und wo sich so besonders viel auch wieder nicht ereignet. Natürlich gibt es die traurigen Töne, das süße Mädel stirbt, der Doktor heiratet und lebt weiter. Das Leben ist so, es muss weitergehen, immer weiter.

Die Ritter vom Geiste

Im Vorwort zu seinem 3600 Seiten umfassenden Roman „Die Ritter vom Geiste“ spricht der Autor Karl Ferdinand Gutzkow seinem Leser Mut zu: „Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich Dich auffordere! Rüste Dich mit Geduld, mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und einem guten aushaltenden Gedächtnis!“

Ja, es war eine weite Wanderung und wie immer von solchen Unternehmungen kommt man mit einer Fülle von Eindrücken zurück. Es sind die guten und auch weniger erquickende Bilder, die einen beschäftigen. So ist es immer. Selten ist alles nur Schwelgerei in der Schönheit des Gesehenen, aber wenn der Gesamteindruck positiv ist, verblassen bald auch die durchschrittenen Öden.

Zunächst zur Handlung. Hier stelle ich einen längeren Auszug aus den Materialien des Werks voran:

„Die Handlung der Ritter vom Geiste beginnt in Tempelheide, einem Vorort der im Roman nie namentlich erwähnten Hauptstadt Berlin. Zwei der Hauptfiguren, der Maler Siegbert Wildungen und der zwielichtige Fritz Hackert, treffen dort aufeinander. Nachdem beide sich einander bekannt gemacht haben, wird ihnen eine Erfrischung von einem Diener eines in der Nähe der Klosterkirche gelegenen Anwesens gebracht, das dem obersten Gerichtsherrn, dem Präsidenten von Harder; gehört. Anschließend machen sich beide auf den Weg in die Hauptstadt. Zuerst begegnen sie einer Kutsche, in der die alle Wohltätigkeitsveranstaltungen besuchende Frau von Trompetta und ihre Begleiterin Fräulein von Flottwitz sitzen, dann Siegberts Bruder Dankmar; der; von einer Reise zurückgekehrt, seinem Bruder die neuesten Nachrichten mitteilen möchte. In seinem Reisebericht erwähnt er einen mysteriösen Schrein, der Akten enthalten soll, die Besitzansprüche der Brüder Wildungen auf Grundbesitz der Stadt belegen können. Der rätselhafte Schrein enthält – wie sich herausstellt – die vermuteten Urkunden, die den Brüdern Dankmar und Siegbert Wildungen umfangreichen Grundbesitz zusprechen; sein plötzliches Verschwinden und Wiederauftauchen führen zu einer Vielzahl von Verwicklungen, die die Handlung vorantreiben. Ein Prinz taucht auf; der inkognito in Paris gelebt hat, wo er mit sozialistischen Arbeitern Umgang pflegte. Nun ist er zurückgekehrt und sucht das Testament seiner Mutter die ihm geheimnisvolle Aufzeichnungen hinterlassen haben soll. Er sympathisiert mit der von den Brüdern Wildungen avisierten Gründung eines idealistischen Geheimbundes, nimmt aber eine Ernennung zum Ministerpräsidenten an, distanziert sich von seinen Freunden und vertritt eine reaktionäre Politik in seinem neuen Amt. Die Perspektive, mit der der Roman schließt, ist die Ausbreitung des neu gegründeten Geheimbundes, der mit seinem etwas unrealistischen Programm für eine Verbesserung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft durch Überwindung der Einzelinteressen zugunsten eines harmonischen Gemeinschaftswesens sorgen möchte. Neben diesem klassischen chronologischen Handlungsverlauf, der immer wieder unterbrochen wird, entwickeln sich viele Einzel- und Nebenhandlungen, die die Haupthandlung – sofern man von einer solchen sprechen will – auflösen und relativieren und ein feines Netz von Beziehungen zwischen den Personen und Orten knüpfen. Dies erreicht der Autor durch ein über zweihundert Figuren umfassendes Romanpersonal und durch eine Vielzahl von Lokalitäten.

Gutzkow versucht, eine Gesellschaft kurz nach dem Revolutionsjahr 1848/49 zu zeigen, ein Zeitpanorama zu gestalten und einen Querschnitt durch eine Zeit im Umbruch zu legen. Im Vorwort der dritten Auflage der Ritter vom Geiste schreibt er: „Die Freiheit der Individuen neben der Notwendigkeit des bezweckten Themas einer Geschichte darzustellen, war meine Absicht, ich überlasse es jedem Unparteiischen, zu entscheiden, ob die allerdings absolute Unmöglichkeit jenes Mechanismus, den ich mit dem alten Templerorden, mit dem Prozess der Gebrüder Wildungen, dem Schrein, dem Bilde, den alten Dokumenten anlegte, sich auch, was ich leugnen muss, mitgeteilt habe dem durch diese Hebel hervorgerufenen Leben. Dass diese Hebel willkürlich sind, dass dieser Mechanismus oft klappert, weil er oft geradezu von Holz ist, darüber möge man doch nicht die Stirne zu sehr in ahistorische Falten ziehen. Man möge darüber lachen.“

Soweit also die Zusammenfassung und eine erste Einordnung des Autors Höchstselbst.

Was soll ich sagen?

Zunächst muss mir ein Vergleich erlaubt sein. Ungefähr in derselben Zeit spielt Hugos Elende. Welch ein Unterschied. Auch hier werden die elenden Schichten beleuchtet, wird gezeigt, wie das Leben im 19. Jahrhundert war. Wie die kleinen Kinder schon herangezogen wurden, um die Familie zu ernähren. Es werden die Mietskasernen gezeigt, das elende Leben in ihnen. Es wird das Leben der Reichen aufgeblättert, es wird der Adel in all seiner degenerierten Hohlheit gezeigt. Das ist so wohltuend gut, das macht Spaß diese genauso konstruierte Geschichte zu lesen und mit den Figuren – wie gesagt an die zweihundert – zu leben, zu leiden und – ja auch – zu lieben.

Der Autor traut sich etwas, er hat einen gewaltigen Atem, er schafft es all die vielen Bälle seines Jonglierens im Spiel zu halten. Die Bälle bleiben in der Luft, keiner stürzt ab. Noch nach dreitausend Seiten führt er neue Figuren ein, beschreibt sie ebenso ausführlich, wie wenn er im ersten Kapitel wäre und gerade die Exposition eröffnet. Nur zum Ende hin führt er die Fäden etwas hastig zusammen, ja vielleicht wirklich etwas hölzern. Aber auch wenn sich das Erzähltempo ändert, wenn sich der Stil verschiebt, Gutzkow vergisst niemanden. Am Ende wissen wir über alle Figuren, was wir wissen müssen, wir bleiben nicht mit offenen Fragen zurück. Der Kreis ist geschlossen.

Das Geld, das die sympathischen Brüder im Prozess gewonnen haben, ist am Ende verbrannt, der Fürst wieder mit seinen Freunden versöhnt, aber innerlich aufgezehrt, ausgebrannt. Die Frauen bekommen ihre Geliebten, die böse Pauline ist entlarvt, ist verbrannt und das Land, es ist Deutschland im Zeitalter des Biedermeiers, ist so wenig einladend, wie Deutschland es wäre, wenn einst Merkel und Koch dieses Land regieren sollten, was die mündigen Wähler verhüten mögen.

Gutzkow ist ein hoch gebildeter Autor, ein Verehrer Goethes. Er hat allerdings eine nicht auszurottende Macke. Er streut, gerade zum Ende hin zu viele Gedichte ein. Die sind zum Teil nicht schlecht, aber das Mittelmaß überwiegt dann doch. Er hätte sich das sparen können. Aber verzeihen wir ihm diese Marotte. Feiern wir das Genie. Und freuen wir uns, von einer langen Wanderung nicht nur heil, sondern auch reich an neuen Eindrücken, zurückgekehrt zu sein.

Nach Spanien, nach Spanien

Meine liebe Frau hat mir zum Geburtstag ein Buch von Derek Lambert geschenkt. In diesem Buch beschreibt der Autor Erfahrungen, die er gemacht hat als er sich mit Frau und Kind in Spanien angesiedelt hat. Ein neues Leben in Spanien, ein Leben „Unter südlicher Sonne“.

Er erzählt von der andersartigen Lebensauffassung, der anderen Art mit Alltagsproblemen umzugehen. Der Ablehnung der Einheimischen und der Annäherung. Sicherlich gelingt die Integration besonders leicht auch deshalb, weil man ein kleines Kind hat, das die Sprache im wahrsten Sinne des Wortes spielend lernt.

Am Ende des Erfahrungsberichtes ist man jedenfalls in der neuen Heimat angekommen und der Leser – also zumindest ich – blickt schon ein wenig neidisch auf diese glücklichen Menschen in ihrem Orangenhain und dem Frühstück auf der Terrasse im November.

Da stößt man dann, Amphitryons Frau Alkmene gleichend, ein überirdisches „Ach!“ aus. Und der Wunsch keimt weiter, selbst eines nicht zu fernen Tages seinen Lebensmittelpunkt in den Süden zu verlegen.

Ein wahres dichterisches Genie

Es gilt an dieser Stelle einfach einmal nur das Lob. Nichts anderes. Wie habe ich seine Romane verschlungen, wie freue ich mich, seine Novellen zu lesen. Dieser Mann muss das Leben gekannt haben, die Frauen, die Zeichen, die Zwischentöne. Dieser Mann muss ein unglaublich guter und intensiver Beobachter gewesen sein. Einer der womöglich immer das Notizbuch mit sich führte; zumindest jemand mit einem guten Gedächtnis für Situationen und Personen. Für Momente, eben für jene Zwischentöne, jene leisen Stellen in der Lebenssinfonie.

Jeder seiner Romane ist so sicher erzählt, ist so „aus dem Leben gegriffen“, dass man jubeln möchte, und ich habe das auch des Öfteren getan. Er ist ein großer Romancier. Ein Genie der Erzählung. Er, Guy de Maupassant.

In dem schmalen Roman, eher eigentlich eine Erzählung, „Pierre und Jean“ schildert er die entscheidenden Momente in dem Leben dieser Brüder. Der jüngere erbt und der ältere erkennt, dass man verschiedene Väter hat. Das Geld, das der jüngere Bruder, Jean, erbt ist von seinem Vater, der lange Jahre hindurch Freund der Familie und Geliebter der Mutter war. Pierre, vom Neid getrieben, bringt die Mutter an den Rand der Verzweiflung und sich selbst sicher auch. Am Ende wird er als Schiffsarzt aus der elterlichen Wohnung fliehen, Jean heiratet und der Vater Pierres, der Ehemann, hat nichts mitbekommen.

So einfach sich das anhört, so spannend kann man das gestalten, mit allen psychologischen Tiefen, mit allen Klippen und garniert mit der wunderbaren Schilderung des Phänomens, das man Liebe nennt. Jean hat seiner angebeteten Dame, einer jungen Witwe, gerade seine Liebe gestanden.

„Sie schwiegen. Und es wunderte ihn, dass sie so wenig verwirrt und so vernünftig war. Er war auf Tändeleien gefasst gewesen, auf Weigerungen, die ‚Ja’ bedeuten, auf eine kokette Liebeskomödie beim Fischen, beim Wasserplätschern! Und nun war schon alles aus und vorbei, nach zwanzig Worten fühlte er sich gebunden, verheiratet. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen, da sie bereits einig waren, und jetzt saßen sie beide ein bisschen verlegen um dessen willen da, was sich zwischen ihnen so schnell vollzogen hatte; sie waren sogar ein bisschen bestürzt; sie wagten nicht mehr zu reden, nicht mehr zu fischen; sie wussten nicht, was sie tun sollten.“

Grandioser kann man nicht beschreiben, wie schnell der Rausch verfliegt, wie schnell sich Ratlosigkeit und Sprachlosigkeit über zwei Menschen legt. Und wie sehr es offenbar nur auf das Spiel, auf das auf den Punkt zutreiben ankommt, nicht auf das Ende. Der Weg ist das Ziel. Es ist so fabelhaft stimmig beschrieben, schlicht genial.

Eine Lektüre seiner Romane sollte Pflicht werden, man kann das Leben, die Liebe und die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht besser, nicht schöner darstellen.

Ein Genie!

Die Verwandlung

Natürlich habe ich während meiner Schulzeit die eine oder andere kurze Geschichte von Franz Kafka gelesen. Aber seine Romane stehen noch auf meiner Leseliste und die Erzählung „Die Verwandlung“ stand auch darauf. Sie habe ich nun gelesen. Jene absonderliche Geschichte von Gregor Samsa, der eines Morgens erwachte und sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt fand.

Wie sie deuten?

Gab es diese Metamorphose wirklich, ist es nur Metapher? Ist es die Geschichte von einem, der sich von der Familie abnabelt, nicht mehr für sie sorgen will? Geht es so zu, wenn Menschen sich trennen? Die Verwandten tolerieren die Verwandlung eine Weile, dann kippt die Stimmung um. Am Anfang umhegt und gepflegt, wird Gregor später gehasst, vernachlässigt. Der Plan, ihn umzubringen, ist die konsequente Fortsetzung. Er kommt diesem Plan durch seinen eigenen Tod zuvor.

Eine dichte Geschichte. Man muss sie gelesen haben, aber man muss sich nicht einen Kopf darum machen, sie, um jeden Preis zu interpretieren.

Neuland

Der Roman Neuland von Iwan Turgenjew ist gar eine seltsame Geschichte.

Auf der einen Seite zeigt er „den Russen“ und erklärt fast ein halbes Jahrhundert vor der Revolution, warum diese letztlich scheitern muss. Auch wenn es dazu dann siebzig Jahre brauchte. Auf der anderen Seite wird der Mehltau, der über allem zu liegen scheint, fast aus jedem Satz spürbar. Es ist eine zähe Erzählung, die aber gleichwohl den Leser nicht so ohne weiteres wieder freigibt.

Ich merke, dass ich mich ambivalent verhalte. Da ist Respekt vor der erzählerischen Leistung und dem Weitblick des Autors. Da ist aber auch Skepsis und im Hintergrund die Frage, ob dieser Roman denn notwendig war. Aber die Frage stellen, heißt sie in diesem Falle verneinen, da eine solche Diskussion heute nichts mehr bringt.

Ich habe den Roman gelesen und freue mich schon auf andere.

Emma

Immer wenn ich mal einfach etwas „Nettes“ lesen möchte, etwas weniger anspruchsvolles, aber unterhaltsames und dennoch eine bestimmte Epoche trefflich beleuchtend, dann kann ich zu den Romanen der Jane Austen greifen. Da kann ich nichts falsch machen!

Ich griff dieses Mal zu „Emma“. Diese junge Titelheldin möchte ihre Umgebung verheiratet sehen, dabei aber selbst ungeschoren davonkommen. Das funktioniert natürlich nicht und am Ende sind alle verheiratet, die verheiratet sein können. Und vor allem, alle haben den Partner, die Partnerin bekommen, die sie verdienen. Alles ist in ein freundliches, biedermeierliches Licht getaucht und alles liest sich „gefällig“.

Das klingt jetzt überheblich und ironisch, ist aber so gar nicht gemeint. Denn erstens ist es eine Kunst, so schreiben zu können und zweitens zeichnet sich ein Gesellschaftsbild in einem England, das offensichtlich keine Not und Armut, keinen Hader und Krieg kennt. Eine Gesellschaftsschicht tritt einem entgegen, die einzig und allein damit beschäftigt zu sein scheint, es sich gut gehen zu lassen. Und so erzählt Emma mehr als man denkt und unterhält mehr als man glaubt.

Fortunata und Jacinta

Ich melde mich von einer längeren Reise aus Spanien, aus Madrid zurück. Nein, ich war nicht physisch dort, ich habe nur den bemerkenswerten Roman von Benito Pérez Galdós „Fortunata und Jacinta“ gelesen.

Kurz geschildert, was bei einem Inhalt, der auf fast 1300 Seiten ausgebreitet wird, nicht ganz leicht ist, handelt der Roman von der Liebe zweier Frauen zu einem Mann und ihrer gegenseitigen Rivalität. Beide lieben den Mann, der mit der einen verheiratet ist und mit der anderen ein Verhältnis hat. Beide kommen nicht los von ihm, die eine schließlich nur durch ihren Tod. Die eine wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind, die andere bekommt dieses. Hatte schon eines, das ihr wegstirbt und an dem zweiten wird sie sterben. Die andere wird für das Kind sorgen, der Stammhalter ist da.

Das ist die raue Oberfläche, die Hülle dieses Romans. Natürlich ist da viel, viel mehr. Die Beschreibung des Lebens in Madrid. Die Caféhausszenen, das Leben in den vornehmen Bürgerhäusern, dasjenige in den armen Familien. Die Auseinandersetzung mit dem Treuebegriff im Macholand Spanien. Der Einfluss der Frauen auf die Politik, auf das Leben schlechthin. Starke Figuren werden uns vorgeführt, sie werden durch den Roman manövriert, nie fallengelassen, sondern immer wieder kommt der Autor auf sie zurück. Schön, wie er sich manchmal von seiner Erzählung, von den handelnden Personen distanziert. Er hält die Fäden in der Hand, selbst wenn er manchmal nur noch einen Satz über die Person, die über viele Kapitel nicht mehr auftauchte, verliert, aber es ist eben doch der eine Satz, der die Abrundung erreicht.

Am Ende blendet er uns und sich beinahe aus der Geschichte aus, sie könnte weitergehen, sie ist nicht wirklich beendet, sie hat nur einen dramatischen Höhepunkt erreicht, eben den Tod der Fortunata und damit den nicht mehr zu überbietenden Gipfel des ganzen Werks. So bleibt man zurück, so geht man aus einer Geschichte, die irgendwie weitergeht, aber es ist nicht mehr die Geschichte, die uns der Autor hier erzählen wollte.

Ein Meisterwerk!

Ein literarischer Höhepunkt, Weltliteratur!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Die wunderbare Leichtigkeit des Milan Kundera

Gerade habe ich den Roman „Die Unwissenheit“ von Milan Kundera beendet und mir fällt auf, dass ich bisher nie über seine Werke geschrieben habe, obwohl ich doch schon einiges von ihm gelesen habe. Natürlich „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, aber auch „Die Unsterblichkeit“ und „Abschiedswalzer“. Vielleicht sogar noch ein weiteres Werk, aber das will mir nicht sofort einfallen. Und immer, immer habe ich seine Geschichten aufgesogen, wie ein gänzlich ausgetrockneter Schwamm auch die kleinsten Wassermengen aufnimmt. Sein Stil ist so unverwechselbar, geradezu von dem Kundera Ton könnte man sprechen, wie auch Bigbands einen unverwechselbaren Sound haben, so hat auch ein Kundera Roman diesen ganz eigenen Sound. Weich und einschmeichelnd, anschmiegsam und auch immer sehr gescheit, reflektierend, erklärend. Die Geschichten mit einem Sog, den zu entziehen, ich mir nicht gestatte. So sind diese Romane allesamt Meisterwerke und schon lange denke ich, dass dieser Mann, ebenso wie Harry Mulisch den Nobelpreis verdient hat.

In der „Unwissenheit“ beschreibt er das Aufeinandertreffen zweier Menschen, beide seit zwanzig Jahren nicht mehr in Böhmen lebend, beide auf der Suche ihrer Vergangenheit, beide zufällig aufeinander aufmerksam geworden. Er kann sich nicht einmal an sie erinnern, vielleicht irrt sie sich ja auch, ihn überhaupt zu kennen. Aber das ist alles nebensächlich. Eine Geschichte entsteht und zehn andere an ihrem Rand und weitere in den Köpfen der Leser. Ein Magier, dieser Mann und ein wundervoller Schriftsteller mit dieser – fast – unerträglichen Leichtigkeit seines Sounds.

Erniedrigte und Beleidigte

Dieser Roman von Dostojewski ist der Roman über eine unerwiderte Liebe. Der Erzähler liebt ein Mädchen, dieses liebt einen anderen, der wiederum ein anders Mädchen liebt. Und unser Erzähler wird von einem jungen Mädchen geliebt, fast einem Kind noch, deren Herz aber schwach ist und die an dem Leid, dem vielen ihr zugefügtes Leid stirbt. Auch ein Bösewicht jagt durch diesen, wie im Fieberrausch geschriebenen Roman. Ein Fürst, der über Leichen geht, wenn es ihm einen Vorteil bringt. Der selbst nicht davor zurückschreckt, seinen Sohn für seinen Vorteil einzusetzen und damit rücksichtslos die Liebe eines Mädchens zu zertreten. Ein Typ, wie es ihn immer gab und immer geben wird. Einer, der jemanden zu umgarnen versteht, wenn es sein Kalkül erfordert, einer der aber ohne jeden Skrupel seinen Vorteil wahrnimmt.

Am Ende ist wahrscheinlich, dass der Erzähler bald selbst sterben wird, es sei denn, dass alles, was er uns erzählt hat nur ein Traum war oder einer seiner Romane oder …?

In jedem Fall ein wahrlich starker Roman! „Erniedrigte und Beleidigte“.

Liebesleben

Ach, wie ich diese Übertreibungen der Literaturkritik hasse. Insbesondere diejenigen der sogenannten Kritikerpäpste. Früher saßen sie im literarischen Quartet zusammen und überboten sich in Lobeshymnen oder Verrissen. Jetzt gehen sie getrennte Wege, aber immer noch bedeutet der nach oben gestreckte Daumen eine höhere Auflage und der nach unten weisende den Weg der ersten Auflage bereits in das moderne Antiquariat.

Vor einigen Jahren hat man den Roman der Israelin Zeruya Shalev, „Liebesleben“, hochgelobt. Er gehöre zum Besten, was er in den letzten Jahren gelesen habe, meinte Reich-Ranicki. Und der inkompetente Karasek faselte etwas von „hocherotisch“. Selbst Iris Radisch fand ihn wegen der Sprache hinreißend.

Können sich so viele hochmögende, gescheite Leute täuschen? Ich wartete ab, bis die Taschenbuchausgabe auf dem Markt erschien und kann nun selbst urteilen.

Eine junge verheiratete Frau verliebt sich in den Freund ihrer Eltern, einem alten Kerl ohne Potenzprobleme, der sich nicht darum kümmert, was sie fühlt oder will. Er, der alles erlebt hat und dessen Frau gerade stirbt und der sich mit der jungen Dame tröstet, die ihren akademischen Lebensweg verstolpert, die ihren Mann verlässt, sich erniedrigt und irgendwie aufgibt.

Nie wird klar, warum. Der Kerl scheint nicht besonders zu vögeln, es kann keine sexuelle Abhängigkeit sein, es kann nur etwas Tieferes sein. Will sie ihm die Liebe geben, die ihre Mutter ihm einst verweigerte, weil er unfruchtbar war und ihre Mutter sich vor allem Kinder wünschte, die sie dann mit dem Freund, dem Vater des jungen Mädchens bekam. Aber der über ihr liegende Fluch nahm ihr den gerade geborenen Bruder des Mädchens sehr bald wieder fort. Eine Amour fou, die hier erzählt wird, aber ein großer Roman?

Nein. Ein lesbares Buch, aber nie fesselnd, nie mitreißend. Nicht hocherotisch, nicht von so überragender sprachlicher Qualität. Viel zu durchsichtig, wie häufig sich die Autorin in Metaphern äußert, so lernt man das bei einem Seminar über kreatives Schreiben.

Nein, ein durchschnittlicher Roman, kein Lesevergnügen, keine Empfehlung. Vorhang zu und leises Buh.

Irving und wie er die Welt sah

Gute Schriftsteller lassen sich von anderen vor allem dadurch unterscheiden, dass sie verschiedene Themen behandeln können, dass sie nicht stets das gleiche Sujet ausschlachten. Natürlich gibt es dabei wieder Meister ihres Fachs, die es verstehen das Sujet so zu variieren, dass man vor Respekt nur den Hut zu ziehen in der Lage ist. Ich persönlich bevorzuge einen Schriftsteller, der viele Themen aufgreift, der nicht nur über sein Leben schreibt, jedenfalls nicht so augenfällig. Natürlich kann jeder Schriftsteller nur Dinge aufgreifen, die er selbst erlebt oder erzählt bekommen hat. Er kann gar nicht anders, aber die Art und Weise, wie dies geschieht, macht den Unterschied.

Jetzt habe ich wieder einmal einen Roman von John Irving gelesen, dem Vernehmen nach seinen ersten: „“Garp und wie er die Welt sah“. Wieder die bekannten Themen, eine Pension in Wien mit schrägen Typen aus dem Zirkusmilieu. Nutten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ein Hund, einige fiese Typen, einige weniger fiese Typen und viele Todesfälle, auch ein Flugzeugabsturz (es lebe die Flugangst von Mr. Irving). Viel Sex, verschiedene Praktiken, alles recht gefällig. Aber, aber, diese Geschichten sind abgeschmackt, sind ausgelutscht. Sie bringen keine besondere Sicht auf die Welt, sie zeigen die Welt nach Irving. Das ist eine, die nicht meine ist, die mich nicht interessiert und mich auch nicht mehr belustigt.

Jede spätere Geschichte ist ein Aufguss, ist nichts weiter als das immer und immer wieder neue Aufrühren einer schlammigen Scheiße. Es wird braun und undurchsichtig. Das ist alles; das ist zu wenig! Für diese klaren Worte, bitte ich um Nachsicht!

Einen weiteren Roman von Mr. Irving werde ich nicht mehr lesen.

Genug ist genug!

Grisham, auch nicht mehr

Nun habe ich einen weiteren Roman von John Grisham gelesen. Ich übersetze den Titel mit „Die Vorladung“, im Original heißt er „The Summons“. Es ist eine schwache Geschichte Grishams, nur selten kommt die notwendige Spannung auf und die Geschichte funktioniert auch nicht richtig.

Angesehener Richter stirbt, einer seiner Söhne findet sehr viel Geld im Hause des Richters und mindestens noch jemand weiß um diesen Fund und will ihm das Geld wieder abjagen.

Ganz nett, aber eben doch nicht richtig funktionierend. So ist man froh, dass dann irgendwann alles klar ist, oder zumindest fast alles. Was sonst noch bleibt, ist der Beschluss, nun auch keinen Grisham Roman mehr zu lesen. Da möchte ich dann meine kostbare Zeit doch lieber mit literarischeren Schwergewichten verbringen oder zumindest so köstlich unterhalten werden, dass ich mich nicht beklagen kann.

Über die Diktatur der Ökonomie

Der Zeit- und Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit hat ein Buch über die Diktatur der Ökonomie und ihre Folgen unter dem Titel „Unser effizientes Leben“ geschrieben. Er stellt darin schlicht fest, dass in allen Bereichen unseres Lebens die Unternehmensberatungskultur Einzug gehalten hat. Alles wird unter dem Blickwinkel der Effizienz gesehen. Wir werden als Kunden betrachtet, selbst dort wo wir vielleicht besser Bürger bleiben sollten. Die Konformität der Einkaufspassagen, die ökonomische Ausrichtung in der Kunst und in der Wissenschaft, das alles seien Warnsignale vor der McKinseyierung unserer Gesellschaft.

Die Warnung dieses Buches ist ernst zu nehmen, dieses Buch ist ernst zu nehmen; es könnte anderenfalls bald zu spät sein.

Die Familie Rougon

Ich habe mich auf einen längeren Weg begeben. Ich werde nach und nach den Zyklus „Die Rougon-Macquart“ lesen. Mit dem ersten Teil dieses Epos, eben jenem „Das Glück der Familie Rougon“ von Emile Zola habe ich begonnen.

Vor dem Hintergrund des zweiten französischen Kaiserreiches wird die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie ausgebreitet. Der erste Band dieses Werks ist kunstvoll komponiert. Nur wenige Tage des Dezembers 1851 werden erzählt, aber immer wieder gibt es Rückblenden. Auch die Handlungsebenen wechseln, es wird dann häufig wieder etwas zeitlich versetzt erzählt. Wir wissen schon, was passiert ist, wir bekommen es nur aus einer anderen Perspektive erneut dargestellt.

Das ist meisterhaft. Es ist eine große Komposition. Sie zeichnet sehr detailliert einige Mitglieder dieser Familie, zeigt die Geldgier und Ruhmsucht der meisten ihrer Mitglieder und lässt doch auch schon deren Unterschiede deutlich werden. Darüber hinaus ist der Roman auch ein wunderschöner Liebesroman. Die schöne Annäherung zweier junger Menschen, anfänglich noch kindliches Spiel, dann aufkeimende Leidenschaft, die leider unerfüllt bleiben wird, weil beide Liebenden sterben. Auch dieses Sterben ist – man verzeihe mir diesen Ausdruck – so lebendig dargestellt, dass man den Eindruck bekommt, der Autor hat einige Erfahrungen im Sterben.

Ich werde nun nicht alle weiteren neunzehn Bände sofort nacheinander „konsumieren“, nein ich werde es langsam angehen und immer wieder zu Gast sein bei dieser Familie Rougon.

Spielhagen

Es ist an der Zeit, einige Geheimnisse zu lüften.

Als ich mich auf den Weg machte, mir die Literatur unserer Welt ein wenig zu erschließen, war ich unter anderem angeregt durch das Beispiel des Rolf Vollmann, der sehr viele Bücher in seinem Leben gelesen, nahezu gefressen hat und darüber einen außergewöhnlichen Literaturführer verfasst hat. Er nennt dieses Werk einen Roman-Verführer und im Haupttitel charakterisiert er die Dichter als „Die wunderbaren Falschmünzer“.

Ohne ihn hätte ich so wunderbare Autoren wie Eça de Queiroz oder Perez Galdós, Maupassant oder Zola erst später oder auch gar nicht kennen gelernt. Ihm nun, der durchaus einen mir nicht unähnlichen literarischen Geschmack zu haben scheint, verdanke ich auch die Begegnung mit Friedrich Spielhagen.

Ich lese, jawohl zu der Zeit, da ich dies schreibe, lese ich tatsächlich noch, seine „Problematische Naturen“. Ich bin bei seiner Fortsetzung, seiner zweiten Abteilung, wie er es nennt, „Durch Nacht zum Licht“. Aber ich musste mir einfach schon einmal etwas von der Seele schreiben, denn ich bin in diesen Roman eingetaucht, wie selten in einen anderen zuvor. Ich kann verstehen, dass zur Zeit des Erscheinens dieses Romans die Leute euphorisch reagiert haben. Spielhagen war Kult, sein Roman so stark beim Leser verankert, dass der Name Melitta einer der meistgetauften seiner Zeit war. Ja, auch unsere Vorfahren waren genauso bescheuert wie die heute Lebenden. Und wetten, dass die nachfolgenden nicht anders sein werden.

Den Roman werde ich später, wenn ich ihn in Gänze gelesen haben werde, besprechen. Ich will nur damit beginnen, dass ich deutlich machen will, dass der Mann hart an der Grenze zum Schnulzigen schreibt. Es ist zum Teil schon manchmal fast Literatur aus der Regenbogenpresse. Es ist alles sehr konstruiert, alles ein wenig zu sehr auf dem Reißbrett entstanden, nicht wirklich organisch gewachsen. Aber und dieses aber wiegt Tonnen, es macht nichts, es ist einfach ein so schöner, so zu Herzen gehender Roman, dass man ihm alles verzeiht. Ich bin eingetaucht sagte ich und das stimmt und ich habe genug Luft, um noch lange in diesem Gewässer zu bleiben.

Nun habe ich die Lektüre in der Zwischenzeit beendet und bin bereit einiges von dem aufzuschreiben, was mir wichtig erscheint und mitteilenswert. Denn das Urteil oder der Ratschlag steht ohnehin schon fest, man muss diesen Roman selbst gelesen haben.

Woher stammt der Titel?

Es ist ein Goethescher Ausdruck und kommt, sagt der Baron Oldenburg im Roman, an einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat. Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, in dem sich das Leben ohne Genuss verzehrt.

An anderer Stelle wird diese Definition noch ein wenig ergänzt. Der Held, Oswald Stein, wird dabei von einem ihm freundschaftlich zugetanen Arzt folgendermaßen charakterisiert:

„Ich habe Ihnen in der letzten Zeit ein eingehendes Studium gewidmet, und gefunden, dass Sie eines der vortrefflichsten Exemplare einer in unseren Tagen ziemlich weit verbreiteten Spezies generis humani sind, Nachkommen des weiland vom Teufel geholten Doktor Faustus, Faustuli postumi, sozusagen, die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einher spazieren; im Übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zum Genuss taumeln, und im Genuss nach Begierde verschmachten.“

Da haben wir schon die ganze Hintergrundpsychologie dieses Romans. In der Tat taumelt der Held, ein junger aristokratischer Mann aus dem einfachen Volk, was nicht stimmt, weil er in Wirklichkeit ein einfacher Aristokrat ist, will sagen, weil er der Spross eines Barons mit einem jungen bildhübschen Bürgermädchen ist, von Begierde zu Genuss, um wieder der Begierde nachzuspüren.

Der Roman spielt vom Juni 1847 bis zum März 1848.Zunächst auf Rügen und in Stralsund, dann schließlich in Berlin. In dieser kurzen Zeit gaukelt Oswald einem Schmetterling ähnlich von einer Blume zur nächsten. Melitta, schon erwähnt, heißt die erste, Helene und Emilie sind die anderen zwei. Der Roman muss zu schrecklichen Höhepunkten hinaufgeschraubt werden, es wird viel gestorben in diesem Roman. Eine nicht zu überlesende Todessehnsucht dringt durch die Zeilen. Man muss Acht geben, von diesem süßen Trunk nicht zu viele Tropfen aufzuschnappen.

Die genannten Frauengestalten sind wundervoll hingebungsvoll geschildert, in Liebe zerfließend, nach Liebe schmachtend. Emilie brennt mit Oswald durch, leider wird dann von ihrem weiteren Schicksal nichts mehr mitgeteilt. Es steht zu mutmaßen, dass sie mit ihrem Bruder durch die Welt zieht. Helene wird als starke Frau einsam zurückbleiben und Melitta Oldenburg ehelichen. Der ist ein Ritter vom Geiste aus Gutzkows Roman importiert, der im Barrikadenkampf auf der Seite des Volkes steht, der Oswald seine Freundschaft anbietet, obwohl er weiß, dass dieser Mann sein Rivale im Kampf um Melittas Herz ist.

Eine weitere Frauengestalt ist in dem Roman mehr als sympathisch dargestellt. Sophie heißt sie und ist der praktische Gegenentwurf zu Helene. Natürlich ist der Roman voller anderer köstlicher Charaktere, deren Lebensläufe geschickt erzählt und in die Geschichte verwoben werden. Satire, Ironie und tiefere Bedeutung an allen Ecken und Enden. Da wird sich über dilettantische Dichterinnen lustig gemacht, da wird von den Abendvergnügungen des gebildeten Bürgertums berichtet. Von den Vergnügungen des Landadels und dem vorrevolutionären Treiben im Deutschland des Jahres 1848 auch.

Oswald muss auf den Barrikaden den Tod finden, anders könnte dieser Roman nicht schließen, anders können „problematische Naturen“ nicht zur Ruhe kommen. Das ist für eine problematische Natur wie mich keine tröstliche Nachricht, aber es ist die Botschaft dieses Werkes.

Ein Roman, und dieses Fazit, schon geäußert, sei wiederholt, den man selbst gelesen haben sollte.

Lehrerzimmer

Eine Satire mit Titel Lehrerzimmer ist von einem ehemaligen Lehrer namens Markus Orths erschienen. Es werden die ersten Tage im Leben eines Lehramtskandidaten an einem schwäbischen Gymnasium geschildert. Das Lehrerkollegium ist ein Monsterkabinett, der Direktor eine faschistoide Wanze und man fragt sich, ob Schule wirklich so oder so ähnlich funktioniert.

Das Erschreckende ist, dass man nach nur wenigen Seiten geneigt ist, dies zu glauben. Es ist der reinste Horror, es ist erschreckend und man wundert sich dann nicht mehr, dass die Schule so von vielen Schülern empfunden wird, wie sie nun einmal empfunden wird.

Man wundert sich, wie man selbst da so halbwegs unbeschadet durchgekommen zu sein scheint. Na ja, eben scheint!

Kinder der Welt

Paul Heyse hat einen Roman mit dem Titel „Kinder der Welt“ vor rund 125 Jahren vorgelegt. Heyse stellt den Kindern der Welt sogenannte Gotteskinder gegenüber. Letztere sind solche, die im christlichen Glauben aufgewachsen sind und in Wirklichkeit Pharisäer wurden. Seine Weltkinder sind ohne den christlichen Glauben aufgewachsen, sind geradlinig und gut.

In der Geschichte verliebt sich der Held Edwin in eine wunderschöne geheimnisvolle Frau, die nicht lieben kann, der es reicht, ein freundschaftliches Verhältnis zu Edwin zu unterhalten. Als er sie vor die Alternative des Alles oder Nichts stellt, ist er sie los und fällt in eine tiefe Depression, die noch durch den Tod des geliebten aber schwachbrüstigen Bruders vergrößert wird.

Er heiratet dann eine ehemalige Schülerin, wird aber der Schönen wieder begegnen, wird wieder sehr verwirrt und schlussendlich bei seiner Frau bleiben. Also alles gut.

Ich habe das jetzt nicht gerade sehr vorteilhaft dargestellt. In Wirklichkeit ist dies ein sehr lesenswerter Roman, ein großes Werk, eines fast vergessenden Schriftstellers, obwohl er vor hundert Jahren den Literaturnobelpreis erhielt.

Vom Sinn der Aufzeichnungen

Ich habe bei der Heimfahrt von meiner Arbeit gedacht, es wäre an der Zeit doch einmal zu begründen, warum ich meine Anmerkungen über Bücher und Filme und an anderer Stelle über Theateraufführungen zu Papier bringe. Ich bin weder berühmt noch bedeutend. Niemand hat mich je gebeten und wird mich je bitten, meine Meinung zu Goethes Werther zu äußern oder die Kinder des Olymps zu besingen.

Dass ich dies dennoch tue, liegt daran, meine eigenen Gedanken doch festhalten zu wollen und auch mir Rechenschaft darüber zu geben, was ich eigentlich so mit den mir zugedachten Lebensstunden angestellt habe.

Ich habe schon lange bevor ich anfing Gedanken über das Gesehene oder Gelesene niederzuschreiben, Filme gesehen und Bücher gelesen. Niemand sollte also denken, dass das hier zu Lesende alles gewesen ist. Leider kann ich mich zum Teil nicht mehr erinnern, was in diesem oder jenem Roman vorkam und schon gar nicht daran, wie es mir denn gefallen hat. Ich weiß auch nicht, ob ich alle die früher gelesenen Bücher noch einmal werde lesen können beziehungsweise lesen mag. Böll, Lenz, alles von Grass, Salinger natürlich und auch den Werther oder die Wahlverwandtschaften; das Fräulein von Scuderi aber auch Claude Simon. Das alles liegt in tieferen Schichten und wartet darauf doch noch einmal gehoben zu werden.

