Italien

Vor vielen Jahren las ich bereits in größeren Auszügen Goethes „Italienische Reise“. Nun nahm ich mir das Buch erneut vor, um es in Gänze zu lesen und mich, wenn möglich, an seinen Erzählungen zu erfreuen.

Wie kam es zu dieser Hegire, wie Goethe seinen Aufbruch aus Karlsbad nach Italien, in Anlehnung an die Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina, nannte?

Goethes Vater schwärmte von seiner Italienreise, schenkte dem kleinen Johann Wolfgang eine kleine Gondel, mit der das Kind zu besonderen Gelegenheiten spielen durfte. Zweimal hätte Goethe vorher bereits von der Schweiz aus Gelegenheit gehabt nach Italien zu reisen. Er tat es nicht.

Nun aber, zu Beginn des Septembers 1786, wagt er die Reise, bedient sich eines anderen namens, weil er nicht als Autor des Werther überall erkannt werden will und gelangt über den Brenner, am Gardasee entlang über Verona, Vicenza und Padua nach Venedig.

In Verona notiert er: „Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betrügen, sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen; da sage ich mir denn ganz aufrichtig, dass ich von der Kunst, von dem Handwerk des Malers wenig verstehe.“ Mag diese Eintragung tatsächlich damals so in sein Tagebuch gewandert sein, wir heutigen Lesenden können uns nie sicher sein. Schließlich hat Goethe viele Jahre vergehen lassen, bevor die „Italienische Reise“ veröffentlicht wurde. Er überlässt nichts dem Zufall, er will ein bestimmtes Bild von sich der Nachwelt übermitteln. Das müssen die Lesenden immer im Kopf haben: Goethe übte strenge Selbstzensur. Was seine Motive betrifft, bleibt nur Spekulation. Oder ein Zitat, wie dieses: „… denn man verdient wenig Dank von den Menschen, wenn man ihr inneres Bedürfnis erhöhen, ihnen eine große Idee von ihnen selbst geben, ihnen das Herrliche eines wahren, edlen Daseins zum Gefühl bringen will. Aber wenn man die Vögel belügt, Märchen erzählt, von Tag zu Tag ihnen forthelfend, sie verschlechtert, da ist man ihr Mann, und darum gefällt sich die neuere Zeit in so viel Abgeschmacktem.“

Venedig also: „So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, dass ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum ersten Mal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte.“

So manche Sätze, die er während seines Aufenthalts in Venedig über diese wundervolle Stadt zu Papier gebracht hat, sind noch heute von gleicher Gültigkeit.

„… denn nirgends fühlt man sich einsamer als im Gewimmel, wo man sich allen ganz unbekannt durchdrängt.“

„Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein großes respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters, sondern eines Volks.“

„Der Fischmarkt und die unendlichen Seeprodukte machen mir viel Vergnügen; ich gehe oft darüber und beleuchte die unglücklichen aufgehaschten Meeresbewohner.“

„Wenn sie ihre Stadt nur reinlicher hielten, welches so notwendig als leicht ist und wirklich auf die Folge von Jahrhunderten von großer Konsequenz.“

Seine Reise geht weiter und führt ihn schließlich nach Rom, der Hauptstadt der Welt, wie er die Tibermetropole umschreibt.

„Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!“

„Weder Auge noch Geist sind hinreichend, sie zu fassen.“

„Was die Barbaren stehen ließen, haben die Baumeister des neuen Rom verwüstet.“

„… während eines Reisezugs rafft man unterwegs auf, was man kann, jeder Tag bringt etwas Neues, und man eilt, auch darüber zu denken und zu urteilen.

Und bei allem dem seh‘ ich voraus, dass ich wünschen werde, anzukommen, wenn ich weggehe.“

Fast vier Monate bleibt er in der Stadt, dann zieht es ihn weiter nach Neapel.

Dort hält er einige bemerkenswerte Sätze fest, die zumindest durchblicken lassen, dass der Autor sich langsam zu entspannen scheint.

„Aber weder zu erzählen noch zu beschreiben ist