Der Autorin Jenny Erpenbeck wurde der „International Booker Prize 2024“ für ihren Roman „Kairos“ gemeinsam mit dem Übersetzer des Werkes, Michael Hofmann, verliehen.

Ich hatte bei Erscheinen des Romans nicht vorgehabt, diesen zu lesen. Die Prosa, die ich von Frau Erpenbeck gelesen hatte, war mir zu schlicht und teilweise auch zu larmoyant gewesen. Auch war sie in der Nähe der Autofiktionalität. Nicht, dass ich grundsätzlich gegen autofiktionale Literatur eingestellt wäre, aber ein wenig nervt mich dieser literarische Zweig schon.

Als ich die Nachricht der Preisverleihung wahrnahm, wollte ich dieses Buch jedoch käuflich erwerben. Also der Buchhandlung meines Vertrauens eine Nachricht geschickt: Kaum eine viertel Stunde später rief mich die Geschäftsführerin an und teilte mir mit, dass für mich das letzte Buch zurückgelegt wurde, was sie derzeit im Sortiment hatten. Allerdings könnte ich es erst am späten Nachmittag abholen. Der Grund sei, dass mittags das RBB-Fernsehen vorbeikäme und den Buchdeckel „abfilmen“ wolle. Es sei ein Beitrag in der Tagesschau und den Tagesthemen geplant. Das Buch werde in die Kamera gehalten und durchgeblättert. Ich lachte, fragte sie, ob das Buch nun günstiger verkauft würde, und wir lachten beide, als ich ihr meine nolens volens Kaufabsicht geschildert hatte.

Schon im Prolog erfahren die Lesenden, dass Hans W. tot ist und Katharina von dessen Witwe zwei Kartons mit Aufzeichnungen erhalten habe.

Die 19jährige Katharina lernt Hans kennen. Der ist zehn Jahre älter als ihr Vater, ist ein in der DDR des Jahres 1986 berühmter Autor, der ein fester freier Mitarbeiter im Rundfunk ist, verheiratet, Vater eines Sohns. Immer mit einer Geliebten und eine literarische Größe mit Reisepass ausgerüstet. Katharina und Hans werden ein Liebespaar, wobei Hans die „Spielregeln“ bestimmt, wobei er seiner jungen Geliebten auch sadomasochistische Sexpraktiken abverlangt. Diese Beziehung hat von Anfang an etwas toxisches. Hans bestimmt die Regeln, weicht Katharina davon ab, wirft er ihr vor, ihn nicht zu lieben.

Bei einem Praktikum am Theater in Frankfurt an der Oder wird sie mit einem jungen Mann einmal schlafen und nachdem sie dies ihrem Hans erzählt hat, ist die „Liebe“ frostig.

Verwoben hat Frau Erpenbeck diese „Liebesgeschichte“ mit der Geschichte der untergehenden DDR, mit der Geschichte des jungen Hans, der noch in der Nazizeit aufwuchs, sich von seinen Eltern, die nach dem Krieg in Westdeutschland lebten, abwendete und sich für ein Leben in der DDR entschied.

Dieser Roman handelt von Menschen, die in der DDR eine Sonderrolle spielten. Katharina, darf zum Geburtstag der Oma nach Köln fahren; Hans und sie werden eine Reise nach Moskau antreten. Es ist eine Blase der Intellektuellen. Als Hans auf Bitten Katharinas einen Psychotherapeuten aufsucht, sprechen die beiden Männer über Hölderlin. Es bleibt nicht bei einem intellektuellen Gespräch, man zitiert sich gegenseitig Hölderlins Gedichte. Es bleibt nicht bei einem Satz, nein, man zitiert viele Sätze.

Erpenbeck ist entsetzt über die „Auflösung“ der DDR, über die Übernahme des „Arbeiter und Bauernstaates“ durch den Kapitalismus., über die Abwicklung von Einrichtungen. Das wird intelligent verwoben und grandios dargestellt.

Und es sind Sätze wie: „… mal erklärt ihr Hans in einer Lehmbruck-Ausstellung, dass es auf die Zwischenräume ankommt, die sich durch das, was da ist, ergeben.“, die im Gedächtnis bleiben. Ich rätsele noch über den Buchtitel: „Aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt.“, schreibt die Autorin, aber das ist nicht der Charakter von „Kairos“. Kairos‚ bezeichnet den günstigen Zeitpunkt, man muss zugreifen, der Gott Kairos hat eine Locke auf der Stirn, nur wenn man diese festhält, verändert sich etwas, ergreift man diese Locke nicht, dann zeigt uns dieser Gott nur noch seine kahle Rückseite. Der Kapitalismus hat rechtzeitig „zugegriffen“, Katharina und Hans haben einmal zugegriffen, dann aber nicht „festgehalten“!

„Was wird man sagen über unsere Tage?“ fragen sich die beiden. Sie können keine Antwort darauf geben, wir können keine Antwort darauf geben.

Frau Erpenbeck hat in diesem sprachgewaltigen Roman ihre Larmoyanz nicht ablegen können, das ist sehr bedauerlich!

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