Nun hängt an meinem Bücherschrank aber eine wundervolle Karikatur. Darauf ist ein Psychiater zu sehen und dessen Patient. Jener liegt auf dem Sofa. Im Hintergrund ist ein gewaltiges Bücherregal zu sehen und der Mann sagt, dass ihn all die ungelesenen Bücher bedrücken würden. Just so geht mir das auch zuweilen. Da freue ich mich mitten in der Lektüre eines Romans schon auf den nächsten. So wie einer, der schon mit der nächsten Geliebten flirtet, während er noch in einem anderen Abenteuer verstrickt ist.

Da kann ich mir noch keine Wiederholung gestatten. Aber das eine oder andere Buch möchte ich schon gern eines Tages ein zweites Mal lesen und mich an der Geschichte erneut erfreuen, vielleicht auch ganz andere Dinge entdecken. Wer weiß.

Zurück zu meiner Heimfahrt. Ich kam auf die Idee vielleicht nach der Lektüre von tausend Romanen und Erzählungen meine Aufzeichnungen, die zurzeit ja sehr chronologisch sind, neu zu ordnen und dann vielleicht doch einem Verlag anzubieten. „Lesehilfe“ ist kein so schlechter Titel. Ich möchte Anregungen geben, zum Entdecken aufrufen, selbst wenn ich abrate, erwarte ich Widerspruch und will eigentlich, dass man dann erst recht das Buch liest.

Elke Heidenreich hat gerade eine – wie ich finde – sehr schöne Fernsehsendung gestartet, die „Lesen“ heißt. Sie will zum Lesen anregen, weiter nichts. Das ist ein sehr hehres Ziel. Abertausend Bücher habe ich noch nicht gelesen, auch die eingerechnet, die von mir nicht beschrieben wurden in diesen Aufzeichnungen. Also heißt es zunächst einmal, munter weitermachen.

Am Ende will ich dann aber auch so eine Art Rangliste zusammenstellen, ja, ja eine Art Kanon. Mal sehen, wer da später oben auftaucht. Jetzt wäre es Maupassant!

Also genug geschwafelt: Weiterlesen!

Roman der Abschweifungen

Ich gebe es sofort zu: Ich habe die Lektüre dieses Romans mit seinen rund 800 Seiten nach der Hälfte abgebrochen.

Ich war, bin noch ganz zerschlagen. Der Autor hat mich geschafft. Er gibt vor, sein Erzähler schreibe seine Lebensgeschichte auf. Brav mit der Geburt beginnend und sich dann längs der Lebenslinie hangelnd, fortzufahren. Unser Autor aber braucht fast die Hälfte seines Romans, um sich überhaupt zur Welt zu bringen. Die Zeit davor verbringt er mit den Schilderungen der tiefgeistigen Gespräche seines Erzeugers und dessen Bruders über, ja worüber? Über alles und nichts. Über die ersten und die letzten Dinge des Lebens. Der Dichter schweift umher, schweift ab und macht sich über sich und seine Leser schamlos lustig. Er kann schreiben, kann ständig den Narren spielen. Es scheint das ironische Antlitz des Mannes immer wieder durch. Sein schalkhaftes Lächeln schaut aus jeder Seite. Und ich gestehe, dass es Spaß gemacht hat. Aber andererseits ermüdete mich die Lektüre dieses Romans in unglaublichem Maße. Kaum hatte ich zehn oder maximal zwanzig Seiten gelesen, dann nickte ich langsam ein, schlummerte weg und musste mich dann erst wieder zur Aufnahme der unterbrochenen Lektüre zwingen. Ich habe den allergrößten Respekt vor diesem Autor und ich kann kaum glauben, dass dieses Werk fast 250 Jahre alt sein soll. Es ist moderner als so mancher Roman eines Zeitgenossen. Der Mann war ein großer Autor, nicht nur seiner Zeit. Ich werde die Lektüre auch wieder – eines Tages – aufnehmen. Zunächst aber lege ich das Buch ins Regal zurück. Nach so vielen Abschweifungen verlangt es mich nach einfacheren Leselinien.

Nur der Vollständigkeit halber seien Autor und Titel noch erwähnt: Laurence Sterne; Tristram Shandy.

Traumnovelle

Ein sonderbares Buch!

Es ist nicht oder zumindest nicht durchgängig in jenem „Sound“ gehalten, wie sonst die Erzählungen Arthur Schnitzlers. Es ist, ja das trifft es wahrscheinlich genau, somnambul. Ist es ein Traum, der erzählt wird, ist es eine ungeheure wahre Begebenheit? Ich weiß es nicht. Der Held der Traumnovelle schwimmt in Gefühlen, in Obsessionen und strandet dennoch nicht, sondern wird zärtlich durch das Klopfen des Hausmädchens in den Armen seiner Gattin geweckt. Nichts ist eigentlich passiert. Eine Orgie in mysteriöser Umgebung hat vielleicht stattgefunden; ein unbekanntes Wesen ihn gerettet – vielleicht um den Preis des eigenen Lebens. Ein Mensch stirbt, ein anderer gesteht unserem Helden seine Liebe, die er nicht erwidert. Und am Ende ist vielleicht alles nur ein Traum. Das Leben ist Traum.

Ein sonderbares Buch, das lesenswert ist!

Die Maias

Die portugiesische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zumindest die oberste Schicht, muss ziemlich dekadent gewesen sein. Eigentlich ist dieser große Roman – die Maias – dieses großen Schriftstellers, José Maria Eça de Queiroz, eine einzige Anklage gegen eine verlotterte, mit sich selbst beschäftigte, müßiggängerische Gesellschaft. Manches könnte auch bei Dostojewski oder Tschechow stehen und wäre dann das Spiegelbild der russischen Gesellschaft.

Vielleicht waren diese Gesellschaften alle mehr oder weniger dekadent, müßiggängerisch und eigentlich völlig unschlüssig über ihre Daseinsberechtigung. Fast am Ende des zweiten Bandes nach insgesamt mehr als 700 Seiten wird dem Leser folgende Erkenntnis seiner beider „Helden“ mitgeteilt: „‚Wir sind im Leben gescheitert, Kleiner! ’ ‚Ich glaube, dass dem so ist …. Aber alle Welt scheitert mehr oder weniger. Das Leben, das man mit Phantasie geplant hat, scheitert nämlich immer an der Wirklichkeit. Man sagt: Ich will so sein, weil es herrlich ist, so zu sein. Und niemals ist man so, man ist dauernd in der Klemme (…). Manchmal geht es besser, aber immer ist es anders. ’“

Das ist die Quintessenz, nicht nur dieses Romans. Damit könnte ich schließen.

Aber ich will doch noch etwas mehr über diesen Roman verraten. Er ist auch ein Buch über die große Liebe, die einem, wenn man Glück hat, einmal im Leben begegnet. Hier begegnet sie Carlos in Gestalt seiner eigenen Schwester. Natürlich wissen beide nichts von ihrer Verwandtschaft, zunächst. Es ist also auch ein Roman über Inzest, auch einem Symbol für die verfaulte (portugiesische) Gesellschaft?

Der Autor lässt sich sehr viel Zeit mit seiner Erzählung, sie kommt nur langsam in Gang, dabei ist allerdings kein Satz unbedeutend und wie selbstverständlich wird auf das eine oder andere zurückgegriffen. Dann aber nimmt, einem an Fahrt aufnehmenden Eisenbahnzug gleichend, die Erzählung mächtig an Geschwindigkeit auf. Sie rast auf den dramatischen Höhepunkt zu, hinterlässt Opfer und klingt dann beinahe banal aus. Das Schicksal von Maria, der schwesterlichen Geliebten, wird für meinen Geschmack zu oberflächlich abgehandelt, aber das ist eine vernachlässigbare Mäkelei an einer großen epischen Dichtung!

Patrick O’Brians Seefahrtsgarn

Nun bin ich bei Band 11 angelangt. Es ist immer noch eine wundervolle Ferienlektüre. Auch wenn sich Patrick O’Brians Schilderungen von Schlachten und Verfolgungen auf hoher See wiederholen, die Darstellungen von Stürmen und nahezu aussichtslosen Situationen einem bekannt vorkommen. Gerade am Meer, wenn man das Salzwasser selbst geschmeckt hat, die Sonne auf der Haut spürte und die Windstille gern überwunden sähe. Gerade wenn man Port Mahon mit eigenen Augen gesehen, dann ist diese Fortsetzungsgeschichte mit so trivialen deutschen Titeln wie „Verfolgung im Nebel“, „Manöver um Feuerland“ oder „Hafen des Unglücks“ genau die richtige Lektüre zur Entspannung.

Eine vergnügliche Sommerlektüre

Es gibt Romane, die kann man fast ohne Unterbrechung lesen. Wenn man sehr durstig ist, dann läuft das Getränk auch die Kehle herunter, das man, ohne abzusetzen, in sich hinein schüttet. An anderer Stelle habe ich das Bild von der warmen Klinge strapaziert, die durch die Butter gleitet. So liest sich so mancher Roman. Auch dieser, von dem die Rede sein soll. Die Sonnenuhr heißt er und Maarten’t Hart hat ihn geschrieben. Ein Kriminalroman ist es irgendwie. Wie wohl immer bei ihm. Wie immer spielt die Musik eine wichtige Rolle, auch das durch Verkleiden in eine andere Identität Schlüpfen ist als Motiv wieder da. Vielleicht ist es gar nichts so wirklich Bedeutendes, aber ein Roman, der unterhält, der amüsiert und der so wie oben beschrieben zu lesen ist, ist auch eine besondere Leistung. Eine vergnügliche Lektüre und das ist nicht abwertend oder einschränkend. So etwas will erst einmal geschrieben werden.

Ein Held unserer Zeit

Der Roman „Ein Held unserer Zeit“ von Michail Lermontow gehört zu denjenigen, die zu lesen ich schon lange entschlossen war. Der Held ist keiner. Der Titel also ironisch gemeint. Unser Held kann mit dem Leben nicht sonderlich viel anfangen. Er – wie so viele seiner Landsleute – langweilt sich, weiß sich mit dem, was ihm Aufgabe sein sollte, nicht zu identifizieren. Er ist Skeptiker, er ist auch ein kleiner Teufel, der ärgern, ja sogar verletzen will. Er kann nicht lieben, nicht lachen, nicht leben. Aber er will auch nicht sterben. Obwohl er nicht ängstlich ist und dem Tod ins Auge zu blicken in der Lage ist, hängt er doch an seinem Leben. Seine Affären verlaufen wenig aufregend und so lebt er sich durchs Leben.

Lermontow schreibt diesen Roman 1840. Der Mann ist Mitte 20, er wird ein Jahr später in einem Duell, nicht seinem ersten, sterben. Was hätte der alles noch schreiben können? Aber mehr wird nicht kommen, kann nicht kommen. Der Mann ist ein frühvollendeter!

Er schreibt Sätze, die von einer Erfahrungstiefe zeugen, die meist erst, wenn überhaupt im höheren Lebensalter möglich sind. Lermontow ist ein Kenner der Frauen und ihr Liebhaber. Er steckt ein Stück in seinem Helden, aber wer tut das nicht?

Ein Roman, der anderen den Weg gewiesen hat. Ein Lesevergnügen, da der Stil des Buches, eine Erzählung anderer über den Helden und Aufzeichnungen des Helden selbst, modern ist und darüber hinaus wieder einmal zeigt, dass die Konflikte der Russen mit den Tschetschenen viel älter sind als unsere Zeit uns dies glauben machen will.

Das Durchdrehen der Schraube

Henry James hat eine Erzählung vorgelegt, die mich ziemlich ratlos zurücklässt: „Das Durchdrehen der Schraube“. Er nennt sie eine Geistergeschichte.

Eine junge Erzieherin, der zwei Kinder, ein verwaistes Geschwisterpaar, anvertraut sind, sieht diese Gespenster. Eine ehemalige Erzieherin der Kinder und deren Geliebter, der ehemalige Kammerdiener des Onkels der Kinder. Nun ist alles aus ihrer, der jungen Frau Sicht erzählt. Sie wird den Verdacht nicht los, dass die Kinder die Geister ebenso sehen, wie sie und dass diese Geister die Kinder ins Reich der Toten ziehen wollen, was die junge Frau unter allen Umständen verhindern möchte.

Ich wurde den Verdacht nicht los, dass dies das Buch einer paranoiden Person ist, die langsam in den Wahn abgleitet und dabei eines der Kinder ihrem Wahn zum Opfer fällt. Ich habe immer gehofft, dass es noch eine – wie auch immer geartete – Auflösung geben wird, doch da hat mich der Autor getäuscht und auch enttäuscht. Nur die Sprache dieser Erzählung hielt mich bei der Lektüre. Eine artifizielle doch gleichsam schöne Sprache!

Tausend Seelen

Alexej Pissemski ist ein eher unbekannter russischer Autor, der 1820 geboren wurde und 1881 im selben Jahr wie Dostojewski starb. Ein Teil seines Lebens war er berühmt, war Freund Turgenjews und Gonscharows, aber irgendwann ging der Ruhm und zurückblieben einige Werke, die zu entdecken der Autor dieser Zeilen sich aufgemacht hat. Der Roman „Tausend Seelen“ stellt ein Hauptwerk dieses Russen dar.

Der Roman erzählt uns das Leben eines Paares, das sich in jungen Jahren kennenlernt. Er will hoch hinaus, er heiratet eine andere, wird reich und ein unbestechlicher Beamter in einem korrupten Russland. Er schmeißt unbeirrbar Leute hinaus, er geht gegen seinen eigenen Gouverneur vor und wird dessen Nachfolger. Er kämpft gegen einen Fürsten, der ihm einst übel mitgespielt hat. Er hat ihm, natürlich gegen „Gebühr“, seine Frau vermittelt, sich dagegengestellt, dass der junge Mann sich an des Tochter Fürsten heranmachen konnte. Nun hat er ihn beim Betrug erwischt und sperrt ihn ein. Aber an dem intriganten Adelsherrn beißt sich unser Held die Zähne aus. Allerdings steht seine ehemalige Geliebte ihm wieder zur Seite. Er wird aus seinen Ämtern entlassen und lebt nun mit seiner Geliebten zusammen. Russland bleibt korrupt, bis es zu Grunde gegangen sein wird.

Das stellt Pissemski sehr eindrucksvoll dar, ein wichtiger Roman. Sehr gelungene Schilderungen des Lebens einer russischen Kleinstadt, sehr treffende Charakterisierungen der Menschen, die in einer solchen Stadt das Sagen haben. Es ist nicht der wichtigste Roman, den ich je gelesen habe, aber nicht der schlechteste und unterhaltsam war die Lektüre obendrein.

Zola zum zweiten

Die Lektüre des ersten Teils des breit angelegten Romanzyklus über den Glanz und das Elend des Kaiserreichs in Frankreich von Emile Zola hatte mich zugegebener Maßen noch ziemlich ermüdet und auch gelangweilt. Ganz anders verhielt sich dies nun mit dem Roman „Die Beute“. Ein Sohn Macquarts steht im Mittelpunkt. Seine Spekulationsgeschäfte, die natürlich nicht bei der Heirat haltmachen. Sein Sohn aus erster Ehe wird im Laufe der Geschehnisse ebenso „nutzbringend“ verheiratet, wie er dies selbst zehn Jahre zuvor getan hatte. Seine schöne und jüngere Frau, ein Luxusgeschöpf, ein Geschöpf für den Luxus und des Luxus, langweilt sich, selbst ihre Liebhaber können ihr nicht das geben, was wir heute mit Kick bezeichnen würden. So fängt sie ein Verhältnis mit ihrem Stiefsohn an. Ein erotisch überhöhtes, von der Lust getriebenes und gehaltenes Verhältnis, das in dem Moment explodiert, als ihr klar wird, dass ihr dieses Spielzeug entzogen werden wird, weil der junge Mann ein reiches, aber todkrankes Mädchen zu heiraten hat.

Zola spricht von Inzest, von Blutschande, was es natürlich nicht ist, aber sicherlich hat es die Gemüter zur damaligen Zeit erhitzt. Der Roman ist sehr viel spannender, auch wenn er Längen hat, immer dann, wenn ausführlichst Kleider und Räume beschrieben werden. Wenn aber die Erzählung voranschreitet, wenn sie sich entwickelt, dann ist es spannend, erotisch und brillant beobachtet.

Eine deutliche Steigerung und der Anreiz, die Geschichte der Familie Rougon – Macquart weiterzuverfolgen.

Berlin – Moskau

Der Mann heißt Wolfgang Büscher und ist im Hauptberuf Journalist. Irgendwann kam er auf die Idee, zu Fuß von Berlin nach Moskau zu reisen. Das tat er dann im Sommer des Jahres 2001 und hat einen bemerkenswerten Reisebericht „Berlin – Moskau“ abgeliefert. Eine ganz eigene Art der Reiseberichterstattung, eigentlich ein Roman in dem ein Ich – Erzähler von Berlin nach Moskau wandert. Nach Moskau, nach Moskau!

Sein Großvater ist im Krieg geblieben, wie man so schönrednerisch den Tod auf dem Felde beschrieben hat. Es ist eine sehr persönliche Reise nach Moskau, aber auch eine sehr öffentliche. Er sieht den Reaktor in Tschernobyl, er kommt mit vielen interessanten Menschen zusammen und stellt immer wieder fest, dass er den Osten nicht erreicht. Denn je weiter er nach Osten kommt, sagen ihm die Menschen, dass der Osten erst hinter ihnen anfängt. Das ist eine wesentliche Beobachtung und bezeichnend für uns Menschen. Büscher spürt die Unterschiede im Lebensrhythmus der Weißrussen und der Russen auf, er beobachtet genau und ist in der Lage, diese Beobachtungen in einer bilderreichen Sprache widerzugeben.

Beispiel gefällig? Er ist in Polen und erzählt: „Ich ging durch eine Gegenwart, die ein einziger Baumarkt war. Ein einziger Fliesenmarkt, Möbelmarkt, Automarkt. Ganz Polen möblierte, tapezierte, flieste, motorisierte sich neu. Das Land und ich liefen aneinander vorbei, ich wollte es hinter mich bringen und so rasch wie möglich tiefer nach Osten; Polen kam aus der Gegenrichtung und strebte nach Westen, und der Luftzug, der dabei entstand und mich streifte, war oft unser einziger Kontakt.“

Es ist eine ganz eigene Literatur, eine ganz eigene Art über seine Erlebnisse zu berichten. Ich habe respektvoll, bewundernd und – ja ich gebe es zu – auch ein wenig neidisch dieses Buch gelesen, eher verschlungen.

Am Ende des Buches stellt jemand die Frage „Und was machen wir jetzt?“. Diese Frage stellt sich auch der phantasiebegabte Leser. Ich will nicht nach Moskau, aber andere Reisen könnte ich mir schon vorstellen und dann solche Bücher schreiben, das wäre doch etwas!

Casanovas Heimfahrt

Es ist kein Geheimnis mehr, dass ich zwei Schriftsteller allen anderen vorziehe, so sehr ich viele andere auch mag, schätze, verehre, ja sogar liebe. Ganz oben thronen Maupassant und Schnitzler.

Letzterer hat einen so wundervollen Ton, der sich durch seine Erzählungen zieht, dass man ihn mit verbundenen Augen am Klang seiner Sprache leicht zu identifizieren vermag.

So dachte ich bisher, aber er hat mich eines Bessren belehrt. Er kann auch anders. Er kann streng im Stile einer Novelle, die Geschichte auf den unerhörten Höhepunkt zutreibend, schreiben. Den Ton sogar ein wenig verfremdet, weil er sich in einem leicht antiquierten Stil verhüllt. Das ist ebenso meisterlich, wie das was sonders von ihm zu lesen ich bisher das Vergnügen hatte.

Jetzt also die Geschichte des nach Hause, nach Venedig zurückkehrenden Casanovas. Die Schwierigkeiten, die ein älter werdender Mann hat, der es nicht wahrhaben will, zu altern. Der nicht mehr attraktiv ist für jene jungen Mädchen, die allein ihn reizen. Die Kluft wird beschrieben, die sich auftut, zwischen dem wahren Gesicht und dem, dass er zu haben noch glaubt. Wer, der sich in einem ähnlichen Übergang befindet, kann dies nicht sofort nachvollziehen und mitleiden.

Casanova bleibt nur eine List, um zum Ziel zu kommen. Ein schaler Geschmack bleibt ihm und dem Leser. Und die Mahnung, nicht ebenso zu handeln, falls sich die Gelegenheit dazu ergeben sollte.

Casanovas Heimfahrt ist ein weiterer Beweis dafür, dass Arthur Schnitzler ein wundervoller, ein ganz großer Schriftsteller war und ist.

Auferstehung

Leo Tolstoi hat neben den bekannten großen Romanen, die hier auch schon besprochen wurden, einen dritten umfangreichen geschrieben: Auferstehung. Dieser Roman ist meines Wissens Tolstois letztes großes Werk. Es ist mystisch angehaucht, aber nicht so überfrachtet wie die Kreutzersonate. Tolstoi ist ein Könner, er ist in der Lage mit wenigen Sätzen eine Stimmung zu beschreiben oder einen Menschen zu charakterisieren.

Ein Beispiel sei mir gestattet: „Sie hätten einander viel zu sagen gehabt, aber ihre Worte sagten gar nichts, und aus ihren Blicken ging hervor, dass das, was gesagt werden musste, ungesagt blieb.“

Diese Beschreibung bezieht sich auf den Fürsten und dessen Schwester. Der Fürst ist die männliche Hauptfigur dieses Romans. Er hat als junger Mann ein Mädchen geschwängert, sich nicht weiter um diese Geschichte gekümmert und wird als Geschworener mit seiner Vergangenheit völlig unvorbereitet konfrontiert. Seine frühere Geliebte hat das Kind zur Welt gebracht, das bald darauf starb. Dann geriet sie sehr schnell ins Bordell. Schließlich wurde sie in einen Raubmord verwickelt und mit zwei anderen gemeinsam angeklagt. Die Geschworenen kommen zum Ergebnis, dass sie unschuldig sei, aber es wird ein Formfehler begangen und so landet sie in der Kategorie jener Häftlinge, die nach Sibirien zur Zwangsarbeit verbracht werden. Unser Held bereut, will sein Leben von Grund auf ändern und so zu einem besseren Leben finden. Er will sie heiraten, seine Landgüter an die Bauern übertragen, nach Sibirien ziehen und ihr nah sein. Sie will es nicht, sie will diese Opfer nicht annehmen. Sie wird sich mit einem politischen Häftling zusammenschließen und bei diesem Menschen bleiben, obwohl sie begnadigt wird und wieder eine freie Frau ist. Sie hat eine Entwicklung durchgemacht und der Fürst auch. Wieder eine Suchergestalt, wieder einer, der nach dem Sinn des Lebens fahndet. Einer der es gefunden hat, indem er in der Bibel liest und die Bergpredigt verstanden hat. Aber das ist dann nicht mehr Gegenstand dieses Romans.

Ich war bei der Lektüre teilweise abgelenkt, weil ich manches für zu konstruiert fand, aber immer wieder fing das Werk mich ein. Der Roman kann nicht mit „Anna Karenina“ und auch nicht mit „Krieg und Frieden“ in einem Atemzug genannt werden, aber er ist ein Teil aus dem Gesamtwerk eines unserer größten Dichter.

Der bisher beste Roman der Donna Leon

Der elfte Fall des Commisario Brunetti. Ich habe auch diesen Roman wieder in seiner Originalversion, also in Englisch gelesen. Ich weiß daher nicht, was aus dem Titel „Wilful Behaviour“ werden wird. Mit dem gekennzeichneten Verhalten ist eine der Hauptfiguren dieses Romans charakterisiert. Brunetti ermittelt in der gewohnten ruhigen, zurückhaltenden Art. Seine, nein eigentlich die Sekretärin seines Chefs, wird immer wichtiger für die Sammlung der Informationen. Die Gespräche mit seiner Frau immer tiefsinniger.

Dieses Mal setzt sich Donna Leon mit der faschistischen Vergangenheit der Italiener auseinander. Es geht um Kunstgegenstände, die damals allzu leicht den Besitzer wechselten. Es geht also um Geld, es geht aber auch um Liebe. Die großen Motive eines jeden Kriminalromans. Leon hat einen Ton getroffen, einen Hintergrund, ein Szenario. Man ist mit der Familie bekannt, mit den Personen vertraut, man bewegt sich unter Menschen, die einem sehr genau vertraut sind und das macht die Lektüre so angenehm. Es reichen manchmal Andeutungen, man versteht die Autorin, wie man einen langjährigen Partner versteht.

Ein sehr gelungener Kriminalroman und ein wenig mehr. Ich wiederhole mich nicht: Siehe Überschrift!

Zum Thema Literaturempfehlungen

Vom verblichenen literarischen Quartett habe ich schon berichtet, von Elke Heidenreich auch. Sie empfahl ein schmales Bändchen mit zwei Texten des ersten russischen Literatur Nobelpreisträgers. Iwan Bunin hat die Übung „Ein unbekannter Freund“ geschrieben und über die Preisverleihung berichtet. Der erstgenannte Text schildert in Form einer Sammlung von Postkarten die Bewunderung und den Dank einer Leserin an einen Autor. Trotz des verzweifelten Appells an den Autor, meldet dieser sich nicht bei seiner Leserin. Diese überhöht den Mann, muss aber dann doch erkennen, dass es vergebene Liebesmüh ist.

Der zweite Text ist derartig nüchtern, dass jeder Spiegelredakteur einen packenderen Bericht über die Verleihung der Nobelpreise hätte abliefern können. Es ist mir ein Rätsel, was einen Verlag veranlassen kann, derartig schmale Texte zu veröffentlichen. Es ist mir ein noch größeres Rätsel, wie eine kluge Frau, wie Elke Heidenreich, ein derartig schmales Bändchen empfehlen kann, es sei denn, sie wollte ihre Marktwirkung testen, dann ist dies ihr zumindest bei mir – ich gestehe es – leider gelungen.

Frau Seidenman

Schon lange steht dieses Taschenbuch in meinem Bücherschrank und bat, ja flehte mich so manches Mal an, doch endlich von mir gelesen zu werden. Auf dem Umschlag eine junge Frau, ein schönes Gesicht. Ihre leicht geröteten Wangen kontrastieren mit dem roten Haar. Ihre Frisur ein wenig toupiert und dennoch die Stirn zu einem guten Teil bedeckend, so schaute sie mich mit ihren ausdrucksstarken Augen herausfordernd an. Um ihren Mund, ihren leicht aufeinander gedrückten Lippen, spielt ein Lächeln, als könne sie gar nicht verstehen, dass ich nicht zugreife und das Buch in meine Hand nehme. Der Umschlag ist ein Ausschnitt eines Gemäldes von Gustav Klimt. Die gemalte Schönheit heißt Gertha Felsöványi. Das Buch ist von Andrzej Szczypiorski und der Roman heißt „Die schöne Frau Seidenman“.

Dieser Roman ist ein Bilderbogen, ein Episodenroman. Die Figuren kennen sich zum Teil, sie gehören irgendwie zueinander, sie bilden einen Kosmos. Der Bilderbogen aus dem Leben des besetzten Warschaus, des Ghettos, des jüdischen Aufstands. Eine Erzählung über Tod und Verfolgung, über Rettung und Liebe. Der Roman endet nicht in der Nazizeit, er geht weit darüber hinaus. Der Autor greift das Schicksal der einzelnen Figuren auf, erzählt sie weiter, spinnt den Lebensfaden zu Ende. Ganz gleich, ob der Faden am nächsten Morgen reißen wird oder Jahrzehnte später.

Diese Technik ist nicht neu, auch Harry Mulisch kann so erzählen und Milan Kundera auch. Szczypiorski hat kein Mitleid mit seinen Figuren, er tut so, als erzähle er nüchtern deren Schicksal. Er hält Abstand zu Opfern aber auch zu Tätern. Ein besonders gelungenes Kapitel ist dasjenige über den SS Bonzen Stockler. Kalt und sachlich analysiert er die Schuld des Deutschen, seine Ausreden, seine Art der Gewissensberuhigung. Und doch, nicht ohne Grund habe ich Mulisch bemüht und Kundera, sie sind mir beide lieber. Auch Mulisch ist nicht blind und redet die Taten der jüdischen Gegenwart nicht schön, aber seine Art zu schreiben, zu beschreiben ist um so vieles runder, dass ich es immer höherstellen möchte.

Gleichwohl, Frau Seidenman, die übrigens blond ist und nicht rothaarig, weshalb mich jahrelang eine fremde Frau zum Lesen verführen wollte, gehört zu der Art Lektüre, die ich nicht bereue.

Der Schatten des Windes

Das ist ein Roman, der wieder einmal auf Grund einer Empfehlung gelesen wurde. Joschka Fischer, der deutsche Außenminister, gab den Tipp ab, diesen Roman zu lesen. Man könne einmal mit dem Lesen angefangen, gar nicht mehr mit der Lektüre aufhören.

Trotz meiner schon einige Male geäußerten Skepsis ging ich also ans Werk. Und siehe da, der Außenminister hatte mich nicht getäuscht. Das ist mal wieder ein sehr gut lesbarer Roman. Er ist wundervoll konstruiert, er vergisst keinen Handlungsstrang und man kann sich wirklich nur schwer von dieser Lektüre losreißen.

Der junge Daniel entdeckt ein Buch auf dem „Friedhof der Vergessenen Bücher“. Allein auf eine solche Einrichtung muss man erst einmal kommen. Das Buch, ein Roman trägt den Titel „Der Schatten des Windes“. So heißt der Roman, den ich, der Leser in der Hand habe auch. Das Schicksal des Autors des fiktiven Romantitels rückt dann in das Interesse des Jungen. Er spürt ihm nach, er erfährt die Liebe und es gibt so viele Parallelen zwischen dem Leben des Romanautors und des jungen Mannes, dass man manchmal Gefahr läuft, die Erzählebenen ineinander zu schieben. Dieser Roman, der im Barcelona des spanischen Bürgerkrieges und in der Zeit des Franco – Regimes spielt, ist eine Kriminalstory, eine Liebesgeschichte oder sogar zwei. Dieser Roman ist spannend und wundervoll lyrisch. Die Sprache klar, die Metaphern einprägsam und das Erzähltempo angenehm. Ein wundervoller Roman, mehr als ein Grund vor dem Autor den Hut zu ziehen. Sein Name lautet Carlos Ruiz Zafón!

Italo Svevo

Seit Jahren liegen zwei Romane des Italo Svevo in meinem Bücherschrank. Wahrscheinlich glaubten sie selbst nicht mehr daran, von mir noch gelesen zu werden. Nun habe ich das erste Buch zur Hand genommen und „Zeno Cosini“ gelesen.

Der Roman gibt vor, dass der Psychoanalytiker dieses Zeno, alles veröffentlicht, damit Zeno sich wieder meldet, seine Behandlung fortsetzt. Die Aufzeichnungen stammen alle von ihm, Zeno. Wir lesen also von seinem Verhältnis zum Vater, seinen unzähligen und natürlich vergeblichen Versuchen, sich das Rauchen abzugewöhnen. Wir nehmen an seiner Brautwahl teil, er wählt, nein eigentlich wird die Braut ihm ja zugeteilt, eine von drei heiratsfähigen Schwestern. Diejenige, die er zugeteilt bekommt, wollte er nun wirklich nicht. Er erzählt von seiner Geliebten, seinem Bemühen, seinem Schwager bei dem Aufbau eines Handelshauses zu unterstützen und schließlich von dem Hineingeraten in den ersten Weltkrieg. Am Ende seines Berichtes sagt er, dass er glaubt, dass die Krankheit aus der Welt nur geschafft werden könne, wenn man die ganze Erde in die Luft jagt.

Ein wundervolles Romanende. Der Roman ist nicht, jedenfalls nicht durchweg so wundervoll. Natürlich ist er ein geniales Werk. Allein diesen Zeno so durch seine Selbstdarstellung zu zeichnen ist ein Geniestreich. Der Mann ist ein Vorläufer der amerikanischen Filmfigur des Forrest Gump. Zeno ist genauso unverbildet, er schlittert in Erlebnisse, er denkt sich nicht viel dabei und wenn er denkt, dann ist es meist gefährlich – für die anderen.

Cosini ist willensschwach, weder kann er sich die Zigarette abgewöhnen, noch kann er seinem Schwager, einem Hasardeur und Bankrotteur, Geld verweigern. Zeno ist eine Studie über Menschen in bestimmten Situationen. So ist es leicht, dass sich der Leser irgendwo wiederfindet. Daher ist Zeno Cosini natürlich ein Meisterwerk. Nur manchmal war die Lektüre ermüdend, dann, aber wieder glitt der Leser durch diesen Roman und freute sich, schon beim Weglegen des Bandes auf den Moment, ihn wieder in die Hand zu nehmen.

Reise im Mondlicht

Erst am Schluss des Romans findet eine „Reise im Mondlicht“ statt. Da fährt unser Romanheld mit seinem Vater nach Budapest zurück. Der Zug fährt im Mondlicht durch die Toskana, unser Held denkt über das Leben nach, nicht zum ersten Male in diesem Roman, aber nun kommt er zum Schluss, dass das Leben gelebt werden muss, man weiß nie, was noch geschehen wird.

Der Autor dieses Romans, der eine Fundgrube schlauer Sprüche, feiner Einsichten und wunderschöner Italienbilder ist, heißt Antal Szerb. Er ist in Ungarn geboren und von den Nazis ermordet worden. Der Roman wurde jetzt erst in Deutschland vorgelegt, spät, aber nicht zu spät.

Er ist eines jener Werke, das man liest und sich aus der Zeit genommen fühlt. Man ist nahe bei den Figuren, nahe bei den Dingen, die einem auf einmal wichtiger sind als das, was um einen herum passiert. Wundervoll!

Wundervoll vor allem, weil es so viele kluge Wahrheiten enthält, so viele genau beobachtete Allgemeingültigkeiten und so viel Humor.

Unser Held ist ein Traumtänzer, ein liebenswerter aber mit dem Leben nicht gerade besonders vertrauter Geselle. Er ist seiner Jugendzeit verhaftet geblieben, hängt seinem Freund nach, dessen Schwester und zwei weiteren Menschen. Er entflieht der Gegenwart gerade in dem Moment, als er mit seiner Frau auf der Hochzeitsreise in Italien ist. Er steigt in einen falschen Zug ein und entfernt sich von der gerade Geheirateten im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat eine Zeit mit vielen Erfahrungen vor sich, ebenso seine Ehefrau. Und am Ende holt sein Vater ihn aus Rom heim nach Budapest. Mehr verrate ich nicht an dieser Stelle, aber ich bin gern bereit über diesen Roman zu jeder Zeit zu diskutieren. Man muss ihn nur gelesen haben, man sucht schon einige Zeit, bis man etwas gleichwertiges in die Hand bekommen wird.

Das berühmte Haus Ramires

Das ist ein Roman, bei dem man über die ersten Seiten kommen muss. Wenn man das nicht schafft, dann liest man dieses Buch nicht, dann verpasst man ein wundervolles Lesevergnügen. Aber am Anfang des Romans „Das berühmte Haus Ramires“  von José Maria Eça de Queiroz muss man sich durch die Geschichte der Vorfahren des Helden Gonzalo Ramires wühlen.

Ein grausiges Unterfangen und ich war geneigt das Buch wegzulegen. So hatte ich es einst mit Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ gehalten. Diesen Roman hatte ich einige Male begonnen und immer wieder beiseitegelegt. Eines Tages aber kam ich über die ersten vielleicht dreißig Seiten hinaus und dann konnte ich dieses wundervolle Buch nicht mehr aus der Hand legen. So ähnlich ging es mir jetzt auch. Dieses Mal erinnerte ich mich allerdings an Krull und las gleich weiter über diesen Punkt hinweg, bis das Wohlbefinden sich einstellte.

Gonzalo ist der letzte Ritter, obwohl es diese nur noch in seiner Novelle, die er im Laufe dieses Romans verfassen wird, gibt. Wir lesen auch die Novelle, sie ist eine Ebene dieses Romans. Wir lesen aber vor allem, wie der eher schüchterne, vielleicht sogar feige Gonzalo, eine durch und durch sympathische Romanfigur, seinen Lebensweg geht. Er wird Politiker, er lässt sich kaufen, aber am Ende ist er doch mit einem größeren Selbstbewusstsein und mit mehr Rückgrat ausgestattet als so mancher andere. Er ist keine Witzfigur, vielmehr eine Respektsperson.

Der Roman ist so wundervoll komponiert, hat gegen Ende Brüche, weil dieser Teil offensichtlich später geschrieben wurde. Der Ton ist leicht, beschwingt, die Geschichte mit einer nicht aufdringlichen Ironie erzählt und so prickelnd wie ein gut gekühltes Glas Champagner.

Romeo und Julia in Berlin

Ein kurzer Roman, schnell erzählt und ich fürchte, auch schnell wieder vergessen.

Ein vermeintlich rechter Jugendlicher aus Berlin Ost verliebt sich in eine Türkin, Tochter reicher Eltern, aus Berlin West, die gut behütet wird von ihrem Bruder. Der schlägt sich mit den Rechten, wird – allerdings durch seinen Freund betrogen – zum Attentäter an dem Bruder. Er flieht mit seiner Freundin in die Schweiz und beide kommen bei einer Jahrhundertflut ums Leben.

Ein schnelles Leben von Zoë Jenny, einer jungen Autorin, heißt dieser Roman. Er ist relativ geschickt aufgebaut, aber es ist keine Lektüre, die lange im Gedächtnis haften bleiben wird.

Mansfield Park

Die wunderbare Erzählerin Jane Austen hat mit dem Roman „Mansfield Park“ sicherlich einen weiteren schönen, lesenswerten Beitrag zum Thema, wie komme ich zum richtigen Mann, vorgelegt. Irgendwo gegen Ende des dicken Werkes muss sie gemerkt haben, dass es, wenn sie so weitermacht, noch mehrere hundert Seiten benötigen würde, um zum Schluss zu gelangen. Und so fängt sie auf einmal an, zu hetzen. Und schließlich hetzt sie zum glücklichen Ende. Natürlich bekommt Fanny ihren Edmund. Natürlich wird die blöde Tante in die Wüste geschickt (na ja beinahe) und natürlich zeigen sich die Charaktere so wie sie sind. Die Gutmenschen werden belohnt, die schlechten bestraft. Das Leben in diesem England der Austen ist einfach friedlich. William fährt zur See und tatsächlich wird erwähnt, dass es da so etwas wie Kriege und Seeschlachten geben könne. Aber das ist alles ganz weit weg. Das ist auch nicht das Thema der wundervollen Miss Austen. Ich liebe ihre Romane, weil sie entspannen, weil sie nicht vorgaukeln, etwas anderes zu wollen als zu unterhalten.

Danke, Jane! Danke!

Geschichten, Kurzgeschichten, Meistererzählungen

Guy de Maupassant ist ja nicht nur wegen seiner Romane weltberühmt geworden, er ist auch ein Begründer der Kurzgeschichten. Jenen, die ein wenig Grauen verbreiten und anderen, die einfach nur ein Schmunzeln zurücklassen. Fettklößchen, das Haus Tellier, Madame Fiffi. Wunderbare Geschichten. Poe vorgegriffen hat er Geschichten mit jenem kleinen Schuss Unheimlichen, wie die Geschichte von der Hand oder den fliehenden Möbeln. Grausame Geschichten von der schönen Insel Korsika und herzerwärmende aus dem regnerischen Rouen. Auf nur wenigen Seiten schafft er eine dichte Atmosphäre, wie andere sie nicht auf Hunderten von Seiten hinbekommen. Er ist ein Meister, ein wunderbarer Erzähler, ein begnadeter Autor, einer, der seine Mitmenschen ganz genau betrachtet hat, sie geradezu skelettierte. Es ist eine Lust, ihn zu lesen und es schmerzt, dass er nicht noch viel mehr Romane geschrieben hat.

Das Buch der Tugendlosigkeit

Ein schmales Bändchen von einem Mediziner, der sich nach jahrelangem Praxisdienst entschlossen hat, seinen Beruf an den Nagel zu hängen und eigentlich nichts mehr zu tun. Er bürstet mit diesem Buch gegen den Strich, er ruft dazu auf, nachzufragen, Skepsis zu zeigen und Moral nicht von vornherein als etwas Gutes und Richtiges anzusehen.

Am Ende sagt er: „Immer, wenn wir es schaffen, uns frei von Vorsätzen, Gewohnheiten und moralischen Vorurteilen zu machen, haben wir die Chance, dem Zauber des Lebens näher zu kommen.“

Was mir an diesem Buch von Axel Braig nicht gefiel, war, wie er durch die Jahrhunderte auf philosophischen Pfaden reitet und dabei so tut, als ob er all die bedeutenden Werke der abendländischen und auch der fernöstlichen Gelehrten inhaliert hätte. Das ist unredlich, aber vielleicht muss man so schreiben, wenn man über Tugendlosigkeit spricht.

Ein Autistenroman

Supergute Tage sind für Christopher solche, an denen die Autos, die er sieht, rot sind. Christopher ist Autist, hat eine mathematische Begabung, aber sonst viele Merkmale eines behinderten Menschen. Sein Leben gerät aus den Fugen als er beschließt, herauszufinden wer den Hund einer Nachbarin ermordet hat. Er bekommt viel mehr heraus, er gerät in Gefahren, er meistert sie und sein Fachabitur in Mathematik auch, selbst wenn in der deutschen Übersetzung nicht alle mathematischen Beiträge korrekt sind. Der Roman soll in England inzwischen Kultstatus erlangt haben, was mir nicht so recht einleuchtet.

Mark Haddon hat ein interessantes Buch geschrieben, aber nicht mehr.

Ich habe es gern gelesen, aber ich würde es nicht in meinem Reisegepäck für die berühmte Insel mitführen.

Fräulein Ursula

Von dem Autor Heiner Link habe ich noch nie etwas gelesen; der Autor hat als seinen letzten Roman vor seinem Unfalltod „Fräulein Ursula“ geschrieben. In der Sendung „Lesen“ hat es Elke Heidenreich sehr nachdrücklich empfohlen. Ich habe mich schon öfter über die Empfehlungen geäußert, aber natürlich sind solche Literatursendungen eine Möglichkeit, sich neue Lektüre zu erschließen: So nun jetzt den Autor Heiner Link.

Die Geschichte ist schnell erzählt, es geht um das, was zwischen Mann und Frau immer wieder abläuft. Für den Mann ist es Sex, für die Frau Liebe. So könnte man es sagen, um den Inhalt kurz zu beschreiben. Das Fräulein Ursula begleitet unseren Helden durch sein Leben. Er nährt sich ihr, der Verkäuferin in einem Supermarkt, er kann nicht gleich bei ihr landen, er landet bei ihr und irgendwann geht man auseinander. Trifft sich Jahre später wieder und landet schließlich wieder da, wo man doch immer landen will. Ein zweiter Erzählstrang ist komplexer, er beschreibt die Männer im Golf Club zu denen auch unser Held gehört, er beschreibt deren Affären und Niederlagen. Es sind die Geschichten der Männer um 40, dem Alter des Autors. Der schreibt locker, der schreibt eine schöne Feder und so liest man den Roman leicht herunter. Aber empfehlen kann ich das Werk denn doch nicht, dafür ist es zu leicht!

Dom Casmurro

Ich bin froh, mit dem Roman „Dom Casmurro“ den brasilianischen Autor Machado de Assis kennengelernt zu haben.

Dieser Roman ist in so wundervoll ironischer Weise geschrieben, dass man schon bald weiß, dass dieser Ich – Erzähler noch irgendwann sein blaues Wunder erleben wird. Es ist die Geschichte einer großen Jugendliebe, die trägt. Vielleicht sogar ohne jeden Fehl und Tadel, vielleicht aber auch nicht. Da kann man sich nicht ganz sicher sein. Vielleicht hat die wundervolle Freundin und Frau des Erzählers sich ein Kind von seinem besten Freund auch nur machen lassen, weil er es sich so sehr gewünscht hat und offensichtlich nicht zeugungsfähig ist. Vielleicht aber war es mit der Liebe auch nicht so weit her und seine Freundin und Frau waren schon längst in den besten Freund verliebt und nicht mehr in ihn. Die ganze Geschichte ist einfach genial erzählt, einfach, weil der Stil unprätentiös ist, genial, weil hier ein Genie der Schreibzunft die Feder führte. Einen von jenen, die im Olymp der Dichter an der großen Tafelrunde in der ersten Reihe sitzen und alle Augen sich auf ihn richten, wenn er etwas zu bedenken geben wird.

Ich werde mehr von ihm lesen und berichten!

Eine ungewöhnliche Geschichte

Der Roman hat beinahe 600 Seiten. Auf den ersten zwei Seiten, in einem Prolog, wird erzählt, was auf den kommenden 300 Seiten ausführlich geschildert wird. Einem Mann wird im Wald von seinen Freunden aufgelauert, er wird in eine Schlucht gestoßen und stirbt.

Wie gesagt, warum es zu dieser „Hinrichtung“ kommt, wird auf den vielen folgenden Seiten ganz langsam enthüllt. Zunächst ist das Mordopfer noch sehr lebendig. Er ist nicht das einzige Opfer in diesem „College – Roman“. Die Art der Erzählung, dieser lange Atem, die Verarbeitung vieler Nebenmotive, das alles ist äußerst überzeugend gelungen. Eine große Spannbreite, auch was die Bildung, die in diesem Roman ausgebreitet wird, die nicht jeder Roman aufweist. Zumal keiner, der als Erstlingswerk daherkommt. Donna Tartt hat diesen Roman „Die geheime Geschichte“ geschrieben.

Eine spannende Geschichte, blendend ausgerollt, spannend und klug geschildert. Lesenswert!

Gogols Geschichten

In einem schmalen Band sind drei Geschichten Nikolai Gogols vereinigt. Alle Texte kommen fast kafkaesk daher. Nur lebte der Mann aus Prag ein Menschenalter später als der Russe aus der Ukraine.

Die Nase ist eine höchst merkwürdige Erzählung. Fast glaubt man sie, denn wenn einer aufwachen kann als Käfer, warum kann nicht dann auch einer aufwachen und feststellen, dass ihm die Nase abhandengekommen ist. Sie spaziert als Staatsrat herum und der nasenlose Kerl macht sich Gedanken, wie er denn nun gesellschaftlich überleben soll. Die Nase wird aber zu ihm zurückgebracht und nach einiger Zeit ist sie auch wieder da, wo Nasen nun einmal hingehören: Mitten im Gesicht!

Der Mantel erzählt von dem armen Beamten, der sich unter reichlichen Entbehrungen eben jenes gute Kleidungsstück vom Schneider herstellen, dann im Ansehen seiner Kollegen, die ihn bis dahin „gemobbt“ hatten, steigt und von Verbrechern in dunkler Nacht abnehmen lässt. Er fordert Gerechtigkeit, aber man kümmert sich nicht um die Wiederbeschaffung seines Mantels. Er verkühlt sich und stirbt wenige Tage darauf. Nun geistert er durch St. Petersburg und hört damit erst auf, als es ihm gelungen ist, denjenigen, der ihn kurzerhand vor die Türe des Amtes setzte bis ins Mark zu erschüttern.

Schließlich ein dritter Text: „Tagebuch eines Wahnsinnigen“. Wieder ein armer kleiner Beamter, der ein Tagebuch führt. In die Tochter des Amtschefs verliebt, ohne Chance auf Gegenliebe, erkennt er, der König von Spanien zu sein. Er endet im Irrenhaus und wird nicht mehr lange leben. Wie dieses Tagebuch in den Wahnsinn gleitet, ist großartig gemacht. Man merkt, wie dieser arme Kerl vom Tick, aber sonst hellwach, abrutscht in den Irrsinn, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Drei Texte eines bedeutenden Schriftstellers, dem erst die Nachwelt Kränze geflochten hat. Besser spät als nie!

Ein Schnitzler Roman

Ich habe gerade die Lektüre des Romans „Der Weg ins Freie“ von Arthur Schnitzler beendet. Eine nicht unproblematische Lektüre, möchte ich gleich anfügen.

Problematisch deshalb, weil dieser Roman sich zu einer Hälfte mit dem Verhältnis von Juden und Nicht – Juden auseinandersetzt. Der Roman ist 1907 geschrieben worden und Begriffe wie Endlösung geistern durch den Roman, da gibt es Figuren, die alle Nicht – Juden hassen, da gibt es andere, die Juden nicht gerade sympathisch finden und dann solche, die sich ärgern, dass Juden ihr Judentum zum Teil wie eine Monstranz vor sich hertragen. Es gibt ein Duell zwischen einem Juden und einem christlichen Oberleutnant, welches der Jude überlebt und sogar begnadigt wird. Es ist das eine Leitthema dieses Romans: Wie gehen die Menschen in Österreich vor Beginn des ersten Weltkriegs miteinander um; wie gehen sie mit den jüdischen Mitbürgern um, wo haben die antisemitischen Strömungen ihren Ursprung?

Das zweite Thema ist die Liebe.

Diejenige zwischen dem adligen Komponisten und dem bürgerlichen Mädchen. Ein Stoff, wie er auch von Fontane sein könnte. Er wird aufbereitet und dadurch verstärkt, dass die Beziehung zwischen den beiden Menschen nicht ohne Folgen bleibt, dass das Kind tot geboren wird, dass er nicht und wahrscheinlich nie die Absicht hatte, sie zu heiraten und sie am Ende verlässt und den Weg ins Freie antritt.

Dieser Teil, dieses Thema ist wundervoll dicht beschrieben, kenntnisreich und mit jenem unvergleichlichen Tonfall, den Schnitzler nun einmal hat und den sein Werk auszeichnet. Die Auseinandersetzung um die unterschiedliche Wahrnehmung des Lebens von Juden und Nicht – Juden dagegen ist zum Teil sehr zäh, blutleer und akademisch. Die Dialoge zwischen den Figuren langweilte mich manchmal. Überhaupt die Figuren. Schnitzler fährt ein großes Personal auf. Er hält zu viele Spieler im Spiel, er kann sie nicht alle in der nötigen Schärfe zeichnen. Er hebt so manches Mal an, die eine oder andere Person stärker in den Vordergrund zu schieben, aber irgendetwas kommt dann dazwischen und so bleiben manche Figuren eben nur schemenhaft gezeichnet.

Es ist eine Lektüre, die mich mit zwiespältigen Gefühlen zurücklässt; zum ersten Mal bei Schnitzler.

Ein paradiesischer Roman

Als ich den Roman „Ébora“ von Xosé Carlos Caneiro in die Hand nahm, wusste ich nicht, noch nicht, was für ein riesiges Werk, was für ein Abenteuer da vor mir lag.

Der Roman ist eine wunderbare Ansammlung von Geschichten. Es tauchen so viele phantastische Gestalten auf, von denen nur einige genannt, näher vorgestellt werden können. Da ist zunächst ein armer schmächtiger Kerl, der in seiner Jugend, vor der Pubertät übermäßig dick gewesen war. Er beschließt, seine Frau zu verlassen, die ihn zwanzig Jahre ausgebeutet und gequält hatte. Er schmeißt sein Angestelltenleben fort und wird Abenteurer. Er wird eine moderne Odyssee erleben, die ihn im Finale an seinen Geburtsort zurückführt: Ébora.

Er begegnet einem Mann mit rotem Koffer, in dem ein großes Geheimnis verborgen ist, das wir erst später kennenlernen werden. Der Mann ist der Sohn des Mephistopheles, seit Jahrtausenden erträumt er das Schicksal der Menschen. Er wird ausruhen können am Ende, von seiner Heroinabhängigkeit befreit sein, er gelangt nach Ébora.

Es tauchen andere Gestalten auf, der einarmige Tangotänzer, der seine Liebste sucht, der sie finden will, bevor er sterben muss. Der Sohn des Bürgermeisters, der das Dorf seiner Kindheit verlassen hat, weil er vor der großen Liebe seines Lebens floh und nun sich vor Frauen auszieht. Sie alle haben ein Ziel: Ébora.

In diesem Ort, den wir auf keiner Landkarte finden, der irgendwo, vergessen in den Bergen Galiziens liegen muss, in diesem Ort leben auch sehr seltsame Menschen. Die Mutter des Abenteurers, die neue Wörter schöpft, die ihren Sohn wahrscheinlich vom Priester des Ortes empfangen hat, den Dorfbewohnern aber mitteilt, dass ein feuriger Torero der Erzeuger des kleinen Jungen gewesen sei. Der Sargmaler, der die Särge mit Leuchtfarbe, die nur im Dunkeln zu sehen ist, verziert, der auf Wunsch auch Glühbirnen in das Totenmöbel einsetzt, damit man sich in der Finsternis nicht fürchten müsse. Der Bolerosänger, dessen Mutter sowie die Ärztin, die fast nur mit Gesprächen heilt und auf den Sohn des Bürgermeisters wartet. Dieser Bürgermeister, der gern ein französisches Wort in seine Reden einfließen lässt und einen großen Fahrstuhl in das Rathaus einzubauen verfügt, damit auch Tiere (Pferde und Kühe) an den Ratssitzungen teilnehmen können. Der Pfarrer des Ortes, der von dem Ortsheiligen den Auftrag empfängt, in seine Predigten die Bildung einfließen zu lassen und daher nunmehr den Dorfbewohnern das Rechnen und Lesen von der Kanzel beibringt. Derjenige, der über die Dreifaltigkeit so sehr nachdenkt, dass er wirr im Kopf werden wird. Der Ort ist die Heimat zweier Magier geworden, eines Geschwisterpaares, das den Bewohnern Filme in ihr Leben bringt und den Duft nach Lavendel und ein Meer, dessen Wasser von einem unter der Wasseroberfläche angebrachten Motor in Wellenbewegungen gehalten wird. Sie alle bevölkern Ébora.

Ébora, so heißt es an einer Stelle dieses wundervollen Romans, ist Spiegel eines Teils der Menschheit und ihrer Tugenden. Es ist der unversehrte Teil des Paradieses nach Katastrophen und Kriegen. Das einzige Paradies das man auf Erden finden kann! Nur leider finden wir – wie gesagt – den Ort auf keiner Landkarte!

Dieser Roman ist aber auch ein Roman über die Literatur, ein Plädoyer für das Lesen und gegen alles, was dumm macht. Es ist ein Buch gegen den unaufhaltsamen Fortschritt der Dummheit. Es ist ein Manifest gegen das Fernsehen und für die Selbstbestimmung des Lebens. Es ist ein Plädoyer für das Leben, das sinnvolle Ausfüllen, der uns gegebenen Zeit. Und es ist ein Hochamt für die Liebe, eine Hommage an sie!

Dieser Roman ist ein Geschenk an die Menschheit und es ist ein großes Glück, dieses Werk gelesen zu haben, ein Blick ins Paradies: Ébora!

Ein paar Sätze, ein paar Auszüge aus diesem großen Roman:

Fontanes Osterreise

1871, im Jahre nachdem Fontane beinahe als Spion von den Franzosen hingerichtet worden wäre, kehrt er nach Frankreich zurück. Er besucht seinen Sohn, der als Soldat in Frankreich steht und er fährt durch Nordfrankreich und Elsass-Lothringen. Festgehalten hat er das in einem dicken Buch „Aus den Tagen der Okkupation“. Ich habe es tapfer über einhundert Seiten gelesen und dann, ich gestehe es, zur Seite gelegt. Ich glaube auch, dass ich es nicht wieder aufschlagen werde, um diese Lektüre zu beenden. Nicht, dass mir dieses Buch nicht gefallen hätte, aber es ist sehr zeitbezogen. Es ist im hier und jetzt des Jahres 1871 geschrieben. Der Zeitgenosse muss es verschlungen haben, wenn er sich für den Feldzug 1870/1871 interessierte. Den Menschen des heutigen Jahrhunderts interessiert die Aufstellung der Schlacht nicht, auch nicht wie welcher Zug vordrang oder irgendeine Höhe verteidigte. Was heute noch interessant ist, sind Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten, sind Erklärungen, wie zum Beispiel diejenige, wie Montmartre seinen Namen erhielt. Aber dies ist zu wenig, zu viel ist ermüdende Lektüre, die ich mir nicht angetan habe. Theodor, sei mir nicht böse!

Eine märchenhafte Erzählung

Die Karawane ist eine schmale Erzählung des ach so jung verstorbenen schwäbischen Schriftstellers Wilhelm Hauff.

In ihr sind einige seiner schönsten Märchen verarbeitet. Die Kaufleute einer Karawane erzählen sich, um sich die Zeit zu vertreiben, Geschichten, eben jene Märchen, wie den Kalif Storch oder die Geschichte vom kleinen Muck. Ich habe lange schon keine Märchen mehr gelesen, aber ich war sehr schnell eingefangen vom Zauber dieser Geschichten in der Geschichte. Es hat mir Spaß gemacht, diese kleine Erzählung zu lesen und ich merkte, wie ich eintauchte und mich wohlfühlte in ihr.

Mit Zola in den Markthallen von Paris

Wenn man je im Leben Beschreibungen von Marktständen, von Gemüse-, Fleisch- oder Fischständen benötigen sollte, wenn man jemals nach der Beschreibung der Gerüche der verschiedenen Käsesorten, die auf Pariser Märkten angeboten werden, suchen sollte, dann greife man zu dem Roman „Der Bauch von Paris“ von Emile Zola.

Dann, aber auch nur dann. Denn die Handlung ist dürftig, die Charaktere zwar teilweise meisterhaft geschildert, aber wegen der dürftigen Handlung, die nie einen Spannungsbogen aufzuspannen vermag, ist es nicht ratsam, diesen dritten Teil der Sozialgeschichte einer Familie im zweiten Kaiserreich der Franzosen zu lesen. Die arme Hauptfigur, dem Gefängnis entronnen, verheddert sich in seine versponnenen Ideen und scheitert an seiner Familie, oder dem was er für Familie hält. Der arme Kerl ist so weltfremd, der Roman so blutleer, so gänzlich ohne Knistern, auch ohne jegliches erotische Flimmern, dass man schier verzweifeln kann. Natürlich, wie schon gesagt, gibt es wundervoll plastisch geschilderte Typen, die man lieben oder hassen kann, aber davon wird der Lesehunger nicht gestillt, davon wird man nicht satt.

Ich stand hungrig und dürstend auf, sehnte mich nach den nicht mehr vorhandenen Markthallen, möchte selbst durch diese stromern und von den Angeboten kosten und kaufen, aber ich blieb schrecklich unbefriedigt, wie nach der lang ersehnten Nacht mit jener Geliebten, die sich dann als höchst durchschnittliche Einschlafhilfe herausstellte.

Ich bin mir nach dieser Enttäuschung nicht sicher, ob ich alle zwanzig Teile dieser Romanfolge lesen werde, aber ein oder zwei Chancen will ich Meister Zola schon noch geben.

Ein gar merkwürdiges Buch

Da setzt sich ein Schriftsteller hin und schreibt auf, was er so sieht, was er als Kind erlebt hat, was aus seinem Fenster seines Hauses in den Bergen der polnischen Karpaten zu sehen ist, was für Geschichten die Dorfbewohner erzählen und nennt das Sammelsurium hochtrabend einen Roman. Ja hört mir auf, gibt es denn keine Lektoren mehr, die gequirlte Scheiße auch so bezeichnen? Natürlich kann der Mann schreiben: „Die Wirklichkeit ist nur eine unbestimmte Summe der Unendlichkeit“; „Die Sonne stieg höher und höher, damit die Menschen sich die Welt ansehen können.“; „Wenn der Himmel durch Leere schreckt, suchen wir nach Zeichen auf der Erde.“; „Die Versuchung nimmt immer die Form des Schönen an.“

So schreibt einer, der sein Handwerk versteht und es beherrscht, aber mit dem vorgelegten Roman hat das alles wenig zu tun.

Meteorologische Metaphern werden zum Abbild von Seelenzuständen, aber der Leser bleibt ratlos auf der Strecke.

Ich warne vor diesem Buch! Es heißt: „Die Welt hinter Dukla“, der Autor ist Andrzej Stasiuk.

Daniel Deronda

Nach mehr als eintausend Seiten einer nicht gerade leichten Lektüre melde ich mich zurück. Es ist nicht gerade leicht, den Inhalt dieses Romans in wenigen Worten zu schildern. Es ist aber notwendig, dies zu tun, da sonst die Kritik, mit der ich an diesem Buch nicht hinter dem Berg halten will, unverständlich bliebe.

Die Titelfigur dieses Romans der englischen Schriftstellerin mit dem Künstlernamen George Eliot, Daniel Deronda, wird im Hause eines englischen Adligen erzogen. Lange Zeit muss er davon ausgehen, der uneheliche Sohn dieses Adligen Sir Hugo zu sein. Später wird er erfahren, dass er Sohn einer jüdischen Schauspielerin und Sängerin und ihres Vetters ist, dass er von seiner Mutter, nach dem frühen Tod des Vaters, bei Sir Hugo, der sterblich in sie verliebt war, belassen wurde, damit sie ihr Leben ungehindert weiterleben konnte und gleichzeitig sich an ihrem Vater rächen konnte. Dieser war ein streng gläubiger Mensch, der seinen Enkel als Juden aufgezogen wissen wollte. Nun würde Daniel in einem christlichen Hause aufwachsen und der Großvater, gestorben zwar, hätte keinerlei Macht über seinen Enkelsohn.

Parallel zu dieser Geschichte wird diejenige der Gwendolen erzählt, die gezwungen ist, den Neffen Sir Hugos zu ehelichen, damit ihre Mutter nicht in Armut zu leben gezwungen ist, die ihr Vermögen gerade verloren hatte. Dieser Neffe ist nicht gerade der liebenswürdigste Zeitgenosse; aus einer früheren Beziehung hat er einige Kinder, auch einen Sohn, dem er in einem Testament den Großteil seines Besitzes vermacht, es sei denn seine Frau Gwendolen würde ihm einen legitimen Sohn gebären. Gwendolen, die Deronda auf einer Europareise kennenlernt, sich zu ihm hingezogen fühlt, weil sie in ihm einen moralisch höherstehenden Ratgeber erkennt, verzweifelt in der Ehe, die jedoch ein rasches Ende bei einem Segelunfall auf dem Mittelmeer vor Genua findet. Deronda, der gerade ebenfalls in der Stadt weilt, weil dort seine Mutter ihm gerade sein Judentum offenbart, kümmert sich um sie und veranlasst Hilfe.

Deronda hatte bereits vor der Entdeckung seiner Herkunft eine enge Freundschaft mit einem frommen, aber todkranken Juden geschlossen, den er ausfindig gemacht hat als Bruder einer bildschönen jungen Frau, die früh durch den Vater von der Mutter getrennt wurde und aus Gram sich das Leben zu nehmen bereit war, als Daniel sie rettete. Der Bruder möchte gern, dass seine Ideen, einen jüdischen Staat im Orient zu errichten, von Daniel aufgegriffen werden. Daniel ist dazu auch bereit, er heiratet die schöne Jüdin, Gwendolen wird ohne ihn fertig werden müssen und der Bruder kann in Ruhe sterben.

So ist der Hauptstrang dieses Romans, natürlich gibt es viele Nebenlinien. Alle prächtig erzählt, alles in einer gut durchdachten Manier, handwerklich auf ganz hohem Niveau. Und doch alles ist so schrecklich konstruiert, so fürchterlich gelehrt. Man merkt, dass die Autorin sich ihr Leben lang mit Fragen des Glaubens, des christlichen aber auch des jüdischen auseinandergesetzt hat. Sie hat starke Frauengestalten konstruiert, sie erzählt mit Kraft und man möchte einfach wissen, wie alles weitergeht, wie es sich auflöst, aber es reicht nie, dass man sagen könnte dies ist ein Roman, den man gelesen haben muss.

Kleist im Dreierpack

Was andere in ihrer Schulzeit lasen, habe ich nun endlich nachgeholt. Drei Novellen des großen deutschen Dichters, einer unserer Dichterfürsten, Heinrich von Kleist, zu lesen, war ein Vergnügen, keine Last.

Der Michael Kohlhaas ist so bekannt und ich möchte wetten, dass ihn viele dann doch nicht gelesen haben werden und nur wissen, dass er derjenige ist, der sich sein Recht selbst durch die Anwendung von Gewalt zu verschaffen suchte. Diese Novelle ist aber viel mehr. Es ist die allgemeingültige und allezeit zutreffende Schilderung von Missverständnissen und Intrigen, von bewusst und unbewusst falsch verstandenen Anweisungen, die Vorgesetzte an Mitarbeitende geben. Die Geschichte von verwandtschaftlichen Beziehungen, die schon mal dazu führen, eine berechtigte Klage niederzuschlagen. Es ist auch die Geschichte des Glaubens an das Recht und die Gerechtigkeit, die Geschichte von unversöhnlichem Hass und christlicher Nächstenliebe. Es ist eine ungeheure Begebenheit, die mit hohem Tempo und so zwingend erzählt wird, dass man mitgerissen wird, ob man es will oder nicht. Es ist aber auch und vor allem die Sprache, ein wundervolles, schnörkelloses Hochdeutsch, ein Genuss, eine so wundervoll geschriebene Geschichte zu lesen!

Die Geschichte der Marquise von O. steht der eben beschriebenen Novelle in nichts nach.

Hier wird eine in Ohnmacht gefallene Frau von einem Offizier, der sie vor Vergewaltigern rettet, selbst geschwängert. Die Versuche des Offiziers, die Ehre dieser Frau zu schützen, die Ungläubigkeit ihrer eigenen Familie gegenüber dem Vorfall, sie kann sich nicht erklären, wie sie geschwängert wurde, was ihr aber niemand – zumindest zunächst – glaubt. Hier endet alles in einem „Happy End“, was der Thematik und der Geschichte angemessen ist.

Schließlich nimmt Kleist in der dritten Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ seinen eigenen Tod, den „Liebestod“ vorweg. Die Verlobte des „Helden“ dieser Geschichte hat sich ihm geopfert und er hat sie, ihre Taten missdeutend erschossen. Nun, wo ihm die wahren Zusammenhänge entdeckt wurden, nimmt er sich das Leben.

Diese drei Novellen sind, ich kann es nur wiederholen, große deutsche Literatur, geschrieben von einem Meister dieser Sprache. Und ich kann, diese Geschichten lesend, einen Stolz auf diese Sprachen, ihren Reichtum, ihre Ausdruckskraft nicht verhehlen. Die Texte haben aber auch noch einen anderen Klang. Sie sind erotisch, nicht prüde, nicht pornographisch, aber spürbar und dennoch diskret.

Schade, dass Kleist nie einen Roman geschrieben hat, schade, dass er nicht länger auf dieser Welt leben wollte, um ihr noch mehr zu hinterlassen.

Roman ohne Eigenschaften

Genau heute vor 90 Jahren wurde ein Attentat auf den österreichischen Thronfolger verübt. Dieser Tag, der 28. Juni 1914, ist der „endlich“ gefundene Grund für den nur wenige Wochen später gestarteten ersten Weltkrieg. Genau an diesem Tag nun habe ich die Lektüre eines Romans, eines Romanfragments, ich scheue vor der Benutzung dieses Wortes angesichts der 1200 Seiten zurück, beendet. Es war der zweite Anlauf und die letzten knapp 200 Seiten habe ich ein wenig oberflächlich gelesen. Aber nun bin ich froh, dass ich diese Lektüre abgeschlossen habe, ich habe einen Roman ohne Eigenschaften gelesen.

„Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil hat ganz viele Eigenschaften. Er sucht nach dem Sinn des Lebens, er philosophiert sich durch die Welt des Jahres 1913, da beginnt der Roman. Er heißt Ulrich und ist ein liebenswürdiger Zyniker, ein Satiriker, ein Frauenliebhaber, ein kluger Kopf und ein Idealist. Er irrt durch die Welt, wird Sekretär der „Parallelaktion“, die man aus der Taufe hebt, um das im Jahre1918 fällige 70zig jährige Thronjubiläum des Kaisers zu feiern und die Preußen auszubooten, die just im selben Jahre mit Sicherheit das läppische 30zig jährige Jubiläum ihres Monarchen zelebrieren werden wollen.

Es wird in diesem Buch über alles philosophiert und es lebt davon, dass der Leser weiß, dass es nie zu den Feierlichkeiten kommen wird. Das Buch lebt von seinen wundervollen Metaphern, genauen Beobachtungen und grandiosen Menschenbeschreibungen. Es reiht einen klugen Gedanken an den anderen. Es ist so unendlich schwer, sich stets zu konzentrieren und schon nach wenigen Seiten Lektüre überfällt den Leser eine bleierne Müdigkeit, der man immer nachgeben sollte, um dann erfrischt die nächsten Seiten anzugehen.

Man hat diese ständigen Pausen bitter nötig, weil man sonst der Wucht der Gedanken kaum dauerhaft gewappnet sein dürfte.

Bestimmen wir unser Leben oder wird es bestimmt? Zitat: „Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, dass sich nun nicht mehr viel ändern kann. Es ließe sich sogar behaupten, dass sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, dass alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können; die Ereignisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeit und Nichts, und schon am Mittag ist mit einem Mal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so überraschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt. Noch viel sonderbarer aber ist es, dass die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück.“

Wenn man jetzt erst einmal eine Pause benötigt, kann ich das verstehen, weise aber pflichtschuldigst darauf hin, dass dies nur wenige Textzeilen waren, die ich hier wiedergegeben habe. Weiteres gefällig?

Der Staat wird nicht anders als Hotel verstanden, in dem man Anspruch auf höfliche Bedienung habe. In der Geschichte der Menschheit gäbe es kein freiwilliges zurück. Der Mann ohne Eigenschaften habe eine Eigenschaft: immer zu spötteln, statt sich dem Leben zu widmen. Sinn des frischen Gemüses ist es, Büchsengemüse zu werden. Die Schwere des Lebens, dieser heimlich auf uns lastende Missmut, komme dadurch zustande, dass wir alle sterben müssten und dass alles so kurz und wahrscheinlich vergeblich sei.“

Und die vielleicht schönste Metapher dieses Romans: „Gewisse Dinge müssten getan werden, um Mensch zu sein und nicht nur ein flaches Lesezeichen in den Bänden der Fachliteratur.“

Ulrich hat eine Geliebte, die ihm auf die Nerven geht, eine Kusine, die zu vögeln er sich nicht traut, er übersieht das hübsche willfährige Kammermädchen und verweigert sich der Frau eines Freundes, die gern von ihm ein Kind bekommen möchte. Er wird mit seiner Schwester ein Verhältnis haben, aber dies alles, diese amouröse Seite des Romans ist nicht ausgeleuchtet, sondern geht unter im philosophischen Diskurs der an der „Parallelaktion“ beteiligten Menschen. So treibt sich das Philosophieren durch den Roman wie ein Bohrer durch ein dickes Eichenholzbrett.

Ich bin nicht reif für dieses Werk, wird man sagen, wenn man diese Zeilen gelesen hat.

Ich stehe hier und kann nicht anders.

Gefährliche Geliebte

Vor einigen Jahren stritt sich das „Literarische Quartett“ über den Wert des Romans „Gefährliche Geliebte“ von Haruki Murakami. Am Ende war das Trio der ständigen Teilnehmenden in zwei Lager gespalten und die Sendung konnte nicht mehr lange in der gewohnten Form fortgesetzt werden. Der Streit ging darüber, ob der Roman reine Pornographie oder ein Meisterwerk sei. Jetzt habe ich diesen Roman gelesen und fand ihn „weder noch“.

Keine Pornographie, aber auch kein Meisterwerk. Eine gut geschriebene Geschichte. Ziemlich schlüssig, nicht langweilig, mit einigen sehr schön beobachteten und beschriebenen Kleinigkeiten, aber nichts, was nicht andere Autoren auch schon so oder ähnlich zu Papier gebracht haben. Der Roman spielt in Tokio, könnte aber auch in New York, Hamburg oder Madrid spielen. Es ist ein westlicher Schreibstil, ein abendländischer Roman. Zwar bleibt am Ende das Schicksal der Geliebten im Unklaren, zwar wüsste ich gern, was die Dame so im täglichen Leben macht, aber da unser Autor das auch nicht wusste und nicht zu trivial werden wollte, lässt er das lieber ganz im Dunkeln. Das ist geschickt und ihm nicht weiter vorzuwerfen.

Eine nette Lektüre, mehr aber auch nicht.

Wieder auf hoher See

Wieder Urlaub und wieder weitere Folgen der Romane des Patrick O’Brian. Immer noch sind sie amüsant und kurzweilig, aber ich merke, dass sich die Geschichten wiederholen. Sie ähneln einander, sie beginnen manchmal ein wenig langatmig zu werden. Die Figuren werden immer mehr ausgeschmückt, aber die Geschichten ziehen sich manchmal zu sehr. So kommt ein gewisses Sättigungsgefühl zustande. Noch habe ich fünf oder sechs Bände zu lesen. Ich werde es tun, weil es auch entspannend ist und irgendwie zu meinem Urlaub inzwischen dazu gehört.

Fürstliche Lektüre

Um es mit einem Halbsatz des gerade gelesenen Romans zu sagen: „Man müsse methodisch zu Werke gehen und mit dem Anfang beginnen.“

Kann ein Roman schlecht sein, der folgendermaßen beginnt: „Es ist auf der Albrechtsstraße, jener Verkehrsader der Residenz, die den Albrechtsplatz und das Alte Schloss mit der Kaserne der Garde – Füsiliere verbindet, – um Mittag, wochentags, zu einer gleichgültigen Jahreszeit.“?

Nein ist die klare Antwort. Der Roman ist köstlich!

Der Autor kann schreiben, er ist ein Meister der Formulierung. Er beschreibt Details, er beschreibt sie grandios. Die Unzulänglichkeiten werden entblößt, die Schwächen offengelegt. Alles erklärt sich von selbst. Die Ironie ist wohl dosiert. Der Witz vornehm zurückhaltend und dennoch so perlend wie der berühmte Sekt der französischen Witwe Cliquot.

Der Roman heißt „Königliche Hoheit“, sein Autor Thomas Mann. Diese Komödie handelt von dem Erbprinzen eines kleinen deutschen Staates, der sich in die Tochter eines amerikanischen Milliardärs verliebt, sich um sie bemüht und um sie am guten Schluss in sein durch schwiegerväterliche Mittel restauriertes Schloss zu führen. Der bankrotte Staat ist gerettet und das Glück der beiden Liebenden auch. Vorhang!

Mehr ist nicht und doch ist es ein nicht nur unterhaltsames Buch, sondern eines, das auch heute noch genau passt. Der Staat ist noch genau so bankrott, wie der beschriebene, die Menschen noch genau so weit davon entfernt, sich getroffen zu haben und in sich zu ruhen. Zwar sind die Namen der auftretenden Personen gewöhnungsbedürftig, sie sind zum Teil noch schrecklicher als diejenigen Namen, die Fontane seinen Romangestalten verpasst hat.

Aber das ist völlig zweitrangig!

Lesen, kann ich nur empfehlen. Lesen und sich amüsieren!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Klassikerin der Moderne

Ein Roman der enttäuschten Wünsche, der geplatzten Hoffnungen und der unerfüllten Träume. Man liest, dass die Figuren, einige zumindest, sich nicht an ihre Träume erinnern können, wenn sie erwachen. Eine Heldin der Geschichte, Mick, lebt in zwei Welten, einer inneren und einer äußeren. Sie komponiert, sie erfindet Lieder in dieser inneren Welt. Sie verliert den Zugang zu dieser Welt, als sie gezwungen wird, Geld zu verdienen, von der Schule zu gehen und als Verkäuferin in die Welt der Erwachsenen zu wechseln. Es ist dies auch der Roman der vergeblichen Lieben. Jeder liebt jemanden, ohne Chance auf das beglückende Gefühl, das Gefühl erwidert zu bekommen. Es sind die randständigen Menschen, die armen, die geschundenen. Die Farbigen in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg in einem Südstaat der Vereinigten Staaten, die weißen Fabrikarbeiter, die Sozialschwärmer. Man könnte glauben, dass es Figuren des Nachtasyls Gorkis sind, die nach Amerika ausgewandert sind. Man kann den Dreck, die Armut, das Elend förmlich mit den Händen greifen.

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“ heißt der Roman Carson McCullers. Es ist eben der Roman über die Einsamkeit, das Alleinsein mit seinen Gefühlen. Das Spüren des Unverständnisses über die Existenz des nebenan lebenden Menschen. Und schließlich die immer wieder gestellte Frage nach dem Sinn. Dem Sinn der eigenen Existenz, dem Sinn des Lebens.

Die Erzähltechnik ist faszinierend, im Film würde man von Episoden sprechen, die geschickt aneinander montiert werden. Auf diese Weise kreuzen sich die Schicksale der Personen. Sie haben – möglicherweise – einen Mittelpunkt, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückfließt. Singer, der Taubstumme, wird zum Zentrum dieser Geschichte und als er aus der Geschichte verschwindet, ich sage nicht wie, denn ich will ja nichts vorwegnehmen, da zerfällt sie in Einzelteile. Meisterlich.

Die Autorin, längst eine Klassikerin!

Brasilianische Meisterliteratur

Der Brasilianer Machado de Assis hat mit dem Roman „Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas“ ein weiteres Meisterwerk geschaffen, das ich gar nicht hoch genug loben kann.

Vor allem wegen des gleichbleibend ironischen Tons, der Leichtigkeit mit der er da jemanden aus dem Jenseits schreiben lässt. Bras Cubas beginnt seine Memoiren mit der Schilderung seines Todes, er schweift oft vom Thema ab, gerät ins Philosophieren und tritt immer wieder mit dem Leser in ein Gespräch ein. Bei der Lektüre fühlte ich mich häufig an Sternes Tristram Shandy erinnert, nur dass der noch weitschweifiger zu Werke gegangen war. Der Stil dieses Romanciers ist jedenfalls bewundernswert.

Das Lesen kurzweilig und schlicht erheiternd, so schön kann Literatur, Meisterliteratur sein!

Glückssuche

„Es war einmal …“, so fangen Märchen an, manchmal auch welche für Erwachsene. Für die waren auch die alten Geschichten geschrieben worden, nur haben wir sie dann im Laufe der Zeit mehr für unsere Kinder aufgehoben. Nun schreiben heutzutage die Autoren selten in dieser Märchenform, weil man sich dann meistens einer sehr bildreichen, Sachverhalte vereinfachenden Sprache bedient. Das klingt dann schnell kindlich und wer will das dann noch lesen?

Ein solches Buch in dem genau beschriebenen Stil hat der Franzose François Lelord geschrieben. Es heißt „Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück“ und handelt von einem Psychiater, Achtung der Autor ist so einer, und seiner Suche nach dem Glück. Er unternimmt eine Weltreise, um herauszufinden, warum Menschen, wodurch glücklich sind. Am Ende, so ist das bei Märchen wird alles gut und das macht den Leser dann auch ein wenig glücklich.

Aber nur ein wenig, weil das ganze Buch doch ein bisschen zu infantil im Ton ist und die Botschaft, die ja durchaus eine der wichtigsten der Menschheit ist, alles andere als diese Infantilität vertragen würde. Die Botschaft lautet: Carpe diem!

Und das ist keine so ganz neue Erkenntnis. Nicht das Ziel formulieren, glücklich sein zu wollen, sondern, es zu sein, ist die Kunst. Nicht vergleichen und neiden, sondern lächeln, sich an der Bergwanderung ebenso freuen, wie an Sonne und Meer.

Es gibt nur dieses Leben, es gibt keine Generalprobe und etliche Aufführungen. Man lebt im hier und jetzt, glücklich oder nicht.

Dann lieber glücklich!

Das Attentat

Ich habe wenige Schriftsteller der Gegenwart, die ich wirklich gern lese, denen ich mich nahezu vorbehaltlos anvertraue und auf Leseabenteuer mitnehmen lasse. Lenz und Grass gehören dazu, Kundera sowieso und Harry Mulisch.

Die Süddeutsche Zeitung hat 50 Bücher mit Romanen der Gegenwartsliteratur herausgebracht zu einem sehr vernünftigen Preis in guter Aufmachung. Unter diesen Romanen ist Mulisch mit „Das Attentat“ vertreten.

Die Geschichte spielt im Hungerwinter 1944/1945 in Holland. Vor dem Nachbarhaus des „Helden“ Anton wird ein holländischer Faschist erschossen. Die lieben Nachbarn tragen vor dem Eintreffen der Deutschen den Leichnam vor die Tür von Antons Eltern. Noch in derselben Nacht werden die Eltern und sein älterer Bruder getötet. Nur der zwölfjährige Anton überlebt und trägt fortan dieses Attentat mit sich herum. Er wird es nie richtig verarbeiten, aber immerhin gelingt es ihm, mehr zufällig als wirklich gewünscht, die Geschichte zu rekonstruieren und insoweit aufzubereiten.

Der Roman ist ein wunderbares Beispiel für die Kunst des Autors, eine Geschichte zu erzählen, sich mit der schrecklichen Vergangenheit auseinanderzusetzen und dennoch niemand zu denunzieren und auch niemand die alleinige Schuld zuzuweisen. Vielmehr ist es eine objektive Betrachtung, ein Abwägen der Geschehnisse und ein Lesevergnügen.

Ich mag diesen Autor, ich schätze seine Literatur und ich wünsche ihm, dass er möglichst bald mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird.

Altersschwäche

Ich muss diesen Roman vor Jahren schon bereits einmal begonnen haben, werde ihn dann allerdings weggelegt haben, da er mich wahrscheinlich langweilte. Jetzt habe ich ihn auch nicht gerade verschlungen, aber doch mit Genuss beendet. Die Rede ist von dem Roman des Italo Svevo, der in seiner – mir vorliegenden Werkausgabe – mit „Ein Mann wird älter“ nicht ganz passend übersetzt ist.

Das Original heißt „Senilità“, was man einerseits als Senilität oder andererseits als Schwäche des Alters übersetzen kann. Und dabei handelt es sich eher um eine Schwäche der Unerfahrenheit, der nicht gelebten Liebe, dass der gar nicht alte Romanheld Emilio sich mit einer – sagen wir es, wie es ist – sehr leichten jungen Dame einlässt. Sie betrügt ihn von vorn bis hinten, er vernachlässigt seine hässliche Schwester, seine Freundschaft zu einem Bildhauer und mir schien immer auch seine Arbeit, um diesem Frauenzimmer nahe zu sein. Seine Trennungsversuche scheitern lächerlich, seine Bereitschaft ihr zu glauben, obwohl er sie kühl als das analysiert hat, was sie ist, überwiegen immer wieder. Am Ende ist er älter geworden, aber eine Frau wie diese, könnte ihm sicherlich wieder den Kopf verdrehen.

Der Roman, in dem nicht so schrecklich viel passiert, brilliert dadurch, dass er die Situationen, in die der Autor seine Figuren versetzt, durchleuchtet, sie analysiert und dann doch sie sich nicht so verhalten lässt, wie es die gerade stattgehabte Analyse ratsam erscheinen ließ. Das ist so menschlich und darum so überzeugend gut.

Therese

Ich bin ein Verehrer des wundervollen Schriftstellers Arthur Schnitzler. Ich liebe seinen Ton, seine Sujets. Jetzt nun seine Chronik eines Frauenlebens: Therese.

Diese Frau wird jung schwanger, versucht als Lehrerin sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird von den Kerlen enttäuscht und von ihrem ungeliebten, missratenen Sohn verachtet, ausgenutzt und schließlich ermordet. Sie ist eine arme Seele. Schnitzler schildert ihr Leben mit Kraft und einem vorwärtstreibenden Ton. Er hat nicht Mitleid mit seiner Heldin, er hat Sympathie für sie. Er analysiert ihr Leben, er erklärt, wie etwas passiert, wie es zu dem kommt, was passiert. Es ist dieser Roman auch eine Beschreibung des Lebens der Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie haben noch nicht sonderlich viel in der öffentlichen Gesellschaft zu bestellen, aber im Hause sind sie diejenigen, die „das Sagen“ haben. So war es schon immer, so bleibt es. Das Weibliche zieht uns an, immer. Die arme Therese hat nicht viel Glück in ihrem Leben gehabt, es ist die Beschreibung ihres Lebens und dasjenige vieler anderer. Deshalb ist die Geschichte mir so nahe, sie ist sehr wirklich.

Im Räderwerk

Ein Drehbuch ist eine literarische Form, mit der ich mich bislang nicht auseinandergesetzt habe. Jetzt habe ich „Im Räderwerk“ von Jean-Paul Sartre gelesen.

Ein ganz und gar packender Stoff, ebenso erzählt. Ein durch eine Revolution an die Macht gekommener Diktator wird der Prozess gemacht. Es geht um seine Verbrechen, es geht um seine Gräueltaten, die er erst zu rechtfertigen beginnt, als seine große Liebe vor dem Tribunal aussagt. Es wird klar, dass er seine Taten durchaus rechtfertigen kann, dass sein Nachfolger seine Politik fortsetzen wird. Es wird auch klar, dass er seiner großen Liebe, diese nie gestanden hat, dass auch sie, die diese Liebe durchaus erwidert, sich ihm nie anvertraut hat. So stirbt er denn, nun also in der Gewissheit geliebt worden zu sein. Klingt kitschig, hat vielleicht auch ein wenig von dieser Revolutionsromantik, ist aber – siehe oben – packend und spannend, bisher allerdings nicht verfilmt worden. Sein Theaterstück „Schmutzige Hände“ arbeitet sich an der gleichen Problematik ab und ist doch ganz anders.

Drehbücher sind ein nicht zu unterschätzender literarischer Zweig!

Wieder einmal der Commissario Brunetti

Der zwölfte Roman nun bereits der Donna Leon. Ihr Kommissar Brunetti wird kaum älter. Ihre Geschichten aber immer privater. Sie waren nie reißerische Thriller, das ist nicht das Metier der Dame; vielmehr geht es ihr um den Blick auf Italien, die Gesellschaft, die ein wenig morbide ist, wie die Kulisse Venedigs, wie der Gedanke an eine untergehende Stadt. Der englische Titel heißt „Uniform Justice“, wie man ihn adäquat ins Deutsche übersetzt, ist mir nach der Lektüre nicht klar. Da merkt man wie schwer es Übersetzer haben. Ich habe mich – wie immer – bei der Lektüre wohlgefühlt. Aber ich habe auch Abnutzungserscheinungen festgestellt. Brunettis Familie ist zu sehr ein Ort der vollkommenen Harmonie, so etwas gibt es nicht. Auch das Leben mit seiner Gattin, kann nicht so vollkommen idyllisch ablaufen, wie die Autorin es schildert. Das ist keine Mäkelei, aber irgendwie ermüdet das schönste Konzept, wenn es sich nicht entwickelt. Also gib acht Donna!

Tartarin

Der französische Schriftsteller Alphonse Daudet hat im neunzehnten Jahrhundert die Figur des Tartarin von Tarascon geschaffen.

Einen Helden mit den zwei Gesichtern, den zwei Seelen. Auf der einen den Don Quichotte und auf der anderen den Sancho. So streiten die beiden in dem Hirn des Einfältigen, so erlebt er seine Abenteuer, so erlegt er in Afrika einen Löwen und kehrt dann heim in sein geliebtes Tarascon, in jenen Ort, in dem er König ist. Nun wird er den lieben langen Tag über seine Abenteuer schwadronieren. So hat er seinem Autor Ruhm gebracht und den Lesern bis auf den heutigen Tag das Schmunzeln nicht aus dem Gesicht weichen lassen.

Ein netter kleiner Appetithappen, eine literarische Zwischenmahlzeit.

Howards End

Ein ziemlich geschwätziger Roman, dieser „Howards End“! Ein Roman im Stile der englischen Autorinnen und Autoren, die vor Edward M. Forster schon Geschichten aus der vornehmen Gesellschaft geschrieben haben. Jane Austen etwa oder George Elliot.

Man erlebt starke Frauen und nicht ganz so starke Männer. Das ist alles sehr nett geschrieben, da gibt es auch eine Reihe tieferer Gedanken, aber es ist halt doch geschwätzig und konstruiert. Es ist alles ein wenig vorhersehbar. Ein wenig zu wenig, für eine Geschichte, die man in eine Reihe von 50 Bücher ausgewählt hat, die zu den besten des letzten Jahrhunderts gehören sollen.

Ein lesbarer Roman, ja; einer, den man gelesen haben muss?

Eine unvollendete Lektüre

Man möge mir verzeihen, ich habe, was wohl selten vorkommt, ein Buch nicht in Gänze gelesen. Ich flog über die Seiten, fand es alles nicht mehr so spannend, konnte mich nicht gefesselt fühlen und blätterte dann die letzten hundert Seiten mehr oder weniger „durch“. Das tat ich dem Autor an, dem ich im Sommer in Marbach „begegnet“ war. Die Gedichte von Eduard Mörike flatterten schon im Wind in der Nähe des Bahnhofs und im Schillerarchiv konnte man einen bescheuerten Film sehen, der das Leben des Autors schilderte, aber doch irgendwie so bemüht im hier und jetzt angesiedelt sein wollte, damit die jungen Leute auch angesprochen werden sollen.

Mörike hat den „Maler Nolten“ geschrieben. Seinen einzigen Roman. In wunderschöner Sprache, aber eben leider zu lang, zu wenig fesselnd und in seiner Langatmigkeit irgendwie zu angestaubt. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen fünf Menschen, die am Ende – wenn ich mich nicht völlig täusche – alle tot sind. Alles ist ein wenig mystisch, ein wenig von vorgestern und zum Teil auch einfach langweilig.

Es tut mir leid, Eduard, aber so viele andere Bücher warten auf mich, wollen von mir gelesen werden und sollen es auch. Ich bleibe dran und werde darüber berichten!!

Ein Schriftsteller wird entdeckt

Natürlich kennt man den Namen Georges Simenon, aber schon Romane von ihm, hatte ich noch nicht gelesen. Filme mit seiner „Hauptfigur“, dem Kommissar Maigret, kennt man natürlich. Aber die Lektüre von Romanen, womöglich sogar solchen, die mit seinem berühmten Kriminalisten nichts zu tun haben, das ist schon seltener.

Nun hatte ich den Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah“ auf meiner Leseliste. Die Geschichte eines braven Bürgers, der in eine Katastrophe hineinrutscht. Bei dem alles zusammenbricht, der zum Mörder wird, der sein ganzes Leben umkrempelt und am Ende sich zufrieden wiederfindet.

Das ist sehr dicht beschrieben, wundervoll, wie ein Weihnachtsabend und eine Silvesternacht in Paris beschrieben wird, wie man sich mit dem einsamen Wolf identifizieren muss. Alles ist sehr glaubwürdig und realistisch beschrieben, ja so kann es gewesen sein, man glaubt es, es leuchtet ein. Man liest diesen Roman, man bleibt dabei, kann gar nicht abschweifen und ist verblüfft, dass irgendwann – viel zu früh – das Ende der Geschichte erzählt ist.

Schade! Wundervoll!

Ein Schriftsteller, der Mann ist ein Literat, kein platter „Krimiautor“.

Meine Zeit mit Tante Julia

Eine Freundin empfahl mir Mario Vargas Llosa und insbesondere den Roman „Tante Julia und der Kunstschreiber“. Gesagt, gelesen. Schon nach einer Seite erkannte ich den Stoff des Buches wieder. Er war in einen Film transformiert worden. Allerdings nicht dieses ganze geniale Szenarium, nur Teile, nur – mehr oder weniger die Rahmenhandlung. Der Film verlegte den Ort der Handlung, die ungeheure Tatsache, dass der junge gerade 18jährige Neffe sich in seine Tante verliebt, die bereits 32 Jahre zählte und geschieden in der Familie auftaucht, auf der Suche nach einem neuen Gatten.

Der Film spielte „natürlich“ in den USA, das Buch in Peru. Das Buch ist um so vieles besser, ist so dicht, so rund. Ein Kapitel, in dem man erfährt, wie die beiden Liebenden zueinander finden, folgt ein Kapitel mit einer Geschichte, wie der junge Mann in einem Radiosender als Hörspielautor angestellt, sich etwas zum Studium zuverdient. Unser Autor erzählt die Geschichten nie zu Ende, er sagt eigentlich immer: „Fortsetzung folgt“. Der gute Mann hat ein Problem, er vergisst, da er mehrere Sendereihen gleichzeitig entwickelt, welche Figur in welchem Stück spielt, was für Profile diese Personen haben und so weiter. So geschieht das Unvermeidbare, der Mann verwechselt alles, alle und zunächst ist der Protest der Hörer groß, später die Bewunderung vor der Genialität. Schließlich aber muss unser Autor reinen Tisch machen. Er lässt alle seine Figuren in großen Katastrophen enden. Sie sterben bei Erdbeben und Feuersbrünsten. Man wird den Verdacht nicht los, dass auch unsere Rahmenhandlung vielleicht gar nicht real ist und diese Welt auch nicht und wir alle nur irgendwie Figuren in irgendwelchen Kapiteln sind und ab und an der himmlische Autor eine Katastrophe schicken muss, damit er nicht alle Figuren und alle Handlungen verwechselt.

Dem Jungen und Julia ist das egal. Sie lieben sich währenddessen. Die sind zu beneiden und der peruanische Magier Llosa zu bewundern und zu feiern!

Allerseelen

Cees Nooteboom hat einen wundervollen Roman vorgelegt. Die Geschichte gleicht einer Odyssee, in der unser Held durch Berlin und später durch Madrid irrt. Er wird nicht nach Ithaka zurückkehren, er wird zu neuen Ufern aufbrechen.

„Allerseelen“ muss man lesen, man kann, nein man, nein ich, will es nicht nacherzählen. Ich finde, dass es manchmal besser ist, wenn geschwiegen wird. Lest diesen Roman, lest diese Geschichte einer Liebe und die Liebeserklärung eines Holländers an die Deutschen und an Berlin.

Es gibt viele wundervolle Romane, dieser Roman von Cees Nooteboom gehört dazu!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Warnung vor einem Buch

Ich habe das Gefühl schon das eine oder andere Mal gehabt. Allerdings noch nie so stark wie in dem vorliegenden Fall. Ich warne daher vor der Lektüre dieses Romans, sie kann abhängig machen, krankmachen, zum Nachdenken über das eigene Leben verführen und möglicherweise zu Veränderungen Anlass geben. Das wäre schrecklich, das darf nicht sein. Daher mein Appell diesen Roman ganz schnell wieder aus der Hand zu legen, auch wenn die Buchhändlerin einem zum Kauf dieses Buches beglückwünscht hatte, auch wenn in den Feuilletons der Zeitungen der Roman bejubelt wurde und eine ältere Frau in meinem Lieblingssender anruft und die Lektüre des Romans auf das Wärmste empfiehlt. Ich bleibe dabei, lasst die Hände von diesem Buch, es ist so wundervoll!

Man stelle sich vor, wie ein Gymnasiallehrer, einer von der trockenen Sorte, der jahrein jahraus jeden Tag in seine Schule marschiert und die Schülerinnen und Schüler in den alten Sprachen unterrichtet, plötzlich alles stehen und liegen lässt und beschließt, ein anderes Leben zu führen. Zwei kleine äußere Anlässe genügen ihm, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Er nimmt den Nachtzug nach Lissabon. Hat er doch eine ihm unbekannte Portugiesin in seinem heimischen Bern kennengelernt und in einer Spezialbuchhandlung einen schmalen Band eines Mannes in portugiesischer Sprache in die Hände bekommen.

Er will nun nach mühsamer Übersetzung der Seiten den Autor kennenlernen, der ihm seelenverwandt zu sein scheint, der philosophische Betrachtungen zu Papier gebracht hat, die in einem Selbstverlag erschienen. Es stellt sich heraus, dass der Autor längst gestorben ist. Aber es ist spannend, die Spuren eines Lebens nachzuzeichnen, sie zu verfolgen, Zeitzeugen zu befragen und so in ein Leben einzudringen und ganz viel von dem zu erfahren, wie dieser fremde Autor, dieser gänzlich Unbekannte gelebt hat.

Ich konnte nicht anders als mich immer tiefer hineinzulesen, immer tiefer in der Lektüre zu versinken. Natürlich habe ich schon viele dieser Gedanken gehabt, die hier geäußert werden von einem, der darüber tief nachgedacht hat und der Antworten sucht, Fragen gestellt hat, die alle Menschen bewegen. Was ist der Sinn dieses Lebens, wie gehe ich mit meinen Todesängsten um, wie lebe ich mein Leben, was sind mir Freunde wert?

Eine unerschöpfliche Quelle dieser Roman.

Und diese Sprache, diese wundervolle an Vergleichen reiche Sprache, dieser ruhige Erzählton, dieser Roman ist ein Wunder in der literarischen Landschaft. Wenn du selbst versuchst, ab und an zu schreiben, dann bist du verzweifelt, weil hier dir einer zeigt, wie stümperhaft deine Versuche sind und wie intensiv jemand schreiben kann, der wirklich schreiben kann.

Der Mann heißt Pascal Mercier, eigentlich ist er Hochschullehrer in Berlin und lehrt Philosophie als Peter Bieri, er könnte aber auch Max Mustermann heißen, es ist egal, der Mann ist ein ganz großer Schriftsteller und jeder kann dankbar sein, ein so wundervolles Buch geschenkt bekommen zu haben.

Gatsby

Habe ich schon ein Projekt gelobt, das die Süddeutsche Zeitung als Werbeaktion unternommen hat? Man hat 50 Romane des 20. Jahrhunderts ausgesucht, die nun Monat für Monat veröffentlicht werden in sehr ansprechender Form und für 4, 90 €. Das wird alles noch günstiger, wenn man gleichzeitig die Zeitung abonniert, aber das ist nicht notwendig und so kommt man an einige sehr lesbare Romane, die ich, soweit ich sie nicht schon meiner Lektüre zugeführt habe, nunmehr in diesen Ausgaben lese.

So auch den Roman „Der große Gatsby“ des Amerikaners Francis Scott Fitzgerald.

Es geht um einen „Selfmademan“, der Geld aus zweifelhafter Herkunft gescheffelt hat, um ausschließlich einer Frau, seiner ersten großen Liebe zu imponieren. Das Projekt scheitert schließlich und endet tragisch. Ich habe einen Teil dieses schmalen Romans bei Jazzmusik gehört und diese Musik tat der Lektüre gut. Das Geschehen spielt in jenen flotten Jahren um 1930 in einem goldenen Amerika, wo es nur reiche und ganz reiche Menschen zu geben scheint. Oberfläche hochpoliert und daher besonders glatt. Kein Wunder, dass bei der Beerdigung des großen Gatsby niemand mehr Zeit hatte, niemand, oder fast niemand mehr seinem Sarg folgte, er war nur als Lebender interessant, als Toter nutzte er nichts mehr.

Such is life!

Leviathan

Der Roman des Anglo-Franzosen Julien Green „Leviathan“ ist ein eigenartiges Kopfprodukt. Eine psychosoziale Studie. Ein Mann, aus dem Gleichgewicht, vergewaltigt eine junge Frau. Diese wird nie ihre Schönheit wiedererlangen, die sie vor dem Gewaltakt besaß. Ein alter Mann wird umgebracht, eine andere Frau, ein Ungeheuer auch sie, schießt sich selbst eine Kugel in den Körper. Am Ende stirbt das junge Opfer der Gewalttat.

Der Leser bleibt fassungslos zurück. Er hat ein sprachliches Meisterwerk gelesen, aber er ist dennoch verstört. Hilflos grüßt der Leser und empfiehlt das Werk dennoch heftig.

Selbstbetrachtungen

Philosophieren, so weiß ich aus der Lektüre eines Buches, dessen Titel ich nicht mehr parat habe und vor vielen Jahrzehnten las, bedeutet, sterben lernen! Der Autor Marc Aurel hat in seinen Selbstbetrachtungen nichts anderes getan als sich auf den Tod vorzubereiten. Sich und alle seine Leserinnen und Leser, seit nunmehr zweitausend Jahren.

Aurel hat so viel christliches Gedankengut in seinen Aussagen, dass man sich fragt, ob er nicht bereits Kenntnis von einzelnen Schriften gehabt haben könnte. Diejenigen des Paulus zum Beispiel. Ich habe es nicht recherchiert, ob es von der Zeit her stimmen könnte, aber es ist auch nicht so bedeutend.

Ich belasse es bei einem Satz, aus dem zwölften Buch: „…bist Du darauf bedacht, nur die Zeit, die Du lebst, das heißt die Gegenwart, ganz zu durchleben, so wird es Dir möglich sein, den Rest Deiner Tage bis zum Tode ruhig, edel und dem Genius in Dir hold hinzubringen.“

Und einen habe ich noch aus dem vierten Buch: „Die Welt ist Verwandlung, das Leben Einbildung.“

Korrekturen in vielen Formen

Der Amerikaner Jonathan Franzen hat ein Familienepos geschrieben. Über eine amerikanische Familie berichtet er, deren Eltern um die 75 Jahre alt sind und deren drei Kinder ihr eigenes Leben führen. Mutter will, dass sie alle noch einmal gemeinsam Weihnachten feiern. Dieses Fest wird tatsächlich gemeinsam gefeiert, wenn auch nur wenige Stunden die Familie noch einmal eint und entzweit. Wenn alle mit ihren Lebenslügen aufeinandertreffen, dann ist das Buch im Hier und Jetzt angekommen. Die Erzählweise ändert sich ständig, sie wird bis zu einem gewissen Punkt vorangetrieben und dann wird das Leben einer anderen Figur erzählt, bis auch diese Figur an dem zuvor geschilderten Ereignis angelangt ist, vielleicht diesen Punkt auch überschritten hat. So bewegt sich die Erzählung fort. Auf den letzten vielleicht fünfzig Seiten zieht das Erzähltempo enorm an und man erhält eine unglaubliche Menge an Fakten aufgetischt, die auf den vorhergegangenen 700 Seiten in einem gemächlichen Tempo ausgebreitet wurden.

Die Korrekturen heißt die Familiensaga. Niemand der fünf Personen steht ganz im Mittelpunkt, die Sympathie des Autors gehört allen und niemand. Das ist des Autors Art eine gewisse Distanz zu den Personen aufrecht zu erhalten.

Das Wort Korrekturen kommt in vielen Schattierungen vor. Man korrigiert Drehbücher und Kommilitonen, Morphologien und natürlich auch schlicht das Leben an sich!

Und ein Buch, das Sätze wie die folgenden enthält kann nicht wirklich schlecht sein:

„Dabei war die traurige Wahrheit nun einmal die, dass nicht jeder außergewöhnlich und nicht jeder vollendet cool sein konnte; denn wer wäre dann noch gewöhnlich? Wer übernähme die undankbare Aufgabe, vergleichsweise uncool durchs Leben zu gehen?“

Aber so richtig zu den beeindruckendsten Lektüren meines Lebens gehört der Roman dann nun auch wieder nicht. Er hat mich gut unterhalten, mehr aber auch wieder nicht.

Ein Irrenhaus

Wieder einmal habe ich einen mir bis dahin nicht bekannten Roman eines meiner „Lieblingsrussen“ gelesen. Schon seit einiger Zeit glaubte ich alles von Fjodor Dostojewski gelesen zu haben, aber dann taucht immer wieder ein mir unbekannter Roman auf und ich greife dann gern zu und lese.

Nach wenigen Seiten bin ich in die Geschichte so hineingezogen, dass ich dem Helden oder der Heldin gern zu Hilfe eilen würde. So geschah es wieder bei der Lektüre „Das Gut Stepanitschikowo und seine Bewohner“. Diese Bewohner werden von einem Possenreißer, einem gänzlich unbedeutenden Menschen, derartig dominiert, dass alle an einen großen Wohltäter, einem seelenvollen Philanthropen glauben. Dabei versucht der Mann nur möglichst gut zu überleben. So wie Biedermann ein hundert Jahre später den Leuten, noch die Streichhölzer leiht, die sein Haus anzünden wollen, so ist unser Gutsbesitzer ein derartig gutmütiger Mensch, dass er eher sich selbst auf Wassersuppe setzen würde als den vielen Schmarotzern, die sein Gut belagern, wie Fliegen einen Kothaufen, einen guten Happen vorenthielte.

Da möchte man eingreifen, da möchte man die Schmarotzer vom Gutshof jagen. Und als er dies dann tatsächlich tut, da möchte man ihm auf die Schulter klopfen und ihm unterstützende Worte zuraunen. Doch der Mann knickt gleich wieder ein und der Schmarotzer siegt auf der ganzen Linie.

Das ist ein gar wundervoller Roman!

Ein einziges Lesevergnügen!

Ein Roman, der mir nicht gefallen hat

Man macht sich manchmal über mich lustig, dass ich schon während der Lektüre eines Buches auf das nämliche weise und es in unterschiedlichen Tönen preise. Aber es ist dann auch immer so; eine lohnende Lektüre, ein wundervoll geschriebener Roman, eine dichte Erzählung. Im vorliegenden Falle sind meine Warnlampen früh angegangen, haben Alarm signalisiert. Also derart, dass ich schon zu Beginn der Lektüre eines Kapitels, mich zu dem Ende blätterte, um zu sehen, wieviel Seiten da vor mir lägen, sprich wie lange ich mich quälen würde. Dann, etwa zwei Drittel des Romans habe ich brav gelesen, einige Abschnitte auch mit Vergnügen und dem Gefühl, dass sich jetzt die Geschichte entwickeln werde. Dann aber las ich nicht mehr wirklich, meine Augen glitten über den Text und suchten nach Erhebungen, an denen sie sich festhalten könnten, um nicht weiter abzurutschen. Denn der Text hatte für den Leser, hatte für mich zu sehr Schieflage bekommen.

Da nutzt es auch nicht mehr, dass der Autor sich selbst namentlich in den Roman einbringt, dass er mit den verschiedenen Erzählebenen spielt, dass die Figur durch diese Ebenen hindurchbricht, wie der Mensch, der sich zu früh auf das noch längst nicht tragende Eis begibt. Der Erzähler bekommt die Geschichte nicht in den Griff, weil er eigentlich nichts zu erzählen hat. Er hat Angst vor dem Alter, er ist in einer typischen männlichen „midlife crisis“. Aber das ist kein Grund so wirr zu schreiben, so unglaublich fahrig Figuren zu beschreiben, dass sie einfach keine Kontur gewinnen. Sie bleiben mir egal und ich habe dann als Leser irgendwann entschieden, sie zwischen den Buchdeckeln vergammeln zu lassen, Ich rette sie nicht, ich bin nur ärgerlich, dass sich nicht alle umgebracht haben im Roman und eine Figur hätte zu guter Letzt noch die herumliegenden Buchstaben zusammenklauben und sie dem Autor in den Mund stopfen sollen, so dass dieser gleich ebenfalls erstickt und dann der Romantitel gerechtfertigt wäre: „Das kurze Leben “. Der Mann heißt übrigens Juan Carlos Onetti. Weitere Romane von ihm werde ich nicht lesen, so viel freie Zeit werde ich nie in meinem kurzen Leben haben!

Ein kleiner Roman

Der Roman heißt „Vertrauen“, sein Autor ist Henry James.

Der Mann schreibt wundervoll, gebraucht wundervolle Metaphern (Wasser zum Brunnen tragen) und hat eigentlich nichts zu erzählen. Seine Figuren haben nichts zu tun. Sie reisen und das am Ende des 19. Jahrhunderts hektisch um den Globus, treffen sich in Siena und Baden-Baden. Müssen schnell mal nach New York, um sich zufällig in der Normandie zu treffen, in Paris endlich zueinander zu finden, kurz noch in London abzuwarten, bis der Freund geheilt wird und dann werden sie weiter ruhelos umherziehen, nette Gedanken ventilieren, niemanden nutzen und wahrscheinlich nur wenigen schaden.

Wenn nicht alles so geistreich geschrieben wäre, wenn nicht der blaue Himmel und die Sonne durch den Text einen zublinzeln würden, man würde den Roman nett nennen und damit verreißen. So nennt man ihn ein kleines sprachliches Wunder und geht schnell zu tieferer Lektüre über.

Ein kleiner, aber feiner Roman

Von einem meiner Lieblingsautoren habe ich vor einiger Zeit einen weiteren Roman entdeckt und nun diesen mit sehr viel Vergnügen gelesen.

José Maria Eça de Queiroz hat Alves & Co. geschrieben.

Die Geschichte ist wundervoll komponiert. Herr Alves erwischt seine Frau beim Seitensprung mit seinem Geschäftspartner. Er schmeißt seine Frau raus, sie muss zurück zu ihrem Vater. Er will sich mit seinem Partner duellieren und so die erlittene Schmach tilgen. Aus all diesen Vorsätzen wird nichts. Am Ende ist er mit seiner Gattin wieder vereint und auch mit seinem Kompagnon ist alles wieder beim Alten.

Diese Geschichte ist so meisterlich erzählt, verrät das ungemeine Stilgefühl und die genaue Kenntnis von einem Timing, dass man neidisch werden kann oder besser die Geschichte vergnüglichst konsumiert.

Der Untergeher

Ich gestehe, dass ich gern die Dramen des leider schon vor einigen Jahren gestorbenen Österreichers Thomas Bernhard sehe. Sie sind in einer klaren Sprache verfasst und natürlich haben sie viel davon profitiert, dass in vielen Stücken die Großen des deutschen Theaters mitgewirkt haben. Minetti und Voss und Dene und und und. Die Prosa habe ich mir bisher nicht erschlossen. Allerdings vor Jahren hatte ich einen seiner Romane gern gelesen und mir vorgenommen, mehr von ihm zu lesen. Jetzt habe ich den Roman „Der Untergeher“ gelesen. Dabei habe ich die Goldbergvariationen gehört, allerdings nicht in der Aufnahme mit Glen Gould. Gleichwohl wurde ich gefangen genommen von der Erzählung dreier Klavierspieler, zwei von ihnen spielen nach einer Meisterklasse nicht mehr, die sie gemeinsam mit eben jenem Glen Gould belegt haben. Zwei Meisterpianisten hören mit dem Klavierspiel auf, weil sie einem Genie begegnet sind, weil sie wissen, dass sie diese Genialität naturgemäß nicht erreichen können. Eine Erzählung, die sich vorwärtstreibt, die voller wundervoller Sätze und Gedanken ist.

Ich kann alle die verstehen, die Thomas Bernhard rühmen, ich gehöre nun auch dazu.

Kleines Seeabenteuer, zwischendurch

Ich hatte das Gefühl, mich von der Lektüre großer und zum Teil auch anstrengender Romane einmal kurzzeitig erholen zu sollen. Also griff ich zum fünfzehnten (!) Band der Abenteuer des Seehelden Aubrey und seines Schiffarztes Maturin. Ein seichter Band, kaum packende Szenen, mehr die Beschreibung der Routine an Bord während einer langen Reise durch den Pazifik. Vielleicht war es aber gerade das richtige, ich erholte mich, wie bei einer realen Seereise. Noch liegen fünf weitere Romane von Patrick O’Brian vor mir, genug, um noch viele Tage auf See zu verbringen.

Literatur aus dem Totenhaus

Zugegebenermaßen lese ich nicht gern Literatur, die sich mit der Zeit der Konzentrationslager beschäftigt. Ich habe das siebte Kreuz gelesen, natürlich; ich habe den wundervollen Film „Das Leben ist schön“ gesehen, aber Solschenizyn habe ich bisher nicht gelesen und „Jakob, der Lügner“ auch nicht. Ich habe mir aber vorgenommen, mich, 60 Jahre nach den Befreiungen der deutschen Konzentrationslager, diesem Thema zu stellen.

Mit der autobiographischen Erzählung von Jorge Semprún „Was für ein schöner Sonntag!“ habe ich nunmehr den Anfang gemacht.

Die Lektüre ist nicht leicht. Der Autor bricht aus der Erzählung eines Sonntags Ende 1944 stets aus. Er springt zwischen den Zeitebenen hin und her. Dann ermahnt er sich selbst immer wieder, nicht abzuschweifen und zu dem Sonntag zurückzukehren. Der Mann, der Buchenwald überlebt hat, lässt Goethe auftauchen, der den Ettersberg als Ausflugsziel vom nahen Weimar sehr schätzte. Semprún, führender Vertreter der kommunistischen Partei Spaniens quält sich mit der Realität, dass nach den Jahren der faschistischen Barbarei die Stalinisten nichts anderes machten. Fast am Ende seines Buches sagt er: „Ich wusste, dass ich meine Erfahrungen in Buchenwald, Stunde für Stunde, mit der verzweifelten Gewissheit, dass es gleichzeitig russische Straflager, das Gulag von Stalin gab, wiederaufleben lassen müsste.“

Der Text ist schwierig, er lässt sich nicht so nebenbei lesen. Das ist auch gut so. Es ist keine Unterhaltungslektüre, obwohl die Erzählung manchmal geradezu einen vergnüglichen Zug annimmt. Aber das ist nur von kurzer Dauer und immer sieht man die Rauchfahne des Krematoriums und hat den Geruch, den sie mitverbreitet, in der Nase.

Eine wichtige Lektüre!

Marrakesch

Ich habe lange bevor ich angefangen habe, meine Lektüre zu rezensieren, die Autobiographie des Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti gelesen. Gerade der erste Teil dieser Lebenserzählung – „Die gerettete Zunge“ – ist eine so unglaublich gute Lektüre, dass ich sie sehr gern noch einmal lesen werde, wenn all die anderen guten Bücher von mir gelesen wurden, die mich rufen, die auch noch von mir entdeckt werden wollen.

Durch die interessante Initiative der Süddeutschen Zeitung, 50 Bände mit Literatur des 20. Jahrhunderts aufzulegen – ich berichtete bereits darüber -, bin ich an einen schmalen Band von Canetti gelangt: „Die Stimmen von Marrakesch“.

Wenn man diese knapp hundert Seiten gelesen hat, dann weiß man, wie man über Reisen berichten sollte. Nicht in der Weise, dass man die Sehenswürdigkeiten aneinanderreiht, sondern, dass man die Menschen beobachtet, dass man Stimmen und Stimmungen einfängt und sie wiedergibt. So erschließt sich eine neue Welt, so ist man im Judenviertel der Stadt und so erlebt man das erotische Knistern, so spürt man die ganz leichten zarten Flirts des Autors mit Frauen in einem arabischen Umfeld.

Das ist alles ganz leicht dargeboten und wir Amateurköche und Amateurautoren wissen, wie schwer es ist, etwas ganz leicht aussehen zu lassen. Es ist das schwierigste überhaupt!

Zwittrig

Manchmal bewundere ich mich selbst. Da lese ich unerschrocken viele hundert Seiten. Ich merke sehr bald, dass der Roman nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbüchern aufsteigen wird, aber furchtlos fresse ich mich durch den Stoff. Ganz so schlimm war es im vorliegenden Fall nicht, aber zu meiner Lieblingslektüre wird der Roman „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides sicherlich nicht werden.

Eugenides ein amerikanischer Autor mit griechischen Vorfahren in Detroit 1961 geboren, mit einer Amerikanerin mit japanischen Vorfahren in Berlin lebend, beschreibt einen als Mädchen in Detroit 1961 geborenen Hermaphroditen, der im Alter von 14 Jahren zum Jungen „mutiert“, Kind griechischer Einwanderer ist, der als Ich – Erzähler inzwischen in Berlin lebt und sich an eine Amerikanerin japanischer Herkunft binden möchte. Trotz seiner genetisch bedingten nicht voll ausgebildeten Männlichkeit wird er mit Judy zusammenleben. In einem langen Buch schaut er auf 90 Jahre Familiengeschichte zurück, erzählt von seinen Großeltern, die Geschwister waren, von seinen Eltern, die Cousin und Cousine sind und in dem genetischen Defekt des jungen Hermaphroditen für die sexuellen Verirrungen bestraft werden.

Ein amerikanisches Zeitalter wird besichtigt, eine Geschichte mit großem Atem erzählt. Manchmal spannend, manchmal sehr trivial. Man lebt von der Grundgeschichte, man lebt in der Middlesex, einer Straße in einem Vorort Detroits, man ist halb und halb, zwittrig halt. Und so ist das Gefühl der Rezeption dieser Geschichte.

Erste Begegnung mit einem Roman von William Faulkner

Das ist eine interessante Begegnung gewesen. Ich lese den Roman „Die Freistatt“, man frage mich auch nach der Lektüre nicht, warum der Roman so heißt.

Ich hatte Schwierigkeiten mit diesem Autor, mit seinem Stil. William Faulkner erzählt sehr direkt, man ist mitten in der Geschichte. Es gibt keine langsame Einführung in die Erzählung. Wie der Mörder Popeye sich lautlos anschleichen kann, so schleicht sich die Geschichte einfach an. Da ist sie und nun Leser geh mal irgendwie damit um.

Wenn man diesen Schock erst einmal überwunden hat, dann liest man sich fest. Man kann das Buch dann kaum weglegen. Wie geht es wohl weiter? So fragt man sich und so merkt man gar nicht, dass die Tragödie schon längst Gestalt angenommen hat. Das ist keine Geschichte mit einem strahlenden Helden, dem es gelingt, seinen Klienten aus dem Gefängnis zu befreien und vor dessen Frau als Supermann dazustehen. Am Ende haben sie ihre Strafen und der Anwalt kehrt reumütig und als wäre gar nichts geschehen nach Hause zurück. Nur was die Freistatt war, das will sich mir nicht erschließen. Aber Faulkner ist ein hervorragender Autor, ein Romancier der Sonderklasse. Ich bin gespannt, was ich als nächstes von ihm lesen werde.

Der Liebhaber

Eine schmale Erzählung, aber eine von ganz großem Gehalt. Eine zärtliche, beinahe zerbrechliche Sprache. Viele Brüche, mehrere Ebenen. Fein ziseliert, fein gesponnen. Ich bin ganz beeindruckt von dieser kleinen, ganz großen Geschichte.

„Der Liebhaber“ ist eine Erzählung der Französin Marguerite Duras.

Es ist eine Liebesgeschichte. Es ist eine Sammlung von Geschichten über verschiedene Liebe. Die Liebe eines Mannes zu einem ganz jungen Mädchen, die Liebe des Mädchens zu ihren Brüdern und zu ihrer Mutter. Der Hass auf den Liebhaber, die Lust auf ihn. Der Hass auf den ältesten Bruder und die Abhängigkeit von Familienbanden. Die Liebe der Mutter zu ihren Kindern über alle Enttäuschungen hinaus. Das ist alles so dicht, so gedrängt und doch so wundervoll leicht geschrieben.

Ein kleines Meisterwerk!

Wundervolle Absätze über das Reisen zu Zeiten der Abwesenheit von Flugzeugen. Wundervolle Gedanken zur Abhängigkeit von Menschen und zum Tod.

Ein kleines Meisterwerk eben!

Zwei weitere Seeabenteuer

Nun bin ich bei Band 18 der Romanserie von Patrick O’Brian angelangt. Aubrey ist fast Admiral und Napoleon ist von Elba geflohen. Wir wissen also, dass der Krieg mit Frankreich nicht mehr lange dauern wird. Die Schilderung der Seegefechte wiederholt sich, das Leben an Bord ist nun schon vielfach beschrieben worden. Viel Neues passiert also nicht mehr. Aber dafür nehmen die Romane an Tiefe zu, sie bekommen Tiefgang. Der Autor philosophiert über das Leben, über den schmalen Grat zwischen Glück und Unglück, Leben und Tod. So werde ich auch die zwei letzten Bände mit demselben Amüsement und demselben Vergnügen lesen, wie die 18 Bände bisher.

Rituale

Der fabelhafte holländische Autor Cees Nooteboom, noch ein Holländer, den ich gern für den Literaturnobelpreis vorschlagen möchte, hat einen wundervollen Roman geschrieben: „Rituale“.

Eine sonderbare Geschichte von Männern, die sich umbringen oder es zumindest versuchen. Männer, die in bestimmten Rollen verhaftet sind, die nicht leben, sondern Rituale feiern. Ein Männerroman, ja, ein Roman voller wundervoller Metaphern, voller ganz phantastischem Sprachgefühl durchwirkt. Ein tiefgründiger und zugleich immer wieder sehr komischer Roman. Ein erotischer Roman. Ein Roman, wie das Leben eben.

Sansibar

Vor vielen Jahrzehnten muss ich dieses Buch von Alfred Andersch schon einmal gelesen haben. Ich konnte mich aber an nichts mehr erinnern. Ich hätte das Buch jetzt auch nicht wieder in die Hand genommen, wenn meine Freundin nicht mit ihren Kindern nach Rerik unterwegs wäre. Rerik einem Ort an der Ostsee. Dem Ort der Handlung dieses Romans „Sansibar oder der letzte Grund“.

In der Nazizeit muss eine Statue, „entartete Kunst“, ebenso gerettet werden, wie die junge Jüdin, deren Mutter gerade Selbstmord begangen hat. Es kämpfen Pfarrer und Kommunist Seite an Seite, um den sturen Fischer zu überzeugen, die wertvolle Fracht über das Meer nach Schweden zu bringen.

Dieser Roman packt dich auf der ersten Seite und lässt dich nicht mehr los. Ein hinreißendes Stück deutscher Nachkriegsliteratur. Ein Buch, das ich für lesenswert halte, nein für eine Pflichtlektüre. Auch und gerade heute, wo Menschen schon wieder stumpf brauner Scheiße nachzulaufen scheinen.

Ein Meisterwerk!

Nicht das Ende der Welt

Von einer Freundin habe ich den Roman „Not the end of the world“ von Christopher Brookmyre geschenkt bekommen; von meiner Liebsten wurde mir der Roman empfohlen, mit dem Hinweis, dass nicht viele die Lektüre beendet hätten. Das war Ansporn genug: Ich hielt durch und ich bekenne, ich hätte es ohne einen gewissen „Druck“ nicht getan. Obwohl der Plot gelungen ist: Panik zum Millennium, überdrehte amerikanische Christenmenschen. Und vor allem, wenn man weiß – jetzt im Jahre 2005 – was ein Tsunami anrichten kann, dann hat der Roman starke Seiten. Aber er gründelt auch in den üblichen Klischees. Die vom Vater zu sexuellen Handlungen gezwungene Tochter wird Porno – Darstellerin; der privat vom Schicksal gebeutelte Polizist, der Kameramann mit guter katholischer Vergangenheit von der sich natürlich losmachte. Der aalglatte TV-Großinquisitor mit verklemmter Vergangenheit. Das ist alles zu dicke und reicht bestenfalls für das Drehbuch eines B-Films.

Eine besondere Chronik

Die kleine Erzählung „Chronik eines angekündigten Todes“ von Gabriel García Márquez zwingt den Leser, sich dem Fluss der Geschichte anzupassen. Aus verschiedenen Perspektiven wird der Tod eines jungen Mannes geschildert, der, eine Frau verführt hatte und deren Ehemann sie an die Eltern zurückgibt, weil sie ihre Unschuld bereits verloren hatte. Die Brüder dieser Frau kündigen die Ermordung des Mannes an, als wollten sie davon abgehalten werden, aber es kommt zu der Tat und die Erzählung hat die Tat gleichsam umrundet, eingekreist und damit beschrieben und dem Leser in sein Gedächtnis eingebrannt. Das ist hohe Kunst.

Der Magier

In der wunderbaren Literaturgeschichte des Rolf Vollmann steht über den Roman „Der Magier“ von William Somerset Maugham, dass dieser mit der linken Hand geschrieben sei.

Das trifft es. Mir hat dieser okkulte etwas überdrehte Stoff, in dem ein Mann den Homunkulus erschaffen will, nicht sonderlich gefallen. Dafür muss eine junge Frau als Jungfrau geopfert werden, dafür wird der teuflische Magier virtuell gemeuchelt und am Ende brennt alles Böse nieder und der gute Mann, der zwar seine Angebetete verloren, aber die Liebe seines Lebens kennengelernt hat, kann aufatmen.

Nein, das ist mir ein wenig zu dick aufgetragen, das ist nicht wirklich große Romankunst gewesen und hat mir auf andere Bücher dieses Schriftstellers keinen Appetit gemacht.

Mission zur See erfüllt

20 Bände mit Seeabenteuern, die sich – zugegebenermaßen – irgendwann zu gleichen beginnen, liegen hinter mir. Über einige Jahre verteilt, eine schöne Ferienlektüre mit gut herausgearbeiteten Charakteren – mit Figuren, die einem irgendwie vertraut geworden sind. Zu guter Letzt freut man sich über die Beförderung des Helden zum echten Admiral. Man könnte sich noch wünschen, dass die Abenteuer weitergehen, dass Horatio Hanson sich zum Nachfolger des Admiral Aubrey entwickelt und der gute Doktor Maturin mit der schönen Naturforscherin glücklich wird. Patrick O’Brian kam nicht mehr dazu, seine Romanreihe fortzusetzen. Aber vielleicht sind 20 Bände auch gerade genug.

Keine leichte Lektüre

Siri Hustvedt hat in ihrem Roman „Was ich liebte“ eine erstaunliche Geschichte aufgeschrieben.

Aus der Sicht einer Autorin schildert ihre männliche Erzählfigur das Leben zweier Familien in New York über den Zeitraum der letzten 25 Jahre. Zwei Intellektuellen-Familien, zwei Künstler-Familien, die fast zur gleichen Zeit Kinder – Söhne – bekommen, die gemeinsam heranwachsen, bis der Sohn der einen Familie tragisch verunglückt und stirbt. Bis sich das nun wieder kinderlose Paar trennt, bis der Maler, der Mann der anderen Familie Erfolg hat, bis der Sohn dieser Familie sich als Lügner, als Krimineller herausstellt. Bis alle psychisch stark belastet sind, bis der Maler stirbt, der Erzähler fast erblindet.

Der Roman hat mich anfänglich überhaupt nicht erreicht, mich nicht gepackt, aber plötzlich konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Ich war in der Geschichte angekommen, sie ließ mich nicht mehr los.

Mich hat der Roman sehr beeindruckt.

Amerika

Der Text „Amerika“ von Franz Kafka ist kein eigentlicher Roman. Vielmehr ein Fragment. Es fehlt so viel, es ist so unfertig, so wenig ein Ganzes. Die Geschichte des jungen Karl Rossmann, der nach Amerika kommt und dort nach kurzem Aufenthalt bei seinem reichen Onkel irgendwie in dem großen Land umherwandelt, ist voller Brüche. Es liest sich gut und ist doch nur eine Art Fingerübung. Fast möchte ich glauben, es sei die Aneinanderreihung von kurzen Geschichten, die eine gemeinsame Figur, aber sonst kaum etwas miteinander zu tun haben.

Ein Fragment, sehr „kafkaesk“.

Die letzte Geschworene

Manchmal lese ich die Geschichten von John Grisham richtig gern. Er schreibt auf eine spannende Weise. Er versteht es, aus dem Nichts plötzlich einen Paukenschlag auf den Leser fahren zu lassen. Das macht Spaß und entspannt.

Der Roman „Die letzte Geschworene“ – ich habe die Originalfassung gelesen, daher weiß ich nicht, wie der Roman in der deutschen Übersetzung heißt – kommt auch so daher. Ist spannend und hat einen großen Handlungsbogen. Aus dem Genre eines Kriminalromans tritt er dann heraus, wenn er über die Veränderung von Südstaaten Provinzstädten zu berichten beginnt, wenn er aufzeigt, wie so ein Einkaufszentrum, den Nerv, die Seele kleiner, charaktervoller Städte zugrunde richtet. Heute kann man das gleiche Phänomen überall in Europa entdecken, noch immer nennen wir es Fortschritt, dabei zersetzt es unsere Infrastrukturen und unsere Bindungen. An solchen Stellen, ebenso wie an denen, wo er liebevoll über die Kochkunst einer intelligenten farbigen Lady fabuliert, wird ein richtig breiter Südstaaten-Bilderbogen aus dem Roman und man vergisst zeitweise, wer da wen ermordet haben könnte.

Der Tangosänger und die Klavierspielerin

Im Buch des in den USA lebenden Argentiniers Tomás Eloy Martínez „Der Tangosänger“ sucht ein junger Amerikaner einen legendären Tangosänger, wird ihn aber nicht mehr singen hören.

Der Roman ist eine Liebeserklärung an Buenos Aires und an Jorge Luis Borges. Er ist verwirrend und lässt mich Leser ratlos zurück. Der Roman der Nobelpreisträgerin von 2004 Elfriede Jelinek „Die Klavierspielerin“ zeigt die ganze Klasse dieser Schriftstellerin, war also glänzend geschrieben, tropft nur so vor Erotik und ließ mich dennoch genauso ratlos zurück. Ich konnte dem Roman nichts abgewinnen. Natürlich – wie gesagt – glanzvoll, wie das Mutter – Tochter Verhältnis beschrieben wird, wie die Klavierspielerin seziert wird, aber es ging mich nichts an, es berührte mich nicht.

Ridpath

Schon vor längerem hatte ich einen Roman des Engländers Michael Ridpath gelesen („Der Spekulant“). Mein Sohn Fabian fand das Sujet reizvoll, der Roman spielt in der Hochfinanz. In der Abteilung der Banken, die Millionen hin und herschieben und die sich eine goldene Nase verdienen können, falls sie skrupellos genug sind. Alle anderen Romane von ihm scheinen auch in diesem Genre zu spielen. Es sind Kriminalromane, die ablenken, intelligent sind und man erst ziemlich spät Klarheit darüber gewinnt, wer nun der eigentliche Bösewicht ist. Fabian hat sich weitere Romane von ihm gekauft und so habe ich so zwischendrin „Der Marktmacher“ und „Das Programm“ gelesen.

Als Krimis zur Entspannung sind sie alle gut geeignet!

Ein großer Roman

Der Gedanke, der dem Roman zugrunde liegt, ist genial. Der alte Gauß und der alte Humboldt treffen sich in Berlin. Der eine, der alles im Kopf löst, der möglichst wenig sich von Göttingen entfernt und der andere weitgereiste Mann, der unglaubliche Abenteuer überstanden hat. Die beiden haben sich nicht viel zu sagen. Um dieses Treffen wird das Leben beider geschildert, keine Biographien, vielmehr genüssliche Spiegelungen eines Autors des 21. Jahrhunderts, der mit Abstand auf diese beiden großen Menschen eines früheren Jahrtausends schaut. Alles ist wunderbar zusammengefügt, der Roman ist wundervoll komponiert und in einem grandiosen Deutsch geschrieben. Ein einzigartiges Lesevergnügen und man könnte vor Neid erblassen, dass es einen Autor gibt, der so einen wundervollen Roman erschaffen hat.

Ein paar Sentenzen des Romans gefällig?

„In diesem Moment begriff er, dass niemand den Verstand benutzen wollte. Menschen wollten Ruhe. Sie wollten essen und schlafen, sie wollten, dass man nett zu ihnen war. Denken wollten sie nicht.“

„Niemand, sagte Humboldt, habe eine Bestimmung. Man entschließe sich nur, eine vorzutäuschen, bis man es irgendwann selbst glaube.“

„Man denke, man bestimme sein Dasein selbst. Man erschaffe und entdecke, erwerbe Güter, finde Menschen, die man mehr liebe als sein Leben, zeuge Kinder, vielleicht kluge, vielleicht auch idiotische, sehe den Menschen, den man liebe, sterben, werde alt und dumm, erkranke und gehe unter die Erde. Man meine, man habe alles selbst entschieden. Erst die Mathematik zeige einem, dass man immer die breiten Pfade genommen habe.“

„Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, dass sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimme, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.“

Kann man selbstironischer einen großen Roman schreiben?

Der Autor? Daniel Kehlmann! Der Titel? „Die Vermessung der Welt“!

Andersen, nicht als Märchenerzähler

Zum Namen Hans Christian Andersen fielen mir lange nur Märchen ein. Das änderte sich im Jahre 2005, als das Andersen Jahr ausgerufen wurde. Nun wird mit jedem großen Komponisten oder Dichter erneut Geld verdient, in dem man einen mehr oder weniger runden Geburtstag oder Todestag zum Anlass nimmt, die Persönlichkeit zu feiern. Im Falle von Andersen bin ich dankbar. So las ich den Roman „Nur ein Spielmann“ und habe einen bedeutenden Romancier kennengelernt.

Andersen erzählt die Geschichte eines armen Jungen und eines reichen Mädchens. Ihre Wege kreuzen sich einige Male, sie werden nicht zusammenfinden, aber die Geschichte hat genug Brisanz, um den Leser sehr gut zu unterhalten. Und es gibt auch kein glückliches Ende, sondern er stirbt und ihr Wagen rollt fast über sein Grab. Such is life.

Noch einmal Michael Ridpath

Der Roman „Tödliche Aktien“ von Michael Ridpath, spielt im Milieu der New Economy. Mit Software für die virtuelle Realität wird sicherlich bald tatsächlich viel Geld verdient werden. Bis es so weit ist, kann man sich an diesem spannenden Krimi erfreuen und einfach genießen.

Fred Vargas

Meine Freundin schenkte mir den Kriminalroman „Die schöne Diva von Saint-Jaques“ von der Autorin Fred Vargas. Die Dame erzählt ganz kühl eine Geschichte, die erst auf den letzten Seiten des Buches sich auflöst. Die Spannung bleibt also sehr lange erhalten, das ist für Kriminalromane von besonderer Bedeutung.

Was hinzukommt, sind ihre Helden. Drei Historiker, die sich auf verschiedene Epochen spezialisiert haben und mit ihrem Verstand und ihrem unterschiedlichen Temperament schließlich gemeinsam mit dem Onkel des einen den Fall lösen. Dieser Onkel ist ein ehemaliger, unehrenhaft aus dem Dienst entlassener Kriminalkommissar. Da hat natürlich kein Verbrecher eine Chance!

Samstag

Man stelle sich vor, dass, man an einem Samstag sehr früh erwacht, an das Fenster tritt und ein Flugzeug abstürzen sieht, oder zumindest meint, es könnte abgestürzt sein. Man kann dann nicht mehr richtig schlafen, fährt mit dem Auto zu einer Verabredung zum Squash, hat einen kleinen Unfall, der fast gänzlich ohne Schaden abläuft, aber die Unfallgegner sind junge Leute, die einem auf einmal bedrohen und nur die Flucht hilft aus der unangenehmen Situation. Später, man hat das Match knapp verloren, geht man zum Einkauf, freut sich auf das Wiedersehen mit seiner Familie, kocht, streitet sich und plötzlich sind die jungen Leute, die Unfallgegner vom Vormittag wieder da. Sie sind in der Wohnung, bedrohen die Familie und nur eine gemeinsame Aktion rettet die Familie, lässt aber einen der Täter schwer verletzt zurück. Nun ist man Arzt, Neurologe und wird zur Operation dieses Täters/Opfers gerufen. Man operiert und ist nahezu 24 Stunden später wieder in seinem Schlafzimmer und das Leben war prall, voller Ereignisse und man hat viel gedacht und bedacht und man weiß, als Leser, dass solche Tage, Samstage, möglich sind.

Mit „Saturday“ hat Ian McEwan einen bedeutenden Roman geschrieben. Meisterlich sein Stil, seine Art, einen Tag ablaufen zu lassen, die kleinen Verrichtungen, bekommen Wert. Das Squashspiel ist eine derartig brillant geschilderte Szene, dass selbst Leute, die nie im Court standen, verstehen, wie dieses Spiel funktioniert. Die alltägliche Bedrohung, gesteigert vor dem Hintergrund des 11. September und der Demonstrationen am Vorabend des Krieges gegen den Irak, haben ein sensationell dichtes Stück Literatur entstehen lassen, das Bestand haben wird in der Weltliteratur.

Der ewige Gärtner

John Le Carré hat einen fabelhaften Roman über die Machenschaften der Pharmaindustrie in Afrika geschrieben. Einen Roman, der mehrere Zeitebenen enthält, mehrere Handlungsebenen und der mit dem Tod des Helden endet, was auch äußerst ungewöhnlich ist, aber dem Stoff und der Glaubwürdigkeit des Romans sehr guttut.

Der Diplomat Justin Quaile will die Hintergründe, die zur Ermordung seiner jungen Frau geführt haben, aufklären. Er wird am Ende alles entdeckt haben, was vor ihm schon seine Gattin getan hatte. Er wird den gleichen Preis zahlen, aber die Unterlagen werden dieses Mal bei einem Anwalt liegen und der wird sicherlich die Schuldigen zur Verantwortung ziehen.

Aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht erzählt wird. Was aber erzählt wird ist spannend und literarisch auf hohem Niveau. „Der ewige Gärtner“ ist ein sehr gelungener Roman!

Anmerkungen zu Haffner

Vor einigen Jahren war die Entdeckung der Erinnerungen des jungen Sebastian Haffner eine Sensation. Die Erinnerungen fanden sich in dessen Nachlass und decken die Zeit von 1914 (da war Haffner gerade sieben Jahre alt) bis 1933.

Er soll sie 1939 niedergeschrieben haben, als er bereits vor den Nazis geflüchtet war. Hellsichtig haben manche die Erinnerungen genannt. Nur weil der Mann – ich setze immer voraus, dass die Niederschrift zu Beginn des Jahres 1939 war – den Krieg voraussieht, nur weil er die hässliche Fratze der Nazis deutlicher zeichnet als andere. Weil er von Konzentrationslagern redet, deren Existenz viele Deutsche noch nach dem Krieg schlicht und ergreifend für eine schreckliche Verleumdung gehalten haben. Ansonsten legt er auch Zeugnis davon ab, wie durchaus berechnend er war, wie berechnend wahrscheinlich jedermann unter derartigen totalitären Bedingungen handeln wird. Er bleibt in Deutschland, um sein Studium abzuschließen, er taucht unter, um möglichst ungestört nicht ohne einen Studienabschluss das Land verlassen zu müssen.

Von seiner jüdischen Freundin dieser Zeit ist nicht mehr die Rede, was wurde denn aus ihr? Er bleibt sehr vage, er tut so, als hätte er den Kampf mit Hitler aufgenommen. In Wahrheit hat er sich nicht einmal mit seinen Kommilitonen, die Nazis werden, wirklich auseinandergesetzt. Er schlägt Schaum. Und 50 Jahre später sind Journalisten darauf hereingefallen und haben diese Erinnerungen zur „Sensation“ hochgeschrieben. Such is life.

Ein kleines Buch für Bibliophile

Vielleicht noch so ein Beispiel, wie der Literaturbetrieb funktioniert. Da empfiehlt Elke Heidenreich ein kleines Buch in dem davon erzählt wird, wie eine Literaturdozentin beim Lesen eines Romanbandes verunglückt, wie jener Gedichtband einem Mann in die Hände fällt, der sich mit all seinen Büchern eine Heimstatt baut und dann eben dieses Buch wieder aus seinem Papierhaus herausbrechen wird. Den kleinen Roman hat Carlos María Domínguez geschrieben. Ein kleiner deutscher Verlag kann sich glücklich schätzen, dass Frau Heidenreich das Bändchen lobte. Man kauft dann ein solches Buch viel häufiger und der Verlag kann sich freuen. Der Leser bleibt verwirrt zurück und berichtet dann wirres Zeug an diejenigen, die das Bändchen nicht gelesen haben und der Rezensent kann die Lektüre auch nicht unbedingt empfehlen.

Dorian Gray

Ganz anders als bei dem Roman des Oscar Wilde „Das Bildnis des Dorian Gray“.

Abgesehen von den herrlichen Zynismen, die sich durch das Werk ziehen, ist es ein blendender Roman. Fast ein Krimi. Ein gescheiter Roman vom Wahn der ewigen Jugend, von der Zügellosigkeit und den falschen Götzen, auf deren Altären wir uns opfern. Ein geistreiches Werk, ein Roman zur Lektüre dringend empfohlen!

Und nun ein paar wundervolle Zynismen:

Ich liebe das Theater. Es ist so sehr viel wirklicher als das Leben.

Die Gefühlsregungen der Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich.

Leute, die nicht einsahen, dass wir in einer Zeit leben, wo unnötige Dinge unsere einzigen Bedürfnisse sind.

Um meine Jugend wiederzubekommen, täte ich alles in der Welt, außer Gymnastik treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein.

Frauen lieben mit den Ohren, Männer mit den Augen.

Tempo verleiht Leben.

Skepsis ist der Anfang allen Glaubens.

Definieren heißt beschränken.

So könnte man weiter zitieren und immer weiter. Ich mag diesen Oscar Wilde! Ich mag ihn.

Nun wird Brunetti langweilig

Der Kommissar wird diesen Fall (Blood from a stone) nicht wirklich zu Ende führen können. Denn der Gegner in diesem Fall, bei dem ein Farbiger getötet wird, ist der Staat. Sind Geheimdienste, ist der Druck, den die aufbauen können, um ihre und die Interessen der Wirtschaft durchsetzen zu können. Da bleibt auch Brunetti auf der Strecke; aber ihm bleiben Diamanten im Wert von mehreren Millionen Euro, die er einem guten Zweck zur Verfügung stellen wird. Dieser Brunetti spielt nämlich zur Weihnachtszeit und so ein wenig ist dieser Kriminalfall von Donna Leon auch als Weihnachtsgeschichte angelegt worden.

Es hat schon spannendere Fälle gegeben, die der Commissario lösen musste. Aber ich werde sicherlich auch zum nächsten Buch wieder greifen, denn gewissen Schwächen muss man treu bleiben können.

Der Mann mit dem Pinguin

Der ukrainische Autor Andrej Kurkow hat im Stile eines Dostojewskis einen Roman geschrieben, der höchst lesenswert ist. „Picknick auf dem Eis“ ist eine Geschichte über die Gegenwart im postsowjetischen Alltag. Ein Menschenleben zählt nicht viel und man kommt in Schwierigkeiten, ohne es zu wollen, ja ohne zu wissen, dass man mitten in Schwierigkeiten steckt.

Unser Mann in dieser Geschichte heißt Viktor und lebt mit einem Pinguin zusammen. Später kommt noch ein kleines Mädchen hinzu und schließlich auch noch eine junge Frau, die die „Familie“ komplettiert.

Ich werde die Geschichte nicht nacherzählen, nur so viel sei gesagt, man unterhält sich gut, man freut sich über diese doch reichlich absurde Geschichte, die sich in immer absurdere Höhen aufschwingt und dennoch möglich bleibt.

Lesen!

Ein Krimi aus der guten alten Zeit

Die Süddeutsche Zeitung hat, nachdem sie 50 Romane des 20. Jahrhunderts herausgegeben hatte, nun auch eine ebenso umfangreiche Kriminalromansammlung auf den Markt gebracht. Der Band ist für 4,90 € wohlfeil und die Sammlung der aufgelegten Autoren lässt sich wahrlich sehen. Das für mich vergnüglichste an der Angelegenheit ist die Tatsache an neue mir bis dato nicht bekannte Verfasser zu geraten und mich für deren Romane zu interessieren. So bin ich auch auf Boris Akunin gekommen, der Mann ist ein junger russischer Autor, der sich einen Serienhelden geschaffen hat und dessen erstes Abenteuer dessen Namen trägt: „Fandorin“.

Die Geschichten spielen im Zarenreich und unser Held ist ein ziemlich unbedarfter Jüngling, der allerdings mit viel Intuition und Talent zum Überleben ausgestattet ist. So laviert er sich durch sein Abenteuer, das schnell auch zu demjenigen des Lesers wird. Am Ende darf er heiraten, doch auch da zeigt sich die geniale Art des Autors, nicht einfach einen einfachen Schlussstrich zu ziehen. Die Lektüre dieses Romans ging schnell, war einfach unterhaltend und entspannend. Die richtige Ferienlektüre mithin!

Opernball

Die Geschichte ist schnell erzählt: Auf den Wiener Opernball verüben Terroristen einen Blausäureanschlag. Folge ist ein Ruck nach rechts, die spinnerten Terroristen – zumindest einer – standen in engem Kontakt zu einem hohen Polizeibeamten und der Verdacht drängt sich auf, dass alles gar nicht so auf das Konto der Spinner, sondern eher der Polizei geht. Der Roman „Opernball“ des Österreicher Josef Haslinger ist gut gegliedert. Persönliche Bilder – Opferangehörige geben Auskunft. Der Regisseur der Übertragung für einen Privatfernsehsender, der seinen Sohn bei dem Anschlag verloren hat, recherchiert und schreibt quasi den Roman. Aber irgendwie ist es nicht das ganz große Werk, welches man gern weiterempfehlen würde, geworden.

Osmanische Lektüre

Alles beginnt wie in einem orientalischen Märchen. So ist der Ton dieses Buches, so sind seine Geschichten. Die Geschichten aus einem kleinen anatolischen Dorf in dem Muslime und orthodoxe Christen Tür an Tür wohnen. Wo die Muslime sicherheitshalber die Christen bitten, eine Kerze zu entzünden oder die Christen ihre islamischen Nachbarn bitten, an einem Baum auch noch ein kleines Zettelchen mit ihren Wünschen anzubringen.

Viele Dorfbewohner werden uns nähergebracht. Ihr Leben entwickelt sich vor unseren Augen und sie werden ein Teil unseres Lebens. Und dann passiert plötzlich das Unfassbare, die Katastrophe bricht über diese Menschen herein. Der Krieg bricht aus, es kommt zu unvorstellbaren Grausamkeiten, es kommt zu Trennungen. Die Armenier und später die Griechen, die sich alle als Osmanen fühlten, müssen das Land zwangsweise verlassen. Es wird traurig und viele unserer liebgewonnenen Helden sterben, werden verrückt und zerbrechen.

Am Ende legt man fassungslos diesen Roman aus den Händen. Versteht mehr von den ungeheuerlichen Ereignissen, die sich im ersten Weltkrieg und den folgenden Jahren in der heutigen Türkei ereignet haben und kann nicht glauben, dass das Buch vorbei sein soll.

Der Roman, den ich wärmstens empfehlen kann, obwohl er im letzten Teil einige kleine Schwächen hat, heißt „Traum aus Stein und Federn“, wobei mir die wörtliche Übersetzung aus dem Englischen besser gefallen hätte: „Vögel ohne Flügel“. Denn damit umschreibt der Autor den Menschen, dem es nicht gegeben ist über alles hinwegzufliegen, sondern der seine Lage im Hier und Jetzt zu verantworten hat. Der Autor ist Louis de Bernières und ich bekenne, diesen Roman gern gelesen zu haben!

Noch ein italienischer Ermittler

Was Brunetti für Venedig, ist Guarnaccia für Florenz. Hier lebt Magdalen Nabb und hat ihren Polizisten erfunden, der glubschäugig und schweigsam seine Fälle so lange betrachtet, bis ihm alles klar zu sein scheint und der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann.

In dem Roman Tod in Florenz spielt auch die faschistische Vergangenheit noch eine nicht unerhebliche Rolle, auch wenn sie nicht wirklich etwas mit dem Tod des ermordeten Mädchens zu tun hat. Und so schleicht sich der Verdacht ein, man habe hier nur viele Seiten füllen wollen, um nicht eine allzu kurze Geschichte abzuliefern.

Also, lesen muss man diesen Krimi auch nicht unbedingt.

Der Autor Orhan Pamuk

Im Frühjahr dieses Jahres – 2006 – war ich mit meiner Freundin in Istanbul. Am Ende der Reise, als wir auf dem Flughafen auf den Heimflug warteten, gaben wir die noch vorhandene türkische Währung für zwei Bücher aus. Anja suchte sie aus und ich hatte nichts gegen ihre Wahl einzuwenden. Sie nahm die englischen Übersetzungen zweier Bücher von Orhan Pamuk, er hatte im letzten Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten und nun in diesem Herbst den Literaturnobelpreis. Sie entschied sich für Snow und Istanbul – Memories of a City. Sie las den Roman (oder genauer, sie liest ihn immer noch) und ich seine Memoiren und die habe ich auch nur auszugsweise gelesen. Das liegt daran, dass ich mich nur selten von seinen Erinnerungen und seiner Art, die Stadt und die Menschen zu beschreiben, anfreunden konnte. Meist waren seine Anmerkungen sehr langatmig und nur selten hatten sie etwas an sich, was den Leser in seinen Bann zieht und nicht loslässt. So geht es meiner Freundin mit dem Roman auch und so haben wir zwischendurch schon einige andere Werke gelesen und ich habe jetzt beschlossen, das Buch abzuschließen – in weiten Teilen ungelesen oder nur überflogen.

Le Carré schenkt sich ein Buch zum Geburtstag

John Le Carré ist 75 Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Ehrentag erscheint sein neuer Roman, der in der deutschen Übersetzung „Geheime Melodie“ heißt. Der Roman ist mäßig spannend, ein wenig zu naiv ist sein Hauptdarsteller dargestellt und interessant ist nur, dass auf dem Umschlag des Buches ein Zebrakopf abgebildet ist. Das hat seine Bedeutung und die geheime Melodie ist als Titel nicht so überzeugend gewählt, auch nicht das Original „Mission Song“.

Das Zebra wäre viel besser gewählt gewesen. Aber mehr sage ich nicht zum Inhalt und nicht zu dem Buch, weil es mehr als ein netter Zeitvertreib nicht ist.

Berglektüre

Markus Werner ist Schweizer. Sein Roman „Am Hang“ ist ein „Männerbuch“.

Am Ende befinden wir uns wieder am Anfang der Geschichte. Ich gestehe, dass ich das Buch auch ein zweites Mal gelesen hätte. Denn es ist spannend, ohne ein Kriminalroman zu sein. Es ist sprachlich auf höchstem Niveau, wer einmal etwas über indirekte Rede, den Gebrauch des Konjunktivs und andere Feinheiten der deutschen Sprache erfahren möchte, schule sich an diesem diesen Roman. Wer sich unterhalten möchte, wer gern einige anregende Gedanken über unsere Zeit, ihre Schnelllebigkeit und die Möglichkeiten, sich dem entgegenzustemmen, lesen will, ist bei diesem Buch an der richtigen Stelle.

Ich schätze dieses Buch sehr, ich habe einen neuen Autor entdeckt: Hut ab, vor

Wiederbegegnung mit Graham Greene

Es ist so verdammt lange her. In der Schulzeit habe ich im Englischunterricht einen Roman von Graham Greene gelesen. Dann nie wieder etwas. Nun fiel mir sein „Kriminalroman“ „Unser Mann in Havanna“ in die Hände.

Ich gestehe, ich habe diesen Roman sehr genossen. Ein perfektes kleines Werk! Unglaublich witzig, manchmal schon am Rande der Klamotte, immer aber literarisch anspruchsvoll. Ein eleganter Stil und diese leicht ironisierende Distanz machen diesen Roman zum Juwel.

Der Staubsaugerverkäufer, der zum Staragenten avanciert, obwohl mit ihm doch nur seine Phantasie durchgeht, der die Liebe seines Lebens trifft, der viel mutiger ist, als er es wahrscheinlich selbst von sich glaubte.

Und dann sind da noch wundervolle Sätze enthalten:

„Eine Ansichtskarte ist ein Symptom der Einsamkeit.“

„Ein Witz hatte stets eine zweite Seite, die Seite des Opfers.“

Das ist ein richtig schöner kleiner Roman.

Lesen, sage ich: Lesen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Conrad der Leutnant

Ich habe in der Schule gelernt, dass eine Novelle eine unerhörte Begebenheit schildert, auf die die Erzählung zusteuert.

In diesem Sinne ist die Erzählung des schweizerischen Erzählers Carl Spitteler „Conrad der Leutnant“ eine „wahre“ Novelle.

Da wird ein Tag im Leben des ehemaligen Leutnants erzählt, der jetzt als Sohn eines erfolgreichen Gastwirts, von seinem Vater nicht anerkannt wird. An einem einzigen Tag, verliebt er sich, gewinnt das Erbe und wird erdolcht. Wenn das nicht ein über alles spannender Stoff ist, dann weiß ich auch nicht.

Und es ist fabelhaft erzählt, es ist so ganz in sich geschlossen. Ich las es, ich irrte mich manchmal, wie es weitergehen könnte. Doch auch das gehört zu der meisterhaften Erzählung.

Ein – für mich – neuer Autor

Zum ersten Mal habe ich zu einem Roman von Dieter Forte gegriffen und, um es vorwegzunehmen, nicht bereut.

„Das Muster“ ist die Erzählung zweier Familien, deren Geschichte über Jahrhunderte erzählt wird. Die einen stammen aus der Toskana, die anderen aus Polen. Irgendwann zwischen den Weltkriegen werden sich ihre Wege kreuzen und die polnische Nachfahrin wird einen Nachfahren der Seidenweber aus Italien ehelichen.

Was diesen Roman auszeichnet, sind seine Kurzporträts. Immer wieder werden Leute beschrieben, wie sie geboren werden, wie sie leben und wie sie sterben. Das ist das Muster des Lebens: Am Grab der einen beginnt das Leben der anderen.

Immer wieder wird dies in dem Roman deutlich: Die Lebensfreude („man kreischte, lachte, schrie, einfach so, nur weil man lebte“), die schlichten Mitteilungen über Todesfälle („erhielt Maria erneut ein amtliches Schreiben, verziert mit dem schwarzen Aufdruck des Eisernen Kreuzes, in dem ihr das Deutsche Reich mitteilte, dass Joseph in Verdun gefallen sei“). Und das Leben in seinem Ablauf, seiner Monotonie wird von Forte meisterhaft dargestellt: „Das Leben bestand im Akkord an der Drehbank“.

„Der Weihnachtsbaum wurde weggeräumt, das Leben meldete sich ohne große Worte bei Maria und Gertrud mit seiner Realität“.

Und das Fazit: „Sie hatte den Tod besiegt, aber auch das Leben getötet“ oder „Ein Tag Leben war den Tod wert“.

Forte schreibt in knappen Sätzen so präzise, dass ich nur bewundernd den Hut ziehen kann. Als letztes Beispiel auch wieder als Muster dienend: „Dass das Leben nicht ewig dauere und auf jeden nur der Tod warte, dass auch dieser Karneval seinen Aschermittwoch nicht überleben werde.“

Ein Buch, das zum Lesen einlädt.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Von Menschen und Sternen

Ein sizilianischer Bilderbogen, ein Wand- und Deckengemälde mit den feinsten Farben eines genialen Malers. So ist dieses Buch über den großen Fürsten Salina, der der letzte einer Zeit sein wird, die mit ihm zu Ende geht. Mit ihm, dem letzten Leoparden, das schon von Gestalt fleischgewordene Wappentier, seines Geschlechts. Sein Neffe sagt ihm: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert“.

Dieser Fürst, der lieber in den Sternenhimmel schaut, als sich mit Menschen abzugeben. Der weiß, dass alles vergänglich ist. Dieser Fürst ist ein Leuchtturm in der sich ändernden Welt. Sizilien wird lebendig und die Wahrheiten, die dieser Roman des Giuseppe Tomasi di Lampedusa, enthält sind zeitlos. „Der Leopard“, ich habe nicht die neuere Übersetzung gelesen, besticht durch eine wundervolle Sprache und eine ungeheure Gedankentiefe.

Als man ihn auffordert, Senator des neuen geeinten Italiens zu werden, da antwortet er dem Überbringer dieses Antrags: „Was würde der Senat anfangen mit mir, mit einem unerfahrenen Gesetzgeber, dem die Fähigkeit fehlt, sich selbst zu täuschen – dieses wesentliche Erfordernis für einen, der die anderen führen will?“.

Dieser Roman ist auch eine Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Lebens. Ein Kapitel ist dem Tod des Fürsten gewidmet und ich habe noch kein Ableben beschrieben gesehen, wie in diesem Kapitel.

Ein riesiger Roman. Ein wahres Stück Weltliteratur!

Zwei sehr unterschiedliche Romane Einführung in die Lehre der Ressourcenschonung

Was wäre, wenn man eines Tages erführe, der Erbe eines ungeheuer großen Vermögens geworden zu sein?

Und wenn ich ungeheuer groß sage, dann meine ich das auch so.

Konkret: Es geht um eine Billion Dollar (Eine Billion Dollar von Andreas Eschbach). Und mit Billion ist hier wirklich das deutsche Wort gemeint, nicht die englische Milliarde!

Das Erbe ist an keinerlei Verpflichtung geknüpft, aber es wäre schön, wenn der Erbe der Menschheit die verlorene Zukunft wiedergeben könnte.

Der Roman spielt um die Wende zum 21. Jahrhundert und alle Probleme, die wir in unserem Wachstumswahn unserem Planeten bereitet haben, sind hier bereits angesprochen. So erfährt man vieles in journalistischer Form über die Idee, die Spekulationsgewinne zu besteuern, die beim Handel mit Devisen erzielt werden. Uns wird die Endlichkeit jeder Ressource nähergebracht. Wir können das Öl, das wir verheizen, nur einmal durch den Schornstein jagen!

Die ungleiche Lastenverteilung zwischen armen und reichen Staaten und selbst die Erhebung der DDR-Bürgerinnen und Bürger (Wir sind das Volk) passt noch in das Buch hinein.

Manchmal meinte ich, dass es etwas zu dicke kommt und den Kampf zwischen Faust und Mephisto hat Goethe auch schon besser beschrieben. Aber alles kleinkarierte Mäkeln hilft nicht. Auf sehr unterhaltsamer Weise wurde ich in den Sog der Geschichte gezogen, etwas gegen unsere zunehmende Umweltzerstörung unternehmen zu wollen. Und zunehmend denke ich über das Fehlen einer wirklichen demokratischen Legitimation unserer schönen EU-Kommission nach. Ein Weltsprecher, eine von der Mehrheit der Menschen dieses Planeten gewählte Persönlichkeit, ist keine so schlechte Idee.

Ich empfehle die Lektüre dieses Romans nachdrücklich!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Verirrung auf Schwedisch

Der Piper Verlag hilft uns, nordische Autoren zu entdecken und erschließt sich selbst einen Markt. Ein Band der Reihe stammt aus der Feder von Hjalmar Söderberg. Der Mann lebte im 19. und 20. Jahrhundert und war ein viel gelesener Autor seiner Zeit. Der Roman heißt „Verirrungen“.

Und verirren tut sich hier der jugendliche Mann, der seine ersten Liebesabenteuer übersteht, der in finanzielle Probleme rutscht, Vater wird, am Schluss aber ziemlich ungeschoren aus all den Problemen eines Jahres hervorgeht.

Manches an dem Roman ist zu sehr „gestellt“, manches zu sehr Märchen. Aber dieser Roman hat eine sanfte Melodie, die ich gerne hörte und mitsummte. Der junge Mann wird wahrscheinlich „die Kurve kriegen“, was er nicht so richtig verdient hat, aber das lässt sich nicht ändern. So sind halt die Romane.

Nur mit Maupassant, wie es eine Rezension tat, darf man den Autor nicht vergleichen.

Söderberg ist ein vortrefflicher schwedischer Schriftsteller, der Roman „Verirrungen“ eine angenehme Lektüre.

Maupassant aber ist einer, der auf dem Olymp wohnt.

Und wieder einmal Donna Leon!

Durch ein dunkles Glas – frei übersetzt – lautet der letzte Leon Roman, den ich gerade aus der Hand gelegt habe. (Through a glass, darkly)

Das ist doch eine feine Überraschung! Endlich wieder einmal ein Kriminalroman mit einem präsenten Commissario Brunetti. Dass auch hier, in diese im edlen und doch so morbiden Venedig spielenden Sujets der Umweltschutz Einzug gehalten hat, finde ich bemerkenswert.

Bemerkenswerter der lange Atem, den Frau Leon hat. Sie lässt die Hälfte des gesamten Romans verstreichen, bevor der Mord geschieht, der aufgeklärt werden will. Vorher werden wir vorbereitet auf das Kommende, aber nicht plump, sondern sehr dezent, sehr elegant. Wir lernen die feine Glasgegenständeherstellung auf Murano kennen, spüren die Hitze der Schmelze und ahnen auch, dass dies eine schöne Szenerie für einen Kriminalfall darstellen kann.

Ja, so stell ich mir eine spannende und unterhaltsame Lektüre vor. So will ich Brunetti agieren sehen. Er ist nicht ständig in irgendwelche familiären Handlungen verstrickt, er ist bei der Arbeit und seine Familie hilft ihm bei der Lösung des Falls. Schön, wenn man so eine Familie hat!

Schön, wenn man diesen Roman gelesen hat und ihn allen anderen weiterempfehlen kann!

Also, Leserin, Leser nichts wie ran!

Aus kalten Kriegstagen

Der Roman, der die Berühmtheit des Autors John le Carré begründete, ist „Der Spion, der aus der Kälte kam“. Berühmt wegen seiner klaren Sprache, der intimen Kenntnis der Arbeit von Geheimdiensten in den Tagen des kalten Krieges kurz nach dem Bau der Mauer.

Unser Held, mit dem man sich nie wirklich identifizieren kann, ist ein Werkzeug zum Schutz eines anderen wertvolleren Agenten. Das durchschaut er spät, zu spät. Dass er auch noch ein Liebesverhältnis eingegangen ist, macht die Sache noch komplizierter. Am Ende wird er im Kugelhagel an der Mauer sterben. Er hat es nicht geschafft, aus der Kälte zurückzukehren. Es hat ihm sein Leben gekostet, dafür überlebt der andere Agent auf seinem Posten. So wird das weitergehen. So ist es auch noch heute.

Ein kaltes Geschäft. Ein großer Roman!

Der Roman eines Lindwurms

Ein Roman, von einem Lindwurm geschrieben. Das kann nichts sein! Der Text durch Zeichnungen unterbrochen, die denen eines Kinderbuches gleichen. Jede Menge Phantasiegestalten in allen Größen und Formen. Eine völlig neue Welt!

Ich brauchte eine Weile, um in diese Welt einzutauchen. Ich konnte mich nicht sofort mit dem Roman anfreunden; warum tat ich mir dies an? Es gibt doch wesentlich mehr und tiefergehende Literatur.

Worüber eigentlich? Über Bücher!

Schon wieder ein Roman, der von Büchern handelt, der über Literatur fabuliert. Und was für unterschiedliche Literatur gibt es und wie viele unterschiedliche Arten von Büchern. Traumbücher und gefährliche Bücher und lebende Bücher und …

Und dann tauchen der Leser und die Leserin ein in diese Phantasiewelt und es spielt keine Rolle mehr, ob die Hauptgestalt ein Lindwurm, ein Gnom, eine Schreckse oder die äußerst sympathischen Buchlinge sind, die die Werke von Dichtern, deren Namen sie annehmen, auswendig lernen. Übrigens ist es witzig, die Namen der Dichter zu entschlüsseln, die wirklich hinter diesen Buchstabenverdrehungen stecken.

Der Sog des Buches ist ungeheuerlich und ich zog den Hut vor dem Autor Walter Moers, ach ja, er ist der „Übersetzer“ des Werkes von Hildegunst von Mythenmetz, jenem Dichter, der das Orm empfangen hat und in sich aufgenommen hat.

Nun muss jeder dieses Buch allein lesen, nur Mut: Es macht sehr, sehr viel Spaß!

Es heißt „Die Stadt der träumenden Bücher“!

Ein Schelmenkrimi

Da stolpert ein kleiner Gauner in ein richtiges Abenteuer. Da wird er in eine Agententätigkeit hineingezogen und zugleich ist er dabei als die großen Edelsteine der wahrlich wunderschönen Sammlung der Sultane aus der Schatzkammer des Topkapı- Palastes gestohlen werden. Er stolpert durch die Handlung genauso wie der eine oder andere Schelm in anderen Romanen. Der Mann weiß eigentlich gar nicht wie ihm geschieht, aber er kommt aus der ganzen Geschichte ziemlich ungeschoren davon. Am Ende hat er sogar einen Anflug von einem Befreiungsgefühl. Er will nicht mehr derjenige sein, auf dem alle herumhacken. Ob er sich geändert haben kann, ist nicht glaubwürdig und eher unwahrscheinlich.

Wer aber eine spannende Geschichte lesen will, wer vielleicht schon einmal in Istanbul gewesen ist und die Orte der Handlung kennt, der wird begeistert diesen Roman lesen und ihn erst aus der Hand legen, wenn unser Held sich gerade überlegt hat, sich nicht mehr herumschubsen zu lassen.

Der Autor Eric Ambler ist jedenfalls zu diesem kleinen Meisterwerk zu beglückwünschen! Der Roman hieß einst „Im ersten Morgenlicht“ und nun „Topkapi“.

Kunderas erster Roman

Der Text einer Postkarte, die ein junger, verliebter tschechischer Kommunist seiner Freundin schickt, wird ihm in den schlimmen Jahren der CSSR, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, zum Verhängnis. Was als Scherz gemeint war, wandelt sich zum schrecklichen Ernst. Er wird aus der Partei ausgestoßen, er wird von der Universität geworfen und in ein Strafbataillon eingezogen und muss unter Tage schuften. Er will sich Jahre später rächen. Die Frau des Funktionärs wird verführt und er hofft damit diesem Mann eine Ohrfeige zu versetzen. Das geht aber schief, denn der Mann liebt längst eine andere. Am Ende wird er immerhin wieder einem alten Jugendfreund nähergekommen sein. Mehr nicht.

Der Roman „Der Scherz“ ist ein Text wie ihn nur Kundera schreiben kann. Noch ist nicht der Sound späterer Romane zu hören, aber der Mann kann wunderbar beschreiben, kann exakt formulieren und hat eine genaue Beobachtungsgabe. Er ist einfach ein großer Schriftsteller.

Der begnadigte Makler

Natürlich sind die Plots von John Grisham nicht wirklich ganz nah an der Wirklichkeit, aber das muss ja auch nicht sein. Was zählt, ist einzig und allein das Ergebnis. Es muss eine spannende Geschichte dabei herauskommen.

In dem Roman „The Broker“ begnadigt der scheidende amerikanische Präsident einen Mann, der im Gefängnis noch etliche Jahre wegen des Verdachts, Kenntnisse über ein Satellitenüberwachungssystem an sich gebracht zu haben, schmoren müsste. Natürlich steckt die CIA dahinter und man will den begnadigten Mann nur als Lockvogel einsetzen, um zu erfahren, welche ausländische Macht denn hinter der ganzen Sache steckt.

Unser Mann ist ein aufgewecktes Kerlchen und hat nicht die Absicht, sich ermorden zu lassen. Nun ergibt sich ein munteres Spielchen, aber Spannung kommt dennoch nicht so richtig auf. Wenn man diesen Roman mit Grishams frühen Romanen vergleicht, dann fällt aber schon auf, dass auch diesem amerikanischen Vielschreiber Romane wie die Firma und die Akte nur einmal gelungen sind.

Als Urlaubslektüre ist der Broker oder „Die Begnadigung“, wie seine deutsche Version heißt, dennoch gut geeignet.

Erste Begegnung mit P.D. James

Der Roman heißt „Was gut und böse ist“. Die Autorin ist die englische Lady Phyllis Dorothy James. Und wenn man den Roman nach 500 Seiten weglegt, dann ist man beeindruckt. Der Kriminalroman ist überaus spannend, er ist sehr geschickt aufgebaut und der Leser hat jede Menge Zeit, sich in Vermutungen zu ergehen, Figuren zu verdächtigen und dann zu erkennen, dass man doch auf einer falschen Fährte war.

Die Frau kann schreiben, sie lässt sich Zeit. Sie beschreibt ihre Figuren, sie beschreibt die Umgebung, in die sie diese Figuren gestellt hat. Alles geht sehr gemächlich voran, obwohl der Leser auf der ersten Seite erfährt, dass die Figur, der zunächst alle Aufmerksamkeit gilt, bald ermordet werden wird. Aber wer war es? Wie hängt das alles zusammen, was sich ganz langsam vor unseren Augen entwickelt?

Am Ende ist alles gelöst, aber ob alles auch der Gerechtigkeit zugeführt werden konnte, lasse ich offen. Ziemlich am Ende des Romans sagt uns die Autorin, „nur Gott weiß, was gut und böse ist, und dass die menschliche Gerechtigkeit zwangsläufig immer unvollkommen bleibt.“ Das ist eine bestimmte Art von Gerechtigkeit (A certain justice!) und der Leser zieht den Hut. Er hat gerade mehr als einen Kriminalroman gelesen.

Lesen Sie diesen Roman der Queen of Crime, es lohnt sich!

Das ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit!

Als Schullektüre zwingend vorzuschreiben!

Mich umfasst noch immer ein heiliger Schauer, wenn ich Filme sehe, die in der Nazizeit spielen und uns Deutsche mit den Ungeheuerlichkeiten unserer Väter und Großväter in Berührung bringen. Ich tu mich auch schwer, Bücher auszuwählen, die in dieser Zeit angesiedelt sind und dann doch häufig so wunderbare Geschichten enthalten, dass ich deren Lektüre später gar nicht missen möchte.

Im Falle der Lektüre des Romans von Jurek Becker „Jakob der Lügner“ ist es mir so ähnlich ergangen. Nur habe ich die ganze Grausamkeit, die hinter seiner so wunderbar erzählten Geschichte steckt, immer wieder gespürt. Doch nach jeder Unterbrechung meiner Lektüre gelang es mir auch, sofort wieder in diese Geschichte einzutauchen, mich in ihr zu vertiefen und ich war begierig, zu erfahren, wie sie wohl weitergeht, wie sie endet. Obwohl mir das Ende schon klar war, denn viel zu viele Menschen sind durch die Wahnsinnstaten der Nazis getötet worden. Ein Happy End hätte nicht gepasst.

Jakob, ein Jude im Ghetto, hört zufällig eine Radionachricht mit. Die Russen sind auf dem Vormarsch, auch wenn das in der Nazipropaganda gefällig umschrieben wurde. Er gibt diese Nachricht an seine Schicksalsgenossen weiter und da er nicht einfach sagen kann, dass er die Nachricht zufällig aufgeschnappt hat, erfindet er einen – seinen – Radioapparat. Von nun an – die Russen kommen immer näher – gibt es für die Menschen Hoffnung. Zumindest für einige Zeit. Um Jakob herum werden uns weitere liebenswürdige Ghettoinsassen nähergebracht: das kleine Mädchen Lina, für das Jakob sorgt, der Anwalt Schmidt und der Internist Kirschbaum, das junge Paar Rosa und Mischa und schließlich dieser Freund Jakobs, Kowalski. Alles wunderbare Figuren. Alle in einer wunderbaren Erzählung vereint. Von einem großen deutschen Erzähler, dem es gelingt mit nur wenigen Sätzen einen Charakter zu skizzieren und lebendig erstehen zu lassen. Becker hat mit diesem Roman all den unendlich vielen Opfern des Naziterrors ein Denkmal gesetzt. Daher ist dies ein Buch, das unbedingt in den Pflichtkanon des Deutschunterrichts gehört.

Und ganz nebenbei enthält dieses wunderbare Buch noch Sätze wie diesen: „Irrtümer entstehen aus Mangel an Erfahrung.“

Beschreibung des normalen Lebens

Es liegen 800 Seiten eines Romans hinter mir. Ein Roman der einige Tage des Jahres 1988 beschreibt. Genauer die Tage zwischen dem 30. Juni und dem 4. Juli, dem „Unabhängigkeitstag“.

Richard Ford beschreibt das Leben des Ich–Erzählers Frank Bascombe, der geschieden, sich auf einen Ausflug mit seinem pubertierenden Sohn Paul vorbereitet. Schnell versucht Frank, der Makler, noch ein Haus zu verkaufen, Miete einzutreiben, seine Geliebte zu besuchen und dann zu seiner Exfrau zu fahren. Möglichst dem neuen Gatten aus dem Wege zu gehen, seine Tochter zu herzen und mit dem 15-jährigen Knaben zu einem Kurzausflug zu einer Ruhmeshalle des Basketballs und des Baseballs aufzubrechen.

Wir werden durch das kleinbürgerliche Amerika geleitet, wir erleben fast jeden Atemzug des Erzählers, jede kurze Gedankensequenz. Wir fühlen uns hineingezogen in dieses „normale“ Leben und entdecken, dass es so ähnlich ist wie unser eigenes und das unserer Nachbarn.

Was passiert schon groß? Natürlich ist alles sehr aufregend und an jeder Wegbiegung kann eine Katastrophe lauern, aber irgendwie ist das Leben dann doch der große ruhige Strom, man schwimmt manchmal unmerklich daraufhin. Aber es kann jeder Zeit anders sein. Denn: „Gute Stimmungen sind bekanntlich sehr viel fragiler als schlechte.“

Und natürlich ist der Roman voller Selbsterkenntnisse und –erfahrungen angefüllt mit klugen Sätzen. Und natürlich ist dieser Roman hochgelobt und mit Preisen ausgezeichnet worden.

Er ist nie langweilig, er ist im besten Sinne unterhaltsam und er führt uns vor Augen, wie interessant unser Leben ist. Wie vielschichtig und – vor allem – wertvoll.

Quisquilien

Ein erfolgreicher Plattenagent (ein deutscher Anwalt) hat in den USA neue Verträge ausgehandelt. Jetzt gönnt er sich noch einige Tage Urlaub. Wegen schlechten Wetters wird er in ein einfaches Motel verschlagen und glaubt, Ohrenzeuge eines Mordes geworden zu sein. Er fürchtet von den „Tätern“ verfolgt zu werden und zu allem Überfluss, wähnt er die junge farbige Anhalterin, die er aufgabelt, sei die Komplizin der Gangster. Das alles steigert sich noch ein wenig und löst sich auf.

Der Autor Hans Werner Kettenbach hat diesen kleinen Kriminalroman „Minnie oder ein Fall von Geringfügigkeit“ genannt. Der Untertitel wäre noch treffender, hätte er das Büchlein einfach „Ein Fall von Belanglosigkeit“ getauft. Man fragt sich doch manchmal, wieso ein solches Traktat überhaupt einen Verleger finden konnte.

Mehr als ein Kinderbuch!

Ein Buch für junge Erwachsene, für jung gebliebene Erwachsene. Für ältere Kinder und überhaupt für alle, die Freude an einer schönen und auch ein wenig traurigen Geschichte haben.

Der 13-jährige Gregoire ist eine Niete in der Schule, seine handwerklichen Fähigkeiten hingegen übersteigen bei weitem diejenigen seiner Altersgenossen und auch die vieler Erwachsener. Aber keine Schule will ihn mehr aufnehmen, denn er ist eben schulisch betrachtet eine „Null“.

Sein Großvater weiß das besser und hilft ihm mit Tat und Wort. Das ist anrührend und ermutigend zugleich. Und so bewirbt sich der träge Junge selbst in einem Internat und stellt sich vor als jemand, der aus 35 Kilo Hoffnung bestehe.

Und wie der Großvater, über den hier ansonsten nicht mehr verraten wird, aus der Ferne bei der Aufnahmeprüfung hilft, ist lesenswert und mutmachend zugleich

 Im Übrigen ist der französische Originaltext voller moderner Wörter und Redewendungen, die man kennen sollte, wenn man nach Frankreich reist. Das Buch empfehle ich daher dringend auch für den lebendigen Sprachunterricht.

Ach ja, der wunderbare Text stammt aus der Feder von Anna Gavalda.

Schloss Gripsholm

Dieser vom Umfang bescheidene Roman (Schloss Gripsholm von Kurt Tucholsky) nennt sich eine Sommergeschichte.

Genau die richtige Lektüre auf Reisen. Kurz und unterhaltsam.

Wie ein gut gekühlter Rosé-Wein. Er hinterlässt keine Kopfschmerzen, er mundet und er macht Abende so angenehm leicht.

Doch im Gegensatz zu einem solchen Sommerwein, konnte diese Geschichte durchaus mehr. Diese Geschichte bietet mehr. Sie ist poetisch, sie ist voller wunderbarer Weisheiten und sie ist raffiniert angelegt. Sie kommt so unscheinbar daher mit ihrem Briefwechsel zwischen dem Autor und dem Verleger. Der Autor möge doch eine kleine Liebesgeschichte schreiben, die mögen die Leute so gern. Die Geschichte, die Tucholsky dann erzählt, handelt von der Reise eines Schriftstellers und dessen Freundin nach Schweden. Ein Freund von ihm kommt für eine Woche vorbei und später besucht eine Freundin von ihr die beiden auch. Da knistert es dann erotisch gewaltig und am Ende fährt man wieder zurück. Man hat ein kleines Mädchen dabei, die man aus den Fängen einer herrschsüchtigen Internatsvorsteherin befreien konnte. Das ist alles. Doch alles ist Poesie, die in der Mitternachtssonne glänzt. Dafür einige Beispiele:

So schön ist dieser kleine Roman und irgendwo schimmert doch schon die braune Bedrohung durch, aber die ist in Schweden denn doch noch weit entfernt.

Mein Vorschlag: Lesen!

Tiffany

Auf dem Klappentext der ausgezeichneten Edition der Süddeutschen Zeitung zu diesem kurzen Roman steht ein Satz von Norman Mailer über dieses Buch von Truman Capote: „Ich hätte keine zwei Wörter in ‚Frühstück bei Tiffany’ ändern wollen.“

Und das ist wahr! Diese Geschichte ist so dicht, so perfekt komponiert, da stimmt einfach alles.

Die Geschichte der Holly Golightly, die Geschichte von einem Mädchen, einem Menschen, auf der Suche nach einem Zuhause. Von dem Wunsch anzukommen, das Gefühl zu haben, genau an dem für einem bestimmten Ort zu sein. Holly ist auf der Suche, vielleicht ihr Leben lang und der junge Schriftsteller, der das so treffend beschreibt, der sich sterblich in sie verliebt ist, obwohl sie nur ältere Männer mag, hat das begriffen. Den namenlosen Kater von Holly kann er ausfindig machen und sieht den offensichtlich zufriedenen bei neuen Besitzern hinter der Gardine. Holly irrt noch umher, wahrscheinlich.

Ich mag allen Menschen wünschen, anzukommen. Und ich empfehle das Büchlein zur dringenden Lektüre.

Laurids Brigge

„Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergeben, Lieben ist dauern.“

Und wenn der ganze „Roman“ nichts taugte, solche Sätze stehen wie in Stein gemeißelt und halten und überdauern.

Aber in diesem Text steckt so viel mehr, das zu entdecken, einem nicht leicht gemacht wird. Da gibt es unendlich zähe Passagen über Selbstreflektionen des Brigge, da gibt es aber auch wunderbare Erzählungen über Nachbarn, wie demjenigen, der sich die Zeit in kleinerer Münze auszahlen lässt und dann feststellt, welche große Zahlen jedes Wochenende abgebucht wurden. Er kann das nicht mehr rückgängig machen und bleibt fortan im Bett. Wundervolle Einfälle wechseln mit schier unverständlichen Passagen ab.

Das ist eine Lektüre für Fortgeschrittene und alle, die Spaß daran haben, anderen, vielleicht sogar dem geliebten Mitmenschen, Abschnitte vorzulesen und sich an der Kunst der Sätze und der Unverständlichkeit ihres Inhaltes zu erfreuen.

Rainer Maria Rilke hat diese Aufzeichnungen verfasst.

Eine wahrlich große Geschichte

Der Roman von David Mitchell heißt „Der Wolkenatlas“.

Kann es einen solchen geben? Wolken sind so flüchtige Gebilde, da macht die Aufzeichnung doch gar keinen Sinn. In dem wundervollen Brecht Gedicht „Erinnerungen an Marie A:“ heißt es „Doch jene Wolke blühte nur Minuten und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.“ So ist das mit den Wolken, so ist das auch mit den Momenten in diesem Roman. Der Roman ist eine Sammlung von Geschichten zu verschiedenen Zeiten (gestern, heute und in einer gar nicht so fernen Zukunft). Die Geschichten sind dadurch verbunden, dass das Manuskript der ältesten Geschichte in der nächsten auftaucht und so weiter. Dass die Protagonisten der Geschichten alle kleine Muttermale in Form eines Kometen besitzen und dass sie alle irgendwie gegen den Strom schwimmen, sich ein wenig gegen den Zeitgeist stellen und so aus der Masse herausragen. Nun ist dieser Roman auch noch – in gewisser Weise – komponiert. Die Geschichten kommen aus der Vergangenheit und kehren dahin wieder zurück. Die letzte Geschichte des Romans ist die Fortsetzung der ersten. Wir sind also auf einen Berg gestiegen, der über den Wolken liegt (in der Zukunft) und steigen dann wieder zurück in die Vergangenheit, aus der wir kamen.

Und was das alles soll steht irgendwo (ich verrate nicht wo) in dem Roman. „Wenn wir wirklich glauben, dass unterschiedliche Rassen und Glaubensbekenntnisse diese Welt so friedlich miteinander teilen können wie Waisenkinder ihren Kerzenölbaum, wenn wir wirklich glauben, dass Führer gerecht sein müssen, Gewalt geächtet gehört, Macht verantwortet werden muss und die Reichtümer der Erde und ihrer Ozeane verteilt werden sollen, dann wird eine solche Welt auch zustande kommen. Ich mache mir nichts vor. Keine Welt wäre schwieriger zu verwirklichen. Mühsam über Generationen hin erlangte Fortschritte können durch den Federstrich eines kurzsichtigen Präsidenten oder das Schwert eines ruhmsüchtigen Generals verloren gehen.“

Und wir sollen uns nicht fürchten, den Weg zu gehen, den in Mitchells Roman nur wenige „Auserwählte“ gehen: „Wer gegen die Hydra der menschlichen Natur kämpft, muss dafür mit unendlichem Leid bezahlen und seine Familie bezahlt mit ihm! Erst wenn du deinen letzten Atemzug getan hast, wirst du begreifen, dass dein Leben nicht mehr gewesen ist als ein Tropfen in einem grenzenlosen Ozean!“ Nur und das ist der Trost: “Was aber ist ein Ozean anderes als eine Vielzahl von Tropfen?“.

Ein wahrlich bemerkenswerter Roman, der in verschiedenen Verkleidungen daherkommt. Als Krimi und als Science-Fiction, ebenso wie als Abenteuergeschichte. Man liest und liest und will gar nicht stoppen.

So müssen Bücher sein!

Ein Dampfer auf dem See

Da hat man vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs ein Dampfschiff in Papenburg gebaut und dann wieder zerlegt, um es nach Afrika zu schaffen. Dort soll es aufgebaut auf dem Tanganikasee herumfahren und Deutschlands Ruhm und Vormachtstellung in Deutsch-Ostafrika zeigen. Die Briten wollen so etwas nicht akzeptieren. Als der Krieg ausbricht schicken sie einen Trupp mit zwei kleinen schnellen Booten um die halbe Welt und durch das halbe Afrika, um schließlich ebenfalls am besagten See anzukommen. Zwar wissen die Briten gar nichts von dem großen Dampfschiff, wähnten bislang nur ein altes reichlich baufällige Boot in deutschem Besitz, aber man nimmt die Nachricht von der Existenz dieses großen überlegenen Schiffs des Gegners als nicht zu ändern hin. Und was dann passiert wird natürlich nicht verraten.

Gesagt werden soll aber, dass der Roman von Alex Capus „Eine Frage der Zeit“, vor allem einige herrliche Typen enthält. Kauzige Männer, die alle vom Krieg überrascht werden, der im Herzen Afrikas vielleicht ein wenig anders ausgetragen wird als in Europa. Aber leiden tun alle an diesem schrecklichen und sinnlosen Geschehen, überall auf der Welt.

Dass einer der Romanhelden zu überleben scheint, wissen wir schon nach wenigen Seiten Lektüre, was mit den anderen geschieht, bleibt leider zum Teil im Ungewissen. Und sicherlich ist alles eine Frage der Zeit; nicht alles aber eine Zeitfrage.

Es gab Stimmen, die diesen Roman mit Daniel Kehlmanns vorzüglicher Geschichte der Weltvermessung verglichen haben. Nun ja, ich gönne jedem Autor ein gutes Einkommen und Büchern immer viele Leserinnen und Leser.

Aber Kehlmanns Roman spielt dann doch in einer anderen Liga.

Geht es uns gut?

Ich beginne ein wenig unkonventionell. Ich zitiere aus dem Roman von Arno Geiger „Es geht uns gut“.

„Vom Kranksein wird man alt, und vom Altsein krank, und von beidem zusammen stirbt man. Am schlimmsten ist, dass man mich daheim und in der Schule nicht darauf vorbereitet hat. Aufs Sterben schon. Aber vor dem davor hat mich keiner gewarnt, obwohl das Sterben das wenigste sein dürfte.“

Und an vielen Stellen des Romans stehen Sätze wie:

„Unterm Strich, weiß Gott: Von gut ist das alles weit entfernt.“

„Mir ist nicht gut, sagt sie.“

„Nein, danke, es geht uns gut.“

Es fragt sich also schon, ob es den Personen dieses Romans wirklich gut geht. Und das über drei Generationen hinweg. Das ist der Zeitraum, den der Roman abdeckt. Er erzählt Situationen an bestimmten Tagen, zu unterschiedlichen Zeiten. Manchmal fragt man sich, warum gerade der Tag herausgesucht wurde. Denn eigentlich passiert nichts oder nicht viel an diesem Tag. In Rückblenden bekommt man dann mit, was zwischen dem Zeitpunkt der letzten Situationsschilderung und dem gegenwärtigen Zeitpunkt passiert ist. Man muss aufmerksam bleiben und ist doch überrascht, dass eine Person inzwischen gestorben ist oder im Pflegeheim untergebracht werden musste.

Und dann lesen wir den Satz: „Man lebt nicht einmal einmal. Das Leben besteht aus vielen Tagen.“ Das ist das Prinzip dieses Romans. Man muss sich auf diesen einlassen, er macht es nicht immer leicht, aber man wird mit tiefen Gedankengängen belohnt und mit einem Bilderbogen von nahezu fünfundsechzig Jahren österreichischer Geschichte. Mit den Problemen und Konflikten der Generationen und der Geschlechter.

Nicht alles ist gelungen, so fragte ich mich, warum eine Seitensprunggeschichte des Großvaters Raum erhält, ohne für das weitere Geschehen relevant zu sein. Auch die Affäre des Enkels mit einer Postbotin ist ohne jeden Belang. Aber das sind nur kleine Unzulänglichkeiten. Was vielmehr bleibt ist der Eindruck mit diesem Roman „in die Welt hinausgeritten zu sein, in diesen überraschend weitläufigen Parcours.“

Es ist ein sprachmächtiges Werk entstanden, das zu lesen lohnt!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Ein feiner kleiner Krimi

Ein Bauunternehmer wird auf Sizilien erschossen, als er in den Bus einsteigt. Niemand will etwas gesehen haben. Aber der aus Norditalien stammende Hauptmann rollt den Fall dennoch schnell und folgerichtig auf. Am Ende stehen Verhaftungen des Mörders und seiner Hintermänner. Dass der Mord auf das Konto der Mafia geht, steht außer Frage und so könnte man das Büchlein schließen. Aber der Roman schildert auch die Gegenarbeit. Wie unterläuft man die erfolgreiche Arbeit des Hauptmanns? Wie bekommt man das hin, ohne zuviel Aufsehen zu erzeugen?

Man schafft es und am Ende schlendert der Kriminalbeamte durch seine Vaterstadt und weiß, nichts erreicht zu haben.

Dieser kleine Kriminalroman „Der Tag der Eule“ von Leonardo Sciascia ist ein geschickt aufgebautes Werk, auf hohem sprachlichem Niveau. So gut und so tiefgängig, können Krimis sein.

Agententhriller sind anders

Die Autorin wird auf dem Buchumschlag als Nachfolgerin von John Le Carré gefeiert. Der Spion ist in einer Organisation tätig, die von allen angeheuert werden kann. Es mag solche Söldner CIA geben, aber schon damit beginnt der Roman eher unwahrscheinlich und dann hat sich der Spion auch noch gerade auf sein Altenteil zurückgezogen, wird aber völlig zufällig in sein neues Abenteuer hineingezogen. Er begegnet einem Schauspieler und Autor, der nach einem Meditationskurs auf einer griechischen Insel die Vision hat, dass ein Freund von ihm, der sich anschickt Senator und später Präsident zu werden, ermordet wurde und nicht zufällig mit dem Flugzeug abstürzte. Auf diesen schwachen Verdacht hin (ein Mann hat eine Vision und alle Welt wird ihm folgen) versuchen die bösen amerikanischen Verschwörer, ihn aus dem Weg zu räumen.

Alles reichlich konstruiert und damit nicht alles nach wenigen Seiten zusammenbricht, muss noch die Geliebte unseres Spions die Geschichte ein wenig komplizierter gestalten

Also ich hoffe, dass Le Carré noch viele nette Romane schreibt!

Dieser Roman ist von Liaty Pisani und heißt „Der Spion und der Schauspieler“.

So sollen Romane sein

Endlich habe ich einen Roman in die Hände bekommen (meiner lieben Freundin sei Dank!), der meine Anforderungen an spannende und gleichsam intelligente sowie unterhaltsame Lektüre so rund um erfüllt.

Ich las den Roman wie Durstige ein großes Glas Wasser leeren, nahezu ohne abzusetzen, in einem Zuge. Das fällt einem bei „Zugzwang“ auch nicht sonderlich schwer. Ich geriet in einen Lesesog und aus dem befreite ich mich erst, als die letzten Worte des letzten Satzes gelesen waren.

Zugzwang ist ein Begriff aus dem Schachspiel. Man ist zu einem Zug gezwungen und weiß, dass dieser nicht zum eigenen Vorteil gereichen wird. Man schliddert in sein Verderben. In solchen Zugzwang gerät der Held dieses Romans von Ronan Bennett und später gelingt es diesem Helden, andere in diese Position zu manövrieren. Ein Schachspiel durchzieht diesen Roman ebenso, wie eine wundervolle Liebesgeschichte und eine verzwickte Agentengeschichte, die im vorrevolutionären Russland, kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs spielt.

Es kann hier nicht mehr verraten werden, weil sonst die Spannung der Lektüre entzogen würde. Es kann aber nur ganz dringend zur Lektüre dieses Romans geraten werden. Spannende Entspannung garantiert!

So sollen Romane sein – Teil zwei

Ungelöste Kriminalfälle, die die Polizei in die Registratur verweisen muss, werden nasse Fische genannt. So heißt der Roman von Volker Kutscher, den er im Berlin der zwanziger Jahre spielen lässt.

In diesem Roman bleibt allerdings nichts ungelöst. Alles wird einer Lösung zugeführt. Und der gar nicht so unsympathische, nach Berlin versetzte Held der Geschichte, der Kölner Kriminalbeamte Gereon Rath, wird am Ende sogar seine Liebste wieder für sich eingenommen und ihr alles erzählt haben, was er ihr im Verlaufe der Geschichte zum Teil verschwiegen hatte.

Die Geschichte ist ein wenig phantastisch, da sie aber zwingend und mit sehr viel Logik entwickelt wird, trägt sie und vermittelt Spannung und zwingt den Leser, immer weiterzulesen. Und wenn man denn doch einmal den Roman aus der Hand legen muss, erwischt man sich dabei, wie man sich Gedanken macht, wie es nun weitergehen könnte.

So etwas schaffen nicht allzu viele Romane. Und wenn man dann noch hinzunimmt, wie Kutscher das alte Berlin zum Leben erweckt, dann zieht man den Hut und ruft Respekt und hofft auf Fortsetzung.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Ein Dokument der Vergeblichkeit

Ich habe vor einiger Zeit den Roman „Nachtzug nach Lissabon“ gelobt, ich war gespannt, mehr vom Autor dieses Romans zu lesen. Ich las nun „Der Klavierstimmer“ von Pascal Mercier und bin wiederum begeistert.

Der Tod der Eltern führt ein seit einigen Jahren getrenntlebendes Geschwisterpaar wieder zusammen. Sie vereinbaren, das getrennt Erlebte aufzuschreiben und dem anderen bei einem Treffen auszuhändigen. Die beide verbindet mehr als die übliche Geschwisterliebe; sie versuchen ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, sie berichten von den Gesprächen mit den Eltern. Die immer wieder veränderte Erzählperspektive macht das alles so spannend, so ungemein lesbar.

Nun kommt hinzu, dass die Eltern eines schönen Abends in die Oper gegangen sind und einen weltberühmten Tenor erschießen. Ich erzähle hier nicht, wer es getan hat, ich erzähle nicht, was hinter diesem Mord steht. Ich will nur verraten, dass der Klavierstimmer, der Vater der Geschwister, Opern komponiert, dass er aber nicht erfolgreich ist. Die Versuche, eine seiner Opern zur Anerkennung und zur Aufführung zu bringen, sind vergeblich. Die Aufzeichnungen der Mutter über Balletttänzerinnen, über ihre Mutter und Großmutter liegen im Nachlass. Die Liebe der Geschwister ist nicht zulässig, es ist eine vergebliche Liebe. Und selbst das Ende bringt zum Ausdruck, wie vergeblich alle Bemühungen waren, die Gefühle aufzuschreiben. Eine Jugendbande überfällt sie und klaut die Aufzeichnungen. Ziemlich am Ende dieses wunderschönen Buches vertraut die Schwester ihren Aufzeichnungen an, dass das Buchmanuskript der Mutter ebenso wie die Partituren des Vaters Dokumente der Vergeblichkeit darstellen. Das ist die genaue Definition dieses gesamten Romans.

Noch ein Wort zu dem Ton dieses Romans. Man hört das Schweizerdeutsch des Autors, es schwingt und klingt. Man merkt, dass der Autor studierter Philosoph ist, denn wo sonst könnte man Sätze wie die folgenden lesen?

„An Schmerz kann man Anteil nehmen und die Anteilnahme kann lindern.“

„Wieviel Abgrenzung verträgt die Liebe? Damit es noch Liebe ist?“

„…, überfielen mich Trauer und eine kindische Wut auf die Zeit und ihr unbarmherziges Verfließen.“

Ich wünsche diesem Roman viele Leser und mir noch mehr Lektüre von Peter Bieri alias Pascal Mercier.

Kehlmann, Kaminski und ich

Der kurze Roman von Daniel Kehlmann ist ein Stück unhöflich. Das geht schon aus dem Titel hervor; „Ich und Kaminski“. Jeder würde doch sagen, der Esel geht eben nicht voran. Der Erzähler tut es. Er will die Biographie des genialen Malers Kaminski schreiben. Der er ist alt und man erwartet sein baldiges Ende. Dann kommt eine Biographie gerade recht. Also schnell alles aus dem fast blinden Greis herausholen und dann wird man berühmt sein. Allerdings ist unser Erzähler ein ziemlicher Verlierertyp. Seine Beziehung ist gerade in die Brüche gegangen, sein Eigenbild und das der anderen gehen doch sehr auseinander. Er wird keine Biographie schreiben, er wird am Ende ziemlich blöd dastehen.

Und Daniel Kehlmann ist ein guter Schriftsteller!

Nierensteine

Großmutter hat Nierensteine, sie fährt zur Kur. Himmelt einen Mann an. Kommt wieder zurück, wird schwanger und bringt den Vater der Erzählerin zur Welt. Ihre Umgebung hält die Frau für ein wenig überspannt. Aber eigentlich sucht die Frau nur nach Liebe. Sie will am Ende ihres Lebens das Gefühl haben, gelebt und geliebt zu haben. Der schmale Erzählband liest sich schnell durch, man freut sich über diesen Text, aber wirklich im Gedächtnis wird er nicht bleiben.

Falls man aber eine Zugfahrt vor sich hat oder sonst etwas, wo man ein wenig Zeit hat, dann kann man sich diesem Bändchen zuwenden. Aber es gibt viel wichtigere Lektüre.

Ich redete über „Die Frau im Mond“ von Milena Agus.

Die Ullsteins

Ein Roman, der „Ullsteinroman“ heißt? Dass der Roman so heißt, hat seine eigene Geschichte, es ist nicht der erste, der so genannt wird. Aber damit wären wir schon mitten in der Geschichte des Hauses Ullstein. Es geht Sten Nadolny um den Aufstieg einer Familie zur bedeutendsten Verlegergemeinschaft in Deutschland. Der Roman, der eigentlich eine Biographie ist und nur streckenweise tatsächlich ein Romanformat besitzt, hat an seinem Ende eine Ahnentafel, damit man die verschiedenen Personen auseinanderhalten kann, die vielen Namen nicht ständig vermischt und so zumindest die Chance hat, einen Überblick zu behalten.

Natürlich ist der Roman ein Bilderbogen der deutschen Geschichte und insbesondere des Umgangs dieses Landes mit seinen jüdischen Mitbürgern. Es ist auch ein Lehrstück, wie leicht eine Familie, der es wirtschaftlich gut geht, auseinanderfallen kann.

Und es ist schließlich ein Werk, das einige Weisheiten enthält, die man an dieser Stelle ruhig verbreiten kann:

„Es war die Zeit des ‚Moment mal’…’Moment mal’, das war die kürzeste Formel für alles, was eine Opposition tat und was oppositionelle Zeitungen taten: der Exekutive in den Arm fallen.“

„Es gibt keine eigene Zukunft, ohne diejenige der anderen.“

„Dinge, die niemand merken soll, tut man entweder ganz schnell oder ganz langsam. Das zweite ist erfolgreicher, aber man muss rechtzeitig damit anfangen!“

„Unterschätzen Sie nie jemanden, bloß weil Sie ihn verachten.“

„Entmachtung beginnt mit Nichtinformation, und diese trägt meist den freundlichen Namen ‚Schonung’“.

Ein gefälliger Kriminalroman

Eine Vorgeschichte, die alle – fast alle – Beigaben enthält, den Fall später lösen zu können. Ein Exposé, das alle Verdächtigen zusammenführt und langsam die jeweils aktuell Verdächtigen wieder aus dem Rennen nimmt. Dann noch mehr Morde, nach dem ersten und schließlich weiß der geniale Detektiv Monsieur Poirot Bescheid. Wir Leser aber noch nicht. Ein paar Menschen werden glücklich, sie finden sich zu Paaren; an der einen oder anderen Stelle spielt der eitle Detektiv ein wenig den lieben Gott und schließlich ist alles aufgelöst und nun auch für den ahnungsvollen, gleichfalls ahnungslosen Leser glasklar.

So schrieb Agatha Christie ihre Romane, hier „Der Tod auf dem Nil“. Sie sind uns nette und kurzweilige Lektüre.

Erstklassige Lektüre

In dem wunderbaren Film „Auf der anderen Seite“ von Fatih Akin drückt der Protagonist seinem Vater ein Buch in die Hand und empfiehlt es zur Lektüre. Viel später wird der alte Mann das Buch gelesen haben, mit Tränen in den Augen.

Im Abspann des Films, den Blick auf das Schwarze Meer gerichtet, wird gesagt, dass es sich bei dem Buch um „Die Tochter des Schmieds“ von Selim Özdogan handelte und Akin es dringend zur Lektüre empfehle.

Özdogan beschreibt ungefähr 30 bis 40 Jahre im Leben einer türkischen Familie. In den Mittelpunkt der Geschichte stellt er Gül, die Tochter des Schmieds Timur. In einem wundervollen Ton, der an orientalische Märchen erinnert, wird deren Leben erzählt. Alle ihre Erfahrungen, ihre Wünsche, Enttäuschungen und Ängste. Es ist ein Buch, das den Leser sofort gefangen nimmt und ihn bis zur letzten Seite festhält. Dieses wundervolle Buch gibt ihm das Gefühl, Teil dieser Menschen, dieser Familie zu sein.

Man wird eingehüllt und vom süßen Ton des Romans verzaubert.

Akin hat recht: Leute, lest dieses Buch!

Es ist eine Art türkische Buddenbrooks, es ist eine Reise zu sich selbst und der Wunsch, es möge den Menschen gut gehen auf dieser Welt.

Lest dieses Buch!

Lektüre der Sonderklasse

Wenn Orhan Pamuk mit seiner Autobiographie seiner Heimatstadt Istanbul ein Denkmal setzen wollte, dann hat er mit dem früher erschienenen Buch „Rot ist mein Name“ dieser Stadt ein ganzes Monumentenfeld errichtet. Und nicht nur das. Er hat uns „Ungläubige“ die alte Malerei seiner Vorfahren und deren Prägung aus chinesischen und persischen Quellen nähergebracht. Er erklärt uns, warum diese Malerei anders ist als unsere Malerei.

Dazu versetzt er uns mit seiner Geschichte in das 16. Jahrhundert. Wo es den aufkommenden Streit darüber gibt, ob es eine Perspektive in der Malerei und die Porträts von Menschen geben darf oder ob dies nicht Gotteslästerung darstellt. Und so zieht sich dieser Streit über fast 600 Seiten hin und ermüdet den Leser kaum. Das liegt daran, dass Pamuk diese Geschichte mit einer Art Bilderbogen unterlegt, die er beschreiben lässt und so tauchen Gegenstände und Lebewesen, die in damaligen Abbildungen die Bücher illustrierten, auf und erzählen ihre Geschichten. Eine Münze berichtet durch wie viele Hände sie gegangen ist, ein Pferd von seinen vielen Abenteuern in all den bebilderten Geschichten und die Farbe Rot (Rot ist mein Name!) erklärt uns seine Bedeutung. Es gibt eine Rahmenhandlung, die von der Fertigstellung eines Buches handelt, das nun gerade nicht mehr im orthodoxen Stil illustriert sein soll. Es gibt eine Liebesgeschichte, die ihre Entsprechungen in alten Erzählungen und Legenden findet und es gibt einen – nein zwei – Morde, die aufgeklärt sein wollen.

Das ist alles so kunstvoll ineinander verschachtelt erzählt, dass diese Erzählung dem Webmuster eines prachtvollen Teppichs gleicht. Das ist – in einer fantastischen Übersetzung – so wundervoll sprachlich komponiert, dass man nach der Lektüre dieses Romans, der ganz nebenbei hochpolitisch und aktuell gegen jedwede Form von Orthodoxie zu Felde zieht, versteht warum Orhan Pamuk den Nobelpreis für Literatur verliehen bekommen hat. Dieser Roman ist ein Werk für Fortgeschrittene und an der einen oder anderen Stelle stellt er den Lesenden auf eine Probe und verleitet ihn fast über gewisse Ausführungen hinweg zu lesen, das aber mindert nicht das Gesamterlebnis dieses so ungeheuer gescheit aufgebauten Kunstwerks.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Leichteste Kost

Eigentlich hat mir nur der allererste Roman von Michael Ridpath gefallen. Der war spannend und irgendwie neu. Weil im Börsenhandel, in der Welt der sogenannten Trader bis dato Kriminalromane nicht angesiedelt waren. Nun aber in dem x-ten Aufguss ist alles fad. Es wiederholt sich, ist nicht mal besonders spannend, sondern manchmal fast ärgerlich. Und insofern ist die deutsche Übersetzung „Absturz“ dann fast schon die kürzest mögliche Kritik. Respekt!

Ein harter Tobak

Es gibt Kriminalromane, die plätschern so dahin und haben am Ende allenfalls gut unterhalten. Dann gibt es allerdings auch andere Romane, die sind knallhart. Da werden die Leichen nur so aufgehäuft, da wird mit sehr viel krimineller Phantasie ein Tableau gemalt, das auch vor Scheußligkeiten nicht zurückschreckt.

So ist der Roman, den ich gerade beendete. Die Täter sind Opfer und die Opfer haben Schuld auf sich geladen. Alles ist dramatisch aufbereitet und sehr spannend erzählt. Eine gehörige Zeit erzählt uns der Autor zwei Geschichten, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Aber natürlich sind sie miteinander verwoben und alles wird aufgeklärt.

Der Roman heißt „Die purpurnen Flüsse“ und sein Autor ist Jean-Christophe Grangé.

Eine Novelle feinster Art

Ein hoher Ministerialbeamter erhält einen Brief einer Frau, mit der er vor vielen Jahren eine Affäre hatte. Seine Ehefrau weiß von dem Erhalt des Briefes, ist eifersüchtig und stellt fest, dass ihre Eifersucht ungerechtfertigt war, nachdem sie den Brief gelesen hat. Dass dies ein falscher Schluss ist, weiß nur ihr Ehemann. Die Geschichte spielt in Österreich des Jahres 1936. Noch haben die Nazis das Land nicht annektiert; der Antisemitismus zeigt aber bereits seine hässliche Fratze. Alles fließt in dieser Geschichte ineinander. Und wie dies auf den knapp 100 Seiten geschieht, ist meisterlich. Kein Wort zuviel. Jeder Satz sitzt. Ob eine Sitzung einer Amtsleitung eines Ministeriums beschrieben wird, ob der innere Dialog des Beamten mit seinen imaginären Richtern oder das Treffen mit seiner Ex-Geliebten dargestellt wird, immer ist die Darstellung dicht und plastisch. Leicht ironisch im Ton, spielerisch in den Beschreibungen und so wundervoll hintergründig.

Diese Novelle ist ein Schatz.

Schön, dass die Süddeutsche Zeitung in ihrer Bibliothek ihn gehoben hat. Und Hut ab vor dem Autor dieser Novelle „Eine blassblaue Frauenschrift“: Franz Werfel!

Ein griechischer Krimi

Zwei Morde scheinen nichts miteinander zu schaffen zu haben. Sie sind dennoch stark verwoben. Der Kommissar Charitos, eine Mischung von Brunetti und Maigret, tappt am Anfang im Dunkeln und hat mehr mit seiner Gesundheit und seiner Familie zu tun als mit der Aufklärung der Fälle. „Nachtfalter“ heißt der Roman von Petros Markaris, der an unserem europäischen Nachbarn und seinen Politikern nicht viel Gutes lässt.

Der Roman ist mit hohem Vergnügen zu lesen und man merkt, wie langsam das Tempo anzieht und die Fälle einer Lösung zuströmen. Das ist alles sehr gefällig und höchst unterhaltsam.

Und der Schluss hat es dann in sich, wird hier aber nicht verraten.

Selber lesen macht schlau!

Ein betulicher Kriminalroman

Im Untertitel des Romans „Der Fall Deruga“ der Ricarda Huch heißt es „Kriminalroman“.

Nun ja, auch Fontanes „Untern Birnbaum“ könnte man so nennen und eigentlich mit deutlich größerem Recht als diese Geschichte des Arztes Deruga, der seine krebskranke Frau auf ihr Verlangen tötet. Der Mann nimmt den Prozess gelassen hin und würde sich auch verurteilen lassen. Dem Mann ist das alles ziemlich egal. Und eigentlich einzig lesenswert sind die Charakterisierungen einzelner Figuren dieses Romans.

Sonst aber herrscht Langeweile. Gähnende Langeweile. Nein, diesen Roman muss man nicht gelesen haben.

Abiturtreffen

Franz Werfel hat sich einen Abituriententag ausgedacht und das Treffen wäre alles nicht sonderlich spektakulär, wenn da nicht einer der ehemaligen Schüler, der inzwischen Untersuchungsrichter ist, einen ehemaligen Mitschüler vor sich wähnt, dem ein Prostituiertenmord vorgeworfen wird.

Der Richter erinnert sich an seine Schulzeit, an eine Zeit, die die Weichen für das Leben der Mitschüler und für sein eigenes Leben stellte. Es stellt sich heraus, dass der ehrenwerte Richter, gar nicht so ehrenwert war und das manches am seidenen Faden hängt.

So ist das Leben.

Und dann ist es unerheblich, als sich herausstellt, dass es sich bei dem Verdächtigen gar nicht um seinen früheren Mitschüler handelt. Es ist für den Herrn Richter zu einer Lebensbeichte gekommen, er hat ganz gegen seine Absicht über sich selbst zu Gericht gesessen.

Ein schöner Roman, eine gelungene Geschichte, eine wundervolle Sprache.

Ein wahrlich großer Autor!

Buße

Ein kleines Mädchen schätzt die Situation ihrer Umgebung völlig falsch ein. Der Freund des Hauses und ihrer älteren Schwester – wie sich erst noch herausstellen wird – soll die junge Cousine vergewaltigt haben. Das Mädchen ist sich seiner Sache sicher.

Der junge Mann wird verurteilt und nur deshalb früher aus der Haft entlassen, weil England sich im Krieg befindet. Das kleine Mädchen, schon in frühen Jahren davon überzeugt, Schriftstellerin zu werden, realisiert erst später, dass sie einen Fehler begangen hat, dass sie das Glück ihrer Schwester verhindert hat und dass wahrscheinlich der junge Mann gefallen ist.

Die Geschichte ist noch ein wenig komplizierter dargestellt, als ich es jetzt erzählt habe, sie ist in jedem Fall brillant konstruiert. Sie enthält eine intensive Schilderung der Schrecklichkeiten des Krieges, sie zeigt so sehr eindringlich, wie ein Ereignis, ein Leben oder das Leben mehrerer Menschen grundlegend verändern kann. Das ist die Spezialität des Autor Ian McEwan, das ist die Geschichte des Romans „Abbitte“, die allerdings nicht immer angemessen übersetzt wurde.

Meisterhafte Erzählung

Ein schmales Bändchen nur.

Kaum 100 Seiten oder etwas mehr, wenn der Druck etwas komfortabler für die ermüdeten Augen gestaltet ist. Aber was macht es, dass es nur so wenige Seiten sind.

Der Inhalt ist es, der zählt.

In der Kleist Biographie von Joachim Maass lese ich nach, dass es möglicherweise ein Zusammentreffen zwischen der Günderode und Kleist in Wiesbaden gegeben haben könnte. Dort suchte er Heilung und Erholung, er war am Ende. Und dies mit seinen 27 Jahren.

Und dann liest man Sätze wie: „Welch ein Trost, dass man nicht leben muss. Es ist eine Sehnsucht in mir, mein Leben in einer bleibenden Form auszusprechen.

Und dann wird es ganz still, nur für einen kurzen Augenblick und man weiß: Jetzt ist Engel durchs Zimmer gegangen.“

Und so geht das fort. Ein Satz schöner und wahrer als der andere: „Immer ist es Leidenschaft, wenn wir tun, was wir nicht wollen.“

Und Kleist fragt sich: „Wozu Ideen in die Welt gesetzt würden, wenn nicht zum Zwecke ihrer Verwirklichung.“

Ich brauchte länger zum Lesen dieser wenigen Seiten als ich dachte, weil ich immer wieder über das gerade Gelesene nachdenken wollte.

Es ist eine zeitlose Geschichte, man könnte sie selbst erleben, weil man solche Gespräche vielleicht schon in Ansätzen auf Partys mithören konnte, nur nicht in der gedanklichen Tiefe.

Und dann sind da zwei Menschen, die sich ein wenig näherkommen, aber nur ganz wenig.

Weil sie beide denken, dass es ein unliebbares Leben sei, was sie haben. Und kein Ort. Nirgends!

Ich bin froh, diese Erzählung (von Christa Wolf) für mich entdeckt zu haben.

Gestern in Italien

Der italienische Arzt und Künstler Carlo Levi wird von den Faschisten 1935 nach Süditalien verbannt. In eine Gegend, in der noch die Malaria die Menschen bedroht und in der die Bauern dumpf vor sich hinvegetieren. Ihnen ist die Politik egal und die Religion auch.

Sie sind abgestumpft, haben den Glauben an ein lebenswertes Leben verloren. Rom ist weit, egal ob man die Faschisten oder den Papst meint. In diese Gegend als kultivierter Intellektueller festgesetzt zu werden, muss ein schlimmes Los sein. Levi berichtet nüchtern über seine Erlebnisse, er erzählt kühl von den Menschen, seinen Bemühungen, sich in das Leben der Menschen einzufühlen. Von seinen Erfolgen, Menschen zu retten und den Grenzen eines Arztes in einer Gegend, in die Christus offensichtlich nicht gekommen ist.

Dieser Text ist kein Roman, keine Biographie, sondern der Bericht eines Verbannten aus der Hölle. Mitten in Europa, nur wenige Jahrzehnte von heute entfernt. Das Buch nimmt den Leser in Beschlag, es lässt ihn nicht los. Der ruhige Erzählfluss schafft ein Klima der stetigen Anteilnahme.

So war dann Jahrzehnte später auch der wundervolle Film.

Nun muss man nur noch heute einmal nach Matera, Grassano und Gagliano aufbrechen. Aber das ist dann eine andere Geschichte.

Hier und jetzt möchte ich „Christus kam nur bis Eboli“ empfehlen.

Lesen, bitte lesen!

Der Schuss

Ausnahmsweise beginne ich mit dem Klappentext des Romans „Der Tag X“ von Philip Kerr. Nicht, dass mir später jemand vorwirft, ich hätte etwas verraten, was die Lektüre des Kriminalromans überflüssig machen würde. Ich werde auch nichts vom Schluss verraten –großes Ehrenwort!

„Amerika 1960. Der Profikiller Tom Jefferson wird von der Mafia auf Fidel Castro angesetzt. Doch dann läuft die Sache völlig aus dem Ruder. Jefferson erhält ein Tonband, auf dem zu hören ist, wie sich seine Frau mit John F. Kennedy im Bett vergnügt. Kurz darauf ist sie tot – und Jefferson mit dem Geld der Mafia spurlos verschwunden.“

Das ist aber nur der Anfang einer spannenden Geschichte, die einen Teil ihrer Spannung daraus speist, dass sie mit historischen Personen bestückt ist.

Und wir alle wissen, was mit Kennedy passierte. Wir haben alle im Kopf, dass Kennedy einem Komplott zum Opfer fiel. Bis heute wissen wir nicht, wer dahintersteckte. Die Kubaner, die Exilkubaner, die Mafia, CIA oder alle zusammen. Ein Einzeltäter oder eben eine Organisation.

Warum ich mich hier über den Mordanschlag auf Kennedy beschäftige, verrate ich nicht. Ich verrate aber, dass der Killer Jefferson als gebildeter und sensibler Mann gezeichnet wird und nicht als dumpfe, abgestumpfte Tötungsmaschine. Der Mann ist einem beinahe sympathisch und man möchte nicht, dass die Mafia ihn schnappt und nicht andere. Aber das alles wird nicht verraten; das muss man lesen.

Ein etwas anderer Kriminalroman

Auf einem abgelegenen Hof wird ein Kapitalverbrechen verübt. Jemand recherchiert und das Leben und Treiben auf dem Hof wird ins Licht gerückt. Alles in dieser dumpfen Atmosphäre der frühen Nachkriegsjahre. Der Mörder ist fast nebensächlich, es geht um das Leben auf dem Lande, um die verdammte Bigotterie der Menschen, um Sein und Schein.

Das dies alles auf nur wenig mehr als 100 Seiten erzählt wird ist das wirkliche Wunder. Tannöd heißt das kleine Werk und Andrea Maria Schenkel hat es geschrieben.

Von Narren, Drachen und anderen seltsamen Menschen

Man stelle sich vor, man erlebt einen Sommernachtstraum, nicht den von Master Shakespeare, aber einen anderen, nicht weniger genialen und verrückten Traum. Kobolde kommen darin vor und Hunde und Katzen. Alle haben ihre Geschichten, alle werden sie von einem Geschichtenerzähler erzählt. Der hat einen großen Atem, wandelt durch die Geschichte und hält alle Fäden in seiner Hand. Natürlich auch die von dem erfolgreichen jungen Schriftsteller Stephen George, den man so trefflich St. George abkürzen kann und dann fehlt nur noch der Drache, gegen den der heilige Georg kämpfen muss. Das Böse hat keine Chance, auch wenn viele Tote den Wegesrand dieser Erzählung säumen.

Natürlich handelt der Roman von der Liebe, was denn sonst.

Sie hält alles zusammen und gibt uns die Kraft, Drachen zu besiegen. Und wenn man den Geschichtenerzähler selbst fragt, was denn eigentlich seine Geschichte nun sei, dann antwortet er: „Meine Geschichte handelt von einem Narren auf einem Hügel, einem Narren, der den Wind in seine Gewalt gebracht hat, einem Narren, der seinem Onkel widerspruchslos abgenommen hat, Künstler seien – Götter ausgenommen – die einzigen Wesen, die imstande sind, Unsterblichkeit zu verleihen. Was eine ziemlich gefährliche Einstellung ist, gleichgültig, ob du nun griechischer Heide, Christ oder Jude bist.“

Der Roman von Matt Ruff ist ein Geschichtenbündel für Tütenraucher und Abstinente, Verliebte, Verlassene, Hoffende und Hoffnungslose. Ein Roman für jeden Narren, auf jedem Hügel dieses Planeten. Und für Hunde die den Himmel suchen sowieso.

Warum habe ich jetzt nur den Eindruck, dass mir ein Kobold über die Schulter linst und grinst?

Matt Ruff: Fool on the Hill!

Erlesene Lektüre

Ein Wohnhaus in München. Seine Bewohner stehen im Mittelpunkt des Romans „Und keiner weint mir nach“ von Siegfried Sommer.

Vor allem von den Kindern ist die Rede. Die bleiben natürlich nicht immer klein, sie wachsen heran und wir begleiten sie. Vor allem den Leo Knie und die Marilli, ein junges, wohl wunderschönes Geschöpf. Siegfried Sommer blättert vor uns im Buch des Lebens. Er hat dafür wundervolle Metaphern parat:

„Sie hatte ihn so lieb und ihr Gefühl war fast chemisch rein.“ „Sein Husten klang wie Knöchelklopfen an einem gesprungenen Tongeschirr.“ „Weil aber die Endsumme von Schönheit, Intellekt, Charme, Erfolg, Glück, Empfinden, Kraft, Krankheit und der zwei Dutzend Faktoren, die das Leben bestimmen, bei allen Menschen annähernd immer dieselbe ist, war Viviani gescheiter als schön.“

So geht es weiter. Und die Kinder werden aus der Schule entlassen von ihrem Lehrer mit einer sehr klugen Rede, die keiner der jungen Menschen verstehen kann. So tritt die Liebe in das Leben der Kids, man muss nun einen Beruf erlernen, man hat Glück oder Pech mit der Lehrstelle, man trennt sich auch, weil das Leben die Menschen an verschiedene Strände spült.

„Der Mensch aber ist fast immer so, dass er nur einen Lehrmeister anerkennt, die Erfahrung. Die Erfahrung aber verlangt für ihre Lehren einen glatten Preis. Alles, was ihr dann durch Erfahrung lernt, müsst ihr mit euren Idealen oder sogar mit eurem Körper selbst bezahlen. Die Erfahrung gibt euch dabei keinen Rabatt, die ist hart und gnadenlos. Darum hört auf die, die es gut mit euch meinen. Durch ihren Rat könnt ihr euch vieles ersparen.“

Die gutgemeinten Lehrerworte verhallen. Leo schluckt zu viele Schlaftabletten und die Marilli will Kohlen aus dem Keller holen und ….

Dieses Buch, 1954 geschrieben, ist modern konzipiert. Es ist eine Aneinanderreihung von Bildern, als Film würden wir ihn in das Episodengenre einreihen.

Als Leo zum Selbstmord entschlossen ist, da malt er auf die feuchte Fensterscheibe den Satz: „Und keiner weint mir nach.“

Und Sommer kommentiert: „Und er wäre doch auch gern glücklich gewesen. Und er hätte doch so gern gelebt.“ Dieser Abschnitt endet damit, dass Leo tot ist und „die Schrift auf der Scheibe verrann rasch.“

Das ist eine wunderschöne Lektüre; dank der Süddeutschen Zeitung jetzt wohlfeil zu erhalten.

Ich wünsche diesem Roman viele Leser.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Krimi auf dem Turf

Der Brite Dick Francis, das entnehme ich dem Buchumschlag, war eine Zeit als Jockey beschäftigt. Der Mann kennt sich in diesem Milieu also aus. Und so verwundert es mich nicht, dass er offensichtlich viele seine Kriminalromane in dieser Umgebung spielen lässt. So auch diesen hier, meinen ersten von ihm: „Rufmord“.

Da erschießt sich ein Jockey und man fragt sich warum. Da werden auf rätselhafte Weise die Kollegen in die Armut und fast in den Wahnsinn getrieben. Nur der Jockey Finn lässt sich nicht so leicht verunsichern und so kommt er hinter diese nervigen Ereignisse. Er gewinnt dabei nicht nur seine Unabhängigkeit und seine Zukunft als Jockey zurück, er erobert auch noch seine große alte Liebe.

Na ja, so doll war der Roman nicht, aber man wird von der Lektüre dieses Kriminalromans angenehm unterhalten, ohne aufgeregt zu werden. Also es ist eine mögliche Lektüre am Strand, aber man soll sich nicht zu viel versprechen.

Brunetti zum Abgewöhnen

Es beginnt doch sehr spannend. Da vermutet eine Zeugin, dass in einem benachbarten Haus, ein Kind zur Welt gebracht wird und dann sehr schnell dieses Kind und die Mutter wieder verschwindet.

Da brechen die Carabinieri nachts bei einem Arzt ein und holen dessen 18 Monate alten Sohn aus dem Kinderbettchen, schlagen den sich wehrenden Vater nieder und wollen die Polizei Venedigs an dem Fall nicht beteiligen. Brunetti ermittelt, sein Kollege Vianello geht kriminellen Machenschaften von Ärzten nach, die zu viel bei der Versicherung abrechnen. Da stecken auch Apotheker mit dahinter.

Soweit einige Eindrücke.

Nun hätte man einen richtig guten Kriminalroman daraus basteln müssen. Man prangert aber den Kindeshandel an, die Moralapostel, die vor verletzenden Anrufen bei Angehörigen oder der Polizei nicht zurückschrecken, um der Moral zum Sieg zu verhelfen. Da glitzert das Familienleben des venezianischen Kommissars in den buntesten Farben. Da ist nicht einmal sein Vorgesetzter, so richtig bissig. Da ist nichts, was ich diesem Roman von Donna Leon abgewinnen könnte. Er liest sich leicht und locker, aber er hat keinen Biss, keine Substanz. Ihr 16. Roman (Lasset die Kindlein zu mir kommen), ihr schwächster!

Ich verordne der Frau eine mindestens zweijährige Schreibpause.

Virtuos

Ein Kastrat singt erfolgreich in ganz Europa. Er ist ein Star und versteht sich auch so. Für die Operation, die den Jungen eine hohe Stimme garantiert, hat der Vater eines jungen Mädchens finanziell gesorgt. Dieses junge Mädchen, trifft den Star Jahre später wieder. Sie will mit diesem Mann ins Bett, sie verliebt sich sterblich und die beiden genießen eine Opernsaison. Dann ist der Rausch vorbei.

Margriet de Moor hat diesen kleinen Roman geschrieben. Sie hat ihn in das 18. Jahrhundert verlagert, aber die Personen sprechen und handeln, wie heute lebende Menschen. Sie hat, ihrer Ausbildung geschuldet, eine hohe Sachkenntnis von Musik und breitet das vor den Lesern aus. Sie beginnt ihre Kapitel immer in der Gegenwart, um zurückzublenden und wieder nach vorn zu erzählen. Sehr virtuos, sehr schön in einem Fluss, dem man sich nicht entziehen kann. Und dann gibt es ein Kapitel, das aus diesem Rahmen fällt, da wird das Leben des Kindermädchens nacherzählt, es trägt keine Kapitelnummer, sondern die Bezeichnung „Intermezzo“. Eine wundervolle kurze Lebensgeschichte, meisterhaft erzählt. Und spätestens, wenn man dieses Intermezzo gelesen hat, wird einem klar, dass man einen kleinen literarischen Schatz in den Händen hält.

Der Roman heißt „Der Virtuose“.

Überflüssige Aufzeichnungen

Franziska Gräfin zu Reventlow ist eine bemerkenswerte Frau gewesen. Sie lebte und liebte in der Münchner Bohème. Darüber hat sie einen Schlüsselroman geschrieben. „Herrn Dames Aufzeichnungen“ werden als ein document humain bezeichnet. Wir hatten es gerade nicht kleiner.

Allein, wie häufig der Scherz bemüht wird, dass der Mann Dame heiße, was doch gar nicht gehe, ist peinlich. Und dann wird die verrückte Münchner Szene dargestellt. Im Wesentlichen während des Faschings. Man tut eigentlich nichts, außer sich von einem Fest zum nächsten zu schleppen. Man schwätzt Schwachsinn und hält sich für die Avantgarde. Das ist das Einzige, was an diesem Roman gelungen ist. Man ist völlig desillusioniert und weiß nun, warum solche Kreise selten zu großen Leistungen und die Gesellschaft beeinflussenden Handlungen fähig sind.

Nun lasse ich Autorin sprechen. Dames Aufzeichnungen sollten dem Mann als Grundlage eines Romans dienen (das ist ein netter Gedanke!), jedoch: „Da liegt nun die Schwierigkeit, über deren Lösung ich mir noch nicht klar bin: kann ich dem Leser, der vielleicht nur persönliche Erlebnisse und Schicksale erwartet oder wünscht, zumuten, sich mit mir in diese seltsame und umfangreiche Gedankenwelt zu vertiefen? Ich denke eigentlich: ja; und wer nicht dazu gewillt ist, der möge das Buch ruhig aus der Hand legen oder es mit einem anderen vertauschen. Denn es wird ihm sonst, ebenso wie mir, nicht möglich sein, die Menschen und Begebenheiten in diesem außerordentlichen Stadtteil richtig zu verstehen.“

Und später dann das Urteil, dem ich mich nur anschließen kann: „Mein Roman – ich fürchte, er wird nie geschrieben werden. Es bedürfte wohl einer geübteren Hand als der meinen, um aus dem, was ich hier erlebte und erleben sah, eine nur halbwegs zusammenhängende Handlung zu gestalten. Und selbst, wenn ich es könnte – es kommt mir vor, als ob der Leser sich um den Höhepunkt der Handlung, den er doch mit gutem Recht erwartet, betrogen fühlen würde. Denn eben dieser Höhepunkt ist nie gekommen – es war alles schon vorher zu Ende.

Der Höhepunkt würde fehlen, und die letzten Kapitel würden ihn schmerzlich anmuten. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich sie überstehen will.“

Schweigen wir nun, legen das Bändchen weg und wenden uns neuen Leseabenteuern zu.

Ein Roman, wie ein Fels

Budapest im Jahre 1990: Der Verlag, in dem der Lektor K. arbeitet soll liquidiert werden. Auf staatliche Finanzierung kann er nach der Wende auch in Ungarn nicht rechnen. Eigentlich wollte K. – und zu diesem Zwecke hat er drei Freunde zu sich bestellt – über die Nachlassverwaltung des literarischen Werkes von B. sprechen, der sich das Leben genommen hat. Nun kann er es nicht, da der Verlag liquidiert werden soll.

So hat sich das 1990 zugetragen; so liest es K. immer wieder (auch 1999, in dem Jahr in dem der Roman von Imre Kertész spielt) in einem Theaterstück von B., ohne dass B. wissen konnte, was sich bei den Unterhaltungen der Freunde zugetragen hat, schließlich war B. bereits tot!

Dem Theaterstück – es trägt den Titel „Liquidation! – muss ein Roman zugrunde liegen, den K. gern herausgeben möchte. Allein, dieser ist verschollen. Ja es ist nicht einmal klar, ob er überhaupt existierte. Wir erfahren später, dass er von B’s Ex-Gattin verbrannt wurde. Wir lesen also – vielleicht den verbrannten Roman – vielleicht das Theaterstück, wir wissen nicht mehr, was wirklich ist. Wir erfahren, dass B. in Auschwitz geboren wurde und überlebte. Dass B. aber an Auschwitz zerbrochen ist. Er hat die Welt sich nur als eine Welt voller Mörder vorstellen können. Keine Freude mehr, alles liquidiert seit Auschwitz.

Was ist das für ein sprachgewaltiges und zugleich so eindringliches Werk des Nobelpreisträgers. Selten, allerdings hier sehr wohl, passt die Beschreibung vielschichtig.

Wie kann man nach Auschwitz weiterleben? Wie können es jene, die die Greuel überlebt haben, wie der Autor? Wie können es die Nachfahren der Täter, wie der Schreiber dieser Zeilen?

Die Frage stellen, wirft die vielen Schichten ihrer möglichen Antworten auf. Nicht mehr leben, in einem permanenten Auschwitz leben können, es negieren, verdrängen, vergessen.

Judit, die frühere Frau von B. fährt nach Auschwitz, um ein Gefühl für die Seelenlage ihres Ex – Gatten zu bekommen. Sie besucht es mit Kollegen eines Dermatologenkongresses. Am Abend zurück im Hotel stellt ein Kollege fest, dass seine Brieftasche fehlt. Ja, bestätigt der Hotelportier, die Taschendiebe machen sich die Betroffenheit der Besucher des KZ zunutze. Diese simple Beschreibung sagt so viel mehr über unsere Welt als viele Abhandlungen über Auschwitz.

Dieser Roman ist ein sprachliches, philosophisches und humanitäres Meisterwerk.

Ein heißer Sommer

„Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie das wäre, eine Welt, in der niemand gequält würde. Ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht.“

Das Zitat stammt aus dem ersten Roman von Uwe Timm und erläutert den Titel dieses Romans. Natürlich ist es die Geschichte der Jahre 1967 und 1968, wie sich alles entwickelte. Die RAF und die Grünen. Die neuen Liberalen und die alten Nazis.

Es ist eine sehr persönliche Geschichte des Germanistikstudenten Ullrich, der von München nach Hamburg und wieder zurück nach München wechselt. Es ist die Geschichte von „wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. Es ist die Auseinandersetzung mit den Eltern, die Kriegsgeneration waren, die vielleicht Mitläufer oder Aktive der Nazipartei waren. Es ist ein Stück deutsche Geschichte. Zugegebenermaßen der bundesdeutschen Geschichte. Mir kamen die Beschreibungen von Diskussionen in der Universität so bekannt vor, obwohl ich erst einige Jahre später dorthin kam.

Ich habe diesen Roman gern und mit Freude gelesen. Er sollte vielen jüngeren Menschen in die Hände gelegt werden, weil sie vielleicht verstehen lernen, wieso ihre Eltern so sind, wie sie sind. Ich werde den Roman jedenfalls meinen Söhnen empfehlen.

Ein surrealer Roman

Im Jahre 1985 in Berlin spukt es, gehen Geister um. Alle die von den Nazis ermordeten Menschen leben ebenso im Totenreich weiter, wie deren Mörder. Und die jüdischen Mitbürger haben sich ihre Villen wieder aufbauen lassen, sofern diese vom Krieg zerstört worden waren. Max Liebermann wohnt und arbeitet neben dem Brandenburger Tor und besucht die Abende seiner Gastgeberin Frau Altenschul. Eines Tages taucht bei einer Soiree Lewanski auf, der mit 28 Jahren von den Nazis erschossene Pianist. Der Mann hätte jede Menge Zukunft haben können, wenn er nicht ermordet worden wäre. Nun soll er sein Leben im Tod nachholen. Er soll wieder Konzerte geben, sich den letzten Sonaten Beethovens zuwenden, die man, nach Aussage eines anderen Toten nur spielen könne, wenn man über eine notwendige Lebenserfahrung verfügt. Diese kann ein Toter aber naturgemäß nicht mehr nachholen, oder doch? Und dann sind da die Nazischergen, die um Verzeihung buhlen und die auch ein Konzert erleben möchten, im Führerbunker, während in der alten Philharmonie die anderen auf das Konzert Lewanskis warten. Wie wird er sich entscheiden, wo wird er auftreten?

Surreal diese Novelle, die fast die letzten Fragen der Menschheit berührt. Kann man einen Mord vergeben? Könnte der Ermordete, sofern er dazu in der Lage wäre, dem Täter die Hand reichen und sagen, dass es nicht so tragisch war?

Eine surreale Lektüre, diese Novelle von Hartmut Lange. Keine „Gute Nacht Geschichte“!

Eine unwichtige Erzählung

Eine kleine Erzählung, sie handelt von einer Frau, die den Selbstmord eines ihr anvertrauten Mädchens billigend in Kauf nimmt, um ihr fragiles Familienleben, nicht zu ruinieren. Das Mädchen hatte ein Verhältnis mit dem Ehemann der Frau. Er ist ein Mann, der gewohnheitsgemäß Verhältnisse hat und diese dann auch wieder schnell beendet. Vielleicht war die junge Frau sogar schwanger, vielleicht hatte sie bereits davon geträumt, die neue Frau an seiner Seite zu werden. Der Mann wollte jedoch nur den kurzen Spaß, hat bereits eine neue Geliebte und ist gänzlich ohne Selbstzweifel oder Schuldgefühle.

Für ihn hat das Mädchen einen Unfall erlitten. Seine Ehefrau kommt nicht so einfach über den Tod des Mädchens hinweg. Sie wird leiden (und glauben, dass sie geholfen habe, Stella getötet zu haben).

Eine kleine, gescheite Erzählung, aber nichts Aufregendes und wirklich Wichtiges.

Ein Hotelroman von guter Qualität

Am Ende des Romans denkt der Volontär Georgi: „Großartiger Betrieb in so einem großen Hotel, kolossaler Betrieb. Immer ist was los. Einer wird verhaftet, einer geht tot, einer reist ab, einer kommt. Den einen tragen sie per Bahre über die Hintertreppe davon, und zugleich wird dem anderen ein Kind geboren. Hochinteressant eigentlich. Aber so ist das Leben“.

Ja, so ist das Leben.

Dieser Hotelbetrieb im Berlin der späten 20er Jahre steht für das Leben. Da ist einer, der möchte es endlich kennenlernen und da ist ein anderer, der möchte es hinter sich bringen, hat aber nicht die nötige Courage dafür. Jemand will sich das Leben nehmen, lernt aber die große Liebe in diesem Moment kennen. Der eine ist Dieb und zu ehrlich, um zu stehlen, der andere will so viel Leben in sich aufsaugen, wie ein ausgetrockneter Schwamm. Die alternde Primaballerina, der todkranke Buchhalter, der Provinzdirektor, der geldlose Baron, der morphiumsüchtige Arzt. Das sind die prallen Figuren in einem prallen Roman.

Da gibt es wundervolle Sätze über den Sinn des Lebens, über die Liebe und den Tod. Da gibt es bezaubernde Bilder von dem gerade wiedererwachenden Hotelbetrieb am frühen Morgen. Da wird ein Berlinbild gezeichnet, das mehr über diese Stadt verrät, als viele andere Romane, dies zu tun versuchten.

Mit einem Satz: Ein prachtvoller Roman! (Vicki Baum; Menschen im Hotel)

Ein Kriminalroman, der in Venedig spielt

Venedig kann sehr kalt sein im November. Insbesondere wenn man sich vor den Verfolgungen seines Schwiegervaters in Sicherheit bringen muss. Der glaubt, man sei schuld am Selbstmord der einzigen Tochter.

Stellt man sich dann tot, kann man vom Verfolgten zum Verfolger mutieren. Das gelingt in dieser wundervollen Stadt. Und so richtig vorstellen kann man sich das Katze und Maus Spiel auch nur dann, wenn man diese Königin des Mittelmeeres aus eigener Anschauung kennt und durchwandert hat. Sonst kann man diesem Roman nicht viel abgewinnen. Wirklich spannend ist er nicht und abgeschlossen ist die Handlung leider auch nicht.

Verwirrungen

Den Roman von Robert Musil „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ habe ich vor vielen, vielen Jahren schon einmal zu lesen begonnen und dann aus der Hand gelegt.

Zu psychologisierend kam er mir daher. Wenn jemand – ich übertreibe jetzt bewusst – jede Handbewegung seiner Figuren meint, erklären zu müssen, dann entwickelt sich nur wenig Handlung, dann stockt das alles, es entsteht kein Fluss. So ist das beim Mann ohne Eigenschaften auch gewesen. Und wer den Atem des Marathonläufers besitzt, jenen Roman durchlaufen zu haben, dem machen die wenigen Seiten des Törleß kein Verdruss.

Allein, einen wirklichen Genuss spenden sie auch nicht. Zu fern, zu wenig mich berührend, entwickelt sich diese schwüle Internatsgeschichte, mit aufgesetzten Erklärungsversuchen, mit wenig ausgearbeiteten Personen und am Ende war ich froh, dass es vorbei war. Offenbar ist aus Törleß ja etwas geworden, leider weiß man nichts darüber, was aus Basini wurde und nur ahnen kann man, dass Reiting und Beineberg ihr Werk nach Untergang der KuK – Zeit fortsetzen konnten.

Nachgerade an den Haaren herbeigezogen erscheint mir jener Satz aus dem Klappentext: „Eine scharfsichtig genaue, glasklare Interpretation jugendlichen Wachstums, die zugleich das Bild kommender Diktatur und der Vergewaltigung des Einzelnen durch das System visionär vorzeichnet.“

Ja, Musil beschreibt das Phänomen, wie sich eine Masse gegen den einzelnen Menschen hochschaukelt. Hier die Klasse gegen den schwachen Basini. Aber das ist noch nicht visionär, sondern lediglich gut beschrieben, weil gut beobachtet. Alles andere ist eine überhöhte, nicht belegbare Interpretation.

Meisterhaft geschrieben, lässt mich der Roman dennoch kalt und unberührt.

Kurze Erzählung, Ratlosigkeit nach sich ziehend

Die kurze Erzählung von Fjodor Dostojewskij „Die Sanfte“ hat mich völlig ratlos zurückgelassen.

Ein Mann erzählt die Geschichte seiner Ehe. Neben ihm aufgebahrt der Leichnam seiner jungen Frau, die sich aus dem Fenster stürzte. Just zu dem Zeitpunkt als der Ehemann ihr seine wahnsinnige Liebe gestand.

Warum tat sie das? Warum benahm er sich so? Wieso haben die beiden nicht über ihre Gefühle gesprochen? Was – und das ist meine Kernfrage, auf die ich keine Antwort finden konnte – will mir der Autor mit dieser Geschichte erzählen; was ist seine Botschaft?

Suite française

Man stelle sich vor, wie das ist, wenn ein Land von feindlichen Soldaten erobert wird. Wie die Bevölkerung zu fliehen versucht, die wichtigen Dinge, das Hab und Gut mit sich führend, um dem Feind zu entkommen.

Man stelle sich weiterhin vor, dass das Land von den feindlichen Soldaten besetzt wurde und nun alle gezwungen sind, miteinander auszukommen.

Auf der Flucht lernt man das wahre Gesicht seiner Mitmenschen kennen, ob sie egoistisch handeln oder andere neben sich leben lassen. Da raubt man Benzin, da glaubt man, etwas Besonderes zu sein oder erwartet Privilegien. Da verlieren Kinder ihre Unschuld und Verhältnisse klären sich.

In der Besatzungszeit kommen sich Besatzer und Besetzte näher; lernen, dass sie alle nur Menschen sind, alle nur leben wollen, alle die Liebe erleben und genießen wollen.

Das alles beschreibt Irène Némirovsky auf so eindringliche Weise, dass es süchtig macht. Ich lese von den verschiedenen Schicksalen, es gibt Tote, es gibt viele an der Seele Verletzte, aber es gibt auch die Liebe, sie erscheint als eine Konstante in unserer „Lebensgleichung“.

Der Roman „Suite française“ ist Fragment geblieben, weil die Autorin von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. Ich hätte gern gelesen, wie dieser Roman weiterentwickelt worden wäre. Der Fragmentcharakter ist das einzige Minus dieses Werkes. Manche Stränge verlieren sich, manche Personen werden nicht mehr erwähnt. Sicherlich würden diese Personen wieder auftauchen, wäre dieser Roman weitergeschrieben worden.

Dieses Fragment ist aber auch so mehr als viele scheinbar abgeschlossene „Werke“.

Ein Meisterwerk!

Ein Maigret Roman

In dem Roman „Maigret und die junge Tote“ beschreibt Georges Simenon wie seine Hauptfigur arbeitet.

Er denkt sich in das Opfer, lernt es kennen, obwohl es doch schon tot ist. So fallen ihm Widersprüche bei Aussagen auf, so erkennt er Zusammenhänge, die andere nicht oder nicht so schnell sehen können. In diesem Roman wird auch noch das Schicksal eines fleißigen aber eben nicht genialen Polizisten erzählt. Der arme Mann rackert sich ab, aber wie in der Fabel vom Hasen und Igel, kommt er immer zu spät ins Ziel.

Der Roman ist nicht so spannend, aber gut geschrieben und hebt sich damit von so vielen anderen Kriminalromanen ab.

Der Himmel über uns

Ich verfahre seit vielen Jahren beim Lesen nach dem Motto: “Reading without a pencil is like daydreaming”. Das führt dazu, dass ich in vielen von mir gelesenen Büchern Anmerkungen finde und vor allem viel unterstrichene Sätze oder Absätze.

Im Falle der Erzählung von Christa Wolf “Der geteilte Himmel” hätte ich am liebsten das gesamte Werk unterstrichen, ich mache kein Hehl daraus, dass mich dieses Buch ungemein beeindruckt hat.

Da ist der Inhalt: Ein junges Mädchen erleidet eine schwere Krise, nachdem sich der Geliebte in den Westen abgesetzt hat. Sie bleibt – kurz vor dem Bau der Mauer – aus freien Stücken zurück in der DDR.

Da ist die Erzählform: Frau Wolf springt in den Zeitebenen munter hin und her. Sie arbeitet mit Rückblenden, schaut nach vorn, springt in den Rückblenden von einer Ebene auf eine andere, aber niemals verlässt sie den Leser. Immer weiß der, wo man gerade ist.

Der Stil: Diese Erzählung besteht aus so wunderbaren tiefen Wahrheiten, präzisen Beobachtungen und genauen Schilderungen von Gefühlen und Stimmungen, dass ich mittendrin in der Erzählung bin. Ich werde hineingezogen in sie, kann mich gegen diesen Sog nicht wehren, will es auch gar nicht.

Und das vielleicht verblüffendste an dieser mitreißenden Erzählung ist, dass ich als „Wessi“ keinerlei Probleme habe zu verstehen, worum es den Menschen in dieser Erzählung geht. Es war nicht meine Welt, aber die Erzählung benötigt kein Glossar, um zu erklären, was da beschrieben wird. Diese Erzählung handelt von der Liebe, der einzigen Universalsprache auf unserem Planeten, sie handelt von dem Sinn unseres Daseins. Sie ist ein Edelstein der deutschen Literatur und ihre Autorin verdiente dafür den Literaturnobelpreis.

Joseph Versuch

Dies ist das Eingeständnis eines grandiosen Scheiterns. Ich hatte wohlweißlich die Lektüre dieses Romans an das Ende meiner Urlaubslektüre gestellt. Ich wollte verhindern, dass ich ausweichen könnte und zunächst einen anderen Roman in die Hand nähme. Alles andere war nun gelesen und Mann lag vor mir. In der brütenden türkischen Mittelmeersonne tat ich mich, so dachte ich, leicht in die Beschreibungen der Landschaften des alten Israel und Ägypten einzufinden.

An Zisternen waren wir vorübergewandert, da konnte ich Joseph hinsetzen in Gedanken und den Mond nahezu unbekleidet betrachten lassen. Das missfiel nicht nur seinem Vater Jakob, sondern auch mir. Weil hier die Knabenliebe des Autors schon durchschimmerte und ich mich fragte, warum hat dieser große Schriftsteller nie den Mut gehabt, sich offen zu seinen sexuellen Neigungen zu bekennen, warum musste er sie in so vielen länglichen Texten sublimieren?

Und schon der Anfang, die Höllenfahrt. Ein Essay über Gott und die Welt. Einen Einstieg in einen Roman derartig hochtrabend anzulegen, zeugt von einer gewissen Hypertrophie oder aber von gänzlichem Unverstand, was einem Leser zugemutet werden sollte und was nicht. Ich habe gut ein Viertel dieses ersten Teils der Joseph Tetralogie gelesen, dann aber mir gesagt, dass ich mir die Lektüre nicht weiter antun will.

Glücklicherweise hatte meine Freundin noch einige Bücher dabei, die ich nicht kannte und die ich nun mit viel Vergnügen las. (Joseph und seine Brüder; Thomas Mann)

Über Vater Himmler

Die Geschichte kommt sehr harmlos daher. Der Schulleiter besucht eine Unterrichtstunde. Griechisch steht auf dem Stundenplan. Ein Junge erzählt von diesem Besuch, er ist das alter ego des Dichters Alfred Andersch. Er berichtet von sich selbst und von seiner Relegation von einem Münchner Gymnasium. Was so harmlos beginnt, entwickelt sich nicht nur für den Schüler Franz Kein, sondern auch für einen Klassenkameraden zu einem Desaster.

Der Schuldirektor scheint das alles geplant zu haben, er führt nicht nur den jungen Griechischlehrer vor, sondern er ist auch entschlossen, die beiden Schüler hinauszuwerfen. Der Direktor geht planvoll vor, er ist ein gefährlicher Mann, er ist ein gnadenloser Mann. Er ist der Vater eines Mörders, beziehungsweise er wird dies werden. Denn er heißt Himmler. Diese Erzählung sagt mehr über das Elternhaus des Massenmörders aus, als mögliche Biographien dies zu tun vermögen – womit ich nichts gegen Biographien gesagt haben will.

Der Drachenläufer

Den Mann holt seine Vergangenheit ein. Als Kind hat er Schuld auf sich geladen. Nun kann er die Schuld abtragen. In Afghanistan war er seit seiner Kindheit nicht mehr. Das Leben ist ein anderes geworden. Er hat sich verändert. Er ist Amerikaner, verheiratet und als Autor beginnt er erfolgreich zu werden. Der Vater wäre stolz auf ihn. Aber dann bin ich schon in der Geschichte, die ich nicht nacherzählen darf, weil dann alle schon zu viel wüssten über den Inhalt der Erzählung.

Wahrscheinlich hat der Autor einen Kreativschreibkurs besucht, er spielt mit diesen Lehren, er hält sich nicht immer an sie. Und das ist gut so.

Khaled Hosseini ist ein wundervoller Roman gelungen. Wen diese Geschichte nicht mitreißt, kann ich nicht helfen. Natürlich ist manches zu glatt, aber nie so ganz. Und der Schluss bleibt vage, das ist – vielleicht ja auch eine Lektion des kreativen Schreibens – überraschend und gut.

Dieser Roman (The Kite Runner), ich habe die englische Version gelesen, gehört in die Hand aller Leserinnen und Leser. Mehr davon!

Eine köstliche Lektüre

Man kennt das ja: Da heiratet ein Mann zum zweiten Mal und dann hat die neue Ehefrau große Probleme mit den Kindern aus erster Ehe. Umso glücklicher ist Doña Lukrezia, dass ihr Stiefsöhnchen sie liebt. Ja, er schreibt ihr dies zu ihrem Geburtstag. Das Kind ist ganz vernarrt in die schöne Stiefmutter. Und die Stiefmutter geht weiter, als sie dies natürlich dürfte. Und was macht das Kind? Es schreibt den „Lob der Stiefmutter“ und trägt dieses Werk dem Vater vor.

Der kurze Roman vom fabelhaften Peruaner Mario Vargas Llosa ist ein Juwel der erotischen Literatur. Neben der oben angedeuteten Geschichte, werden die Liebesnächte des jungen Ehepaares geschildert. Und deren Phantasien, die wiederum eine eigene Erzählebene darstellen, Bildbeschreibungen sind. Die Bilder kann man in dem Buch auch betrachten und sich seine eigenen Geschichten ausdenken. So setzt sich ein geschickt komponiertes Werk zusammen, das ich ungern aus der Hand legte, weil ich wissen wollte, wie die Geschichte denn nun ausgeht.

Krimis sind anders

Tabor Süden, so ein Name könnte von Fontane stammen, ist Kommissar bei der Münchener Kripo – Abteilung Vermisste.

Süden hat Urlaub, was ihn aber nicht hindert, sich mit dem Fall von Jeremias Holzapfel (noch so ein Name!) zu beschäftigen. Der Mann kam zur Polizei, um zu erklären, dass er wieder da sei und man nicht mehr nach ihm suchen müsse.

Allein, niemand hatte ihn je vermisst gemeldet.

Süden spürt dem Mann nach und legt dessen Leben frei, wie ein Archäologe, der sich langsam in die früheren Zeitschichten vorarbeitet und sichtbar macht.

Am Ende blieb ich verstört zurück und fragte mich, ob die Lektüre mir etwas gegeben habe. Ich verneine die Frage jedenfalls soweit, dass mir nichts wirklich wichtig war, von dem, was geschildert wurde und dass bei mir hängen bleiben könnte. Nein, das war eine weitgehend überflüssige Lektüre. Schade um die geopferte Lebenszeit und das, wo es so viele herrliche Bücher zu entdecken gibt. (Friedrich Ani, Süden und der Straßenbahntrinker)

Der Tortilla – Vorhang

Zum ersten Mal habe ich einen Roman von T. C. Boyle gelesen. América heißt er in der deutschen Übersetzung. Das ist ganz pfiffig, obgleich ich persönlich die Übersetzung des Originaltitels bevorzugt hätte.

Menschen aus Mexiko kommen illegal nach Kalifornien. Längst gibt es da einen Vorhang, keinen eisernen, aber schon einen sehr gut wahrzunehmenden, den „Tortilla – Vorhang“. Um die neuen Siedlungen außerhalb von L. A. werden Mauern errichtet, man kommt in diese Welt nicht hinein, ohne ihr zuzugehören. Das ist ein Teil der Motive, die diesen Roman so lebensnah formen. Ein Film spielt sich im Kopf des Lesers ab, hier die Wohlstandsfamilie Mossbacher, dort die Mexikaner, die sich aus ihrer Heimat abgekehrt haben, weil sie auch ein wenig mehr von dem köstlichen Kuchen, der Wohlstand heißt, abbekommen wollen.

Sie, América, ist schwanger und will natürlich, dass es ihrem Kind einmal besser gehen wird. Aber dieser Roman ist kein „fühl dich einfach wohl Buch“, sondern er bildet eine Realität ab, die sehr wohl in unserer Wirklichkeit angesiedelt sein könnte. Und so bleibt das Ende offen; wie wird es weitergehen?

Es ist eine schallende Ohrfeige, die Boyle seinen amerikanischen Lesern verpasst. Und nicht nur den Amerikanern! Er sagt es an einer Stelle so direkt wie zutreffend: „Das war die amerikanische Lebensweise. Kauf etwas. Fühl dich gut.“

Aber was, wenn man nichts hat, um einzukaufen? Denn, so steht es in dem Vorspruch von John Steinbeck, die Boyle seinem grandiosen Roman voranstellt: „Es sind keine Menschen. Ein Mensch würde nicht so leben wie sie. Ein Mensch könnte es nicht aushalten, so im Dreck und im Elend zu leben.“

Einmal im Leben die Liebe erleben

Einmal im Leben ist ein amüsanter, trauriger und vor allem in einem Atemzug geschriebener Roman. Eigentlich eine Kurzgeschichte, aber eine längere.

Aber was macht das schon und wofür ist das wichtig?

Was ist schon wirklich wichtig?

Man lernt sich kennen, gewinnt sich lieb und muss sich trennen. Das ist der Lauf der Welt.

Auch in der Geschichte von Jhumpa Lahiri ist das so. Als junge Menschen lernen sie sich kennen, treffen sich wieder, als man schon mitten im Leben steht und kommt dann doch nicht zusammen.

Am Ende bleibt man als Leser traurig zurück, weil ich als Leser ein unheilbarer Romantiker bin, bin ich für das glückliche Ende.

Hier gibt es das nicht und ich muss es akzeptieren, aber einmal im Leben haben die beiden die Liebe kennengelernt. Und das kann nicht jeder Mensch auf dieser Welt von sich behaupten.

Kein Geheimnis

Das Geheimnis, das hier gelüftet wird, ist schon nach wenigen Seiten keines mehr. Die Geschichte, die ich auf Französisch las, ist sehr durchsichtig, sie ist zu konstruiert, zu bemüht, man fragt sich manchmal, warum es nicht unvorhergesehene Wendungen gibt, warum man nicht am Ende sich doch noch wundert.

Nein, diese Geschichte hat mich nicht berührt, sie ist geschrieben und ich zaudere, es zu sagen, in keiner mir erkennbaren Absicht, kein Bedürfnis der Aufarbeitung, der Reinigung von Vergangenheit.

Es ist eine überflüssige Geschichte und das ist ein Urteil, das ich äußerst selten über Geschichten fälle. (Ein Geheimnis , Roman von Philippe Grimbert)

Der Mann ohne Meinung

Man stelle sich das folgende Szenario vor. Ein angesehener Wissenschaftler darf eine Tagung gestalten. Eine Firma sponsert einen Monat lang eine Sprachwissenschaftlergruppe, jeder aus der Gruppe trägt neue Erkenntnisse seiner Forschungen vor. Man kennt sich und hat Respekt voreinander; allerdings gibt es die üblichen Rivalitäten. Der Leiter der Gruppe ist Philipp Perlmann (Perlmanns Schweigen). Er hat vor einem Jahr seine Frau verloren, er hat große Probleme, sein Leben noch zu organisieren. Er ist derjenige, der schon länger nichts mehr forscht, der ausgebrannt ist, leer. Er hat neben vielen namenhaften Kolleginnen und Kollegen auch einen unbekannten Russen eingeladen, den er in St. Petersburg kennenlernte und der zunächst keine Ausreisegenehmigung erhält. Von diesem Russen hat er ein Manuskript erhalten, das er aus Spaß und auch, um nicht einen Vortrag zu erarbeiten und ein eigenes Manuskript erstellen zu müssen, als sein Eigenes ausgibt. Perlmann rutscht in einen seelischen Abgrund. Er findet keinen Ausweg mehr, er ist zu allem bereit, Er schreckt in Gedanken nicht einmal mehr vor Mord zurück und Mord schließt auch Selbstmord ein.

Er eignet sich des Russen Arbeit an, geistiger Diebstahl nennt man so etwas. Es kommt dann doch anders, aber das verrate ich hier nicht. Was ich aber verrate ist, dass die Arbeit von der Aneignung einer privaten Zeit handelt. Perlmann hat keine Meinung mehr, sie ist ihm im akademischen Alltag abhandengekommen. Perlmann konnte keine Gegenwart mehr erleben, während sie stattfand. Ein Mann ohne Meinungen, zumindest was sein Fach anbelangte. Er wollte sich seine private Zeit (wieder) aneignen. Und dann muss man alles in ein richtiges Schema bringen. „Vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet“ sind so manche Taten eines Menschen so unendlich unwichtig. „Da gab es Milchstraßen und dahinter nochmals Milchstraßen, ohne Ende, und hier, auf diesem winzigen Fleckchen Erde, eingekerkert in ihr bedeutungsloses kleines Leben, das nach wenigen Jahrzehnten völlig vergessen sein würde”. Solche Sätze lesend, solche Gedanken nachspürend, wird man klein und es fröstelt einem. Ich empfand beim Lesen dieses Romans von dem großartigen Pascal Mercier so viele unterschiedliche Gefühle, ich war deprimiert über dieses kleine Leben, das wir alle für wenige Jahrzehnte führen. Ich war beglückt über die Genauigkeit der Beschreibung eines sinnlosen Wissenschaftsbetriebes, bei dem es im Wesentlichen darum geht, das eigene Ego zum Leuchten zu bringen. Vielleicht kann man so zu einem Mann ohne Meinung werden. Vielleicht gibt es keinen anderen Ausweg als aus dem Beruf auszubrechen, die eingetretenen Pfade zu verlassen. Vielleicht. Doch ein solcher Schritt erfordert Mut.

Ein solches Buch, in dem sehr viel Autobiographisches stecken muss, zu schreiben, erfordert auch Mut. Mir, dem Leser bleibt nur Respekt. Ganz viel Respekt vor diesem wunderbaren Autor.

Ein Roman ohne Hauptfigur

Ungewöhnliche Prosa verlangt ungewöhnliche Rezension! Also zunächst eine Tabelle mit neun Spalten für die neun Geschichten:

EblingHandynummer von Ralf Tanner, was E. aber nicht weißEbling stiftet mit seinen Telefonaten unter falschem Namen Verwirrung und mehr unter den anderen. 
Elisabeth, Ärztin, will in keine Geschichte   Plakat von Ralf Richter Frau Riedergott vom KulturinstitutLeo RichterLebenshilfebücher von Miguel Auristo BlancoFigur der Ärztin Lara Gaspard und seine berühmteste Geschichte von einer alten Frau und ihrer Reise ins Schweizer Sterbehilfezentrum
Rosalie die alte Frau aus der Geschichte von Leo RichterDünner Mann mit Hornbrille bringt Rosalie nach Zürich mit geklautem AutoSie will nicht sterben, ihr Autor lässt sie am Leben. 
Ralf TannerRalf Tanners DoubleTanner doubelt TannerTanner verliert seine Identität.
Maria Rubinstein, Krimiautorin, statt Leo Richter unterwegs in einem Nachfolgestaat der UdSSRBlancos Bücher in einem kleinen Laden in der östlichen Pampa  
Blanco, der Lebenshilfeguru wird zum Agnostiker und könnte Selbstmord begehen.   
Internetforensprache von Mollwitz, der kommentiert die Ohrfeige, die Tanner von einer Frau erhält, nachdem er sie mehrfach versetzt hatte, wofür er aber nichts konnte, weil seine Handynummer an Ebling vergeben worden war.Mollwitz, der zum Kongress für seinen Chef fährt, den Vortrag total versaut und Leo Richter volllabert. Mollwitz, der Lara Gaspard die Hauptfigur einer Erzählung Richters liebt.Mollwitz, der Blancos Bücher zur Beruhigung liest. 
Der Boss von Mollwitz, mit Hannah liiert, zwei Kinder, hat Affäre mit Luzia.   
Elisabeth bei der Arbeit für Ärzte ohne Grenzen, Leo begleitet sie.Lara ist dort und Frau Riedergott.Ist Elisabeth nun zur Figur in Leos Büchern geworden. 

Ein Roman ohne Hauptfigur! Auch das steht in diesem Roman von Kehlmann. Der Roman nennt sich Ruhm, warum bloß?

Ständig klingeln Telefone. „Die Technik hat uns in eine Welt ohne feste Orte versetzt. Man spricht aus dem Nirgendwo, man kann überall sein, und da sich nichts überprüfen lässt, ist alles, was man sich vorstellt, im Grunde auch wahr.“

„Ich stellte mit Verblüffung fest, dass Menschen nicht zusammenarbeiten können, ohne einander zu hassen, und dass man ihnen nichts anordnen kann, ohne von ihnen verabscheut zu werden…ich akzeptierte den Umstand, dass das Leben ist, was es ist, und dass man sich einiges aussuchen kann, das meiste aber nicht.“

Was immer dieser Roman uns sagen will, wir können es uns aussuchen. Viele werden diesen Roman für überhaupt keinen Roman halten; andere werden ihn als große „Verarsche“ betrachten. Das ist eigentlich egal, Kehlmann verdient mit diesem Roman gut und sein Ruhm mehrt sich.

Eine Jugend

Der Süddeutschen Zeitung ist es zu verdanken, dass einige Romane und Erzählungen in den Mittelpunkt der Leserinnen und Leser geraten, die man möglicherweise sonst nicht in die Hand nähme. Ich gestehe also, dass mir der Autor Patrick Modiano nichts sagte und ich auch noch nichts von ihm gelesen hatte. Nun ist in der Bibliothek Reihe der SZ seine Erzählung „Eine Jugend“ herausgegeben worden.

Also nun Modiano. Er beschreibt in einer Rückschau das Leben der Protagonisten Odile und Louis. Beide sind gerade 35 oder werden es bald. Sie haben zwei Kinder und leben zurückgezogen in einem Chalet in den Bergen, wie sie dahin kamen, was sie in ihrer Jugend erlebten, wie sie sich kennenlernten und so weiter berichtet die Erzählung. Sie ist ganz nüchtern, in einem distanzierenden und von außen betrachtenden Ton.

Sie nimmt mich als Leser nicht gefangen, die Erzählung lässt mich gänzlich kalt. Sie hat nur ein Gutes, sie ist nicht besonders lang. Ich verrate nicht, wie die beiden in die Lage kamen, sich ein Chalet zu kaufen. Aber auch das ist nicht besonders spannend und originell.

Diese Erzählung kann ich nicht weiterempfehlen, ich wende mich anderer Lektüre zu.

Gut, dass es so viele wunderschöne Bücher gibt!

Detektivgeschichte

Imre Kertész beschreibt in dem Vorwort zu der Detektivgeschichte, dass er diese nur auf Druck der staatlichen ungarischen Verlage zu Papier gebracht habe, um ein anderes Buch anzureichern. So habe er eine Geschichte innerhalb von zwei Wochen aufgeschrieben, die er schon länger im Kopf hatte.

Und was für eine Geschichte ist dabei rausgekommen?

Dieser wortgewaltige Schriftsteller beschreibt, wie ein Vater und sein Sohn in einer südamerikanischen Diktatur in den staatlichen Polizeiapparat geraten und am Ende tot sein werden. Die Ironie der Geschichte will ich nicht verraten. Aber man muss es einfach betonen: Da schreibt ein Mann auf wenigen Seiten in wenigen Tagen, was andere einen Lebtag nicht zustande brächten.

Das ist große Literatur. Dieser Mann ist ein ganz großer Autor, ein sprachmächtiger weiser Beobachter. Ein kluger Schriftsteller.

Eine richtig gute Kriminalgeschichte

Das geht so friedlich los.

Da soll der Privatdetektiv Lew Archer ein Bild wiederbeschaffen, das reichen Leuten abhandengekommen ist. Und da die Tochter des Hauses auch verschwunden ist, dehnt sich der Wiederbeschaffungswunsch auch auf sie aus. Das Bild stammt vermutlich von einem seit 25 Jahren verschwundenen Maler und dann gibt es plötzlich weitere Todesfälle und alles hängt mit dem Maler und dem Bild zusammen und alles wird sehr kompliziert. Nachdem auch Archers junge Liebe kurzzeitig in großen Gefahren schwebte, er sie aber retten konnte, erfreut er sich an dem Pulsschlag ihrer blauen Schläfenader, die für ihn wie ein blauer Hammer klopft.

Ja, so poetisch kommt dieser spannende Krimi daher. Und bis zur letzten Seite bleibt er spannend; man glaubt die Lösung gefunden zu haben, sprich den Täter, und dann ist es doch noch ein wenig anders. Das war ein angenehmes Lesevergnügen! Gern bald mehr von diesem Autor (Ross Macdonald) und seinem Helden.

Die Schaukel

Annette Kolb hat ihre Jugenderinnerungen geschrieben.

Der Text hat einen Ton als sei er in Hexameter verfasst. Die Sprache ist alt. Sie wechselt manchmal ihre Zeit. Springt nach vorn und zurück. So verabschiedet sie sich von den Eltern, obwohl diese noch eine Zeit leben werden. So stirbt die Schwester früh und ich habe es erst ziemlich spät mitbekommen. Die Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken sind übertrieben dargestellt und die Verdienste jüdischer Menschen auch. Das ganze Stück Prosa ist schief. Ich habe es tapfer gelesen, aber ich kann es nicht weiterempfehlen, weil es mir überhaupt nichts gab.

Die Schaukel übrigens steht als Sinnbild für das auf und ab des Lebens; ich habe schon schönere Metaphern gelesen.

Versuch, Johnson zu lesen

Mutmaßungen über Jakob habe ich schon einige Male in die Hand genommen und immer wieder zurück ins Regal geschoben. Nun wollte ich diesen Roman über den Stasi Mitarbeiter Jakob lesen. Ich habe es versucht, ein Drittel des Romans auch geschafft, dann aber wieder aufgegeben. Der Text ist so sperrig, er ist aber auch nicht mehr aktuell. Er packt mich überhaupt nicht, er geht mich nichts an. Ich habe Probleme mit dieser Sprache, sie ist schwerfällig, die unterschiedlichen Erzählperspektiven führen dazu, dass ich mich nur schwer den Personen zuwenden konnte. Ich war ermüdet sobald ich das Buch in der Hand hielt. Ich habe mich redlich bemüht, aber Uwe Johnson wird weiter ungelesen in meinen Bücherregalen warten müssen.

Unschuldig?

„Über Tausende, ach was, Millionen von Jahren hatten wir ein riesiges Gehirn, den Neocortex, stimmt’s? Aber wir redeten nicht miteinander und lebten wie die verdammten Ferkel. Es gab nichts. Keine Sprache, keine Kultur, nichts. Und dann, wumm! Auf einmal gab’s das alles. Plötzlich brauchten wir das alles, und es gab kein Zurück mehr. Aber wieso kam es plötzlich dazu? Damals hingen wir alle miteinander herum und trieben alle genau dasselbe. Wir lebten in Horden. Also hatten wir Sprache gar nicht nötig. Wenn sich ein Leopard anschlich, hatte es doch keinen Sinn zu sagen: Heda, was kommt denn da den Weg entlang gelaufen? Ein Leopard! Das konnten doch alle sehen, alles sprang auf und nieder und schrie sich heiser, um ihn zu verscheuchen. Aber was passiert, wenn sich jemand davonstiehlt, um eine Weile mit sich allein zu sein? Sieht er einen Leoparden nahen, weiß er etwas, was die anderen nicht wissen. Und weiß, dass sie es nicht wissen. Er hat etwas, was sie nicht haben, er hat ein Geheimnis, und das ist der Beginn der Individualität, seines Bewusstseins. Will er sein Geheimnis teilen und läuft zurück, um die anderen zu warnen, muss er wohl oder übel eine Sprache erfinden. Daraus erwächst die Möglichkeit von Kultur. Oder er kann abwarten und darauf hoffen, dass der Leopard die Stammesführung angreift, die ihm das Leben schwer gemacht hat. Ein Geheimplan – das bedeutet weitere Individuation, noch mehr Bewusstsein.“

Der Beginn der Individualität durch Geheimnisse. Der Beginn von Kultur durch sie. Das steht in einem Roman, der sich im Geheimdienstkreis bewegt. Ian McEwan hat den Roman Unschuldige 1990 geschrieben. Die Geschichte, die er im Untertitel eine Berliner Liebesgeschichte nennt, spielt 1955 in der noch stark durch den Krieg geprägten Stadt.

Die Amerikaner und Briten treiben einen Tunnel in den Ostteil der Stadt, um russische Telefonate abhören zu können. Die Geschichte hat einen wahren Kern, der Rest, insbesondere diese Liebesgeschichte ist erfunden. Und so liest sie sich denn auch. Dieser Roman hat nichts von dem bewunderungswürdigen Stil seiner anderen Romane. Auch die ausführliche Beschreibung der Zerlegung einer Leiche macht die Sache nicht runder. Der Roman klappt nicht, weil die Geschichte nicht klappt. Der ganze Plot stimmt nicht. Und so ist der oben zitierte Absatz einer der wenigen intelligenten und vielversprechenden Absätze dieses ansonsten sehr schwachen Werkes.

Schade!

Aus der Nachkriegszeit

Walter Kolbenhoff hat in seinen Erinnerungen die Nachkriegszeit auferstehen lassen.

In der Schellingstraße 48 wohnte er nach dem Krieg, arbeitete als Redakteur, verärgerte kleine Dörfer, deren Bewohner er beschrieb. Ihr Verhalten, ihre Abneigungen den durch den Krieg entwurzelten Menschen gegenüber. Er beschreibt seine Zeitgenossen. Erich Kästner, Alfred Andersch und den Gründer der Gruppe 47, Werner Richter. Wilhelm Reich wird beschrieben und noch manche anderen Menschen.

Diese Erinnerungen, kein Roman, lesen sich gut. Sie sind spannend, spannender als mancher Roman und sie öffnen dem Leser Perspektiven einer vergangenen Zeit. Ich wusste beispielsweise nicht, dass es in den USA Kriegsgefangenenlager gab. Aber das ist nur ein Randaspekt. Diese Erinnerungen bereichern seine Leser; sie sind dankbar in anderen Zeiten zu leben und wünschen sich ähnliche Verhältnisse nie zurück!

Das Buch von der Liebe

Das Buch ist eine Expedition in den Kontinent der Frau und der Liebe. Dieser Satz lehnt sich an einen Satz aus dem fabelhaften Roman von Per Olov Enquist an: „Das Buch von Blanche und Marie“.

In diesem Roman verknüpft der Autor das Schicksal zweier Frauen miteinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Hier Blanche Wittmann, eine Patientin des berühmten Nervenarztes Jean Martin Charcot, später eine Assistentin der anderen Frauengestalt Marie Curie. Sie, diese zweifache Nobelpreisträgerin, verliebt sich in einen Kollegen ihres Mannes. Sie geht dafür durch die Hölle der öffentlichen Demütigung, gepaart mit antisemitischen Unterstellungen. Aber das ist nicht das wesentliche dieses Romans. Im Mittelpunkt steht die Liebe. Eine Fülle von verschiedenen Farben schillert durch jeden Satz. Der Stil ist privat, manchmal überlegt der Autor, was man in Schweden dazu gesagt haben könnte, er berichtet von seiner Großmutter, um sofort wieder auf die Frauen in diesem Buch zurückzukommen. Blanches Liebe zu i

hrem Arzt, das kurze Liebesglück der Marie. Das lange Glück mit ihrem Mann, ihr letzter Wunsch, im Grab ganz nah mit ihm wieder vereint zu sein. Sich gegen die Welt aufzulehnen, weil man Liebe nie unterdrücken kann.

Dieser Roman ist ein Schatzkästlein!

Lesen kann so schön sein.


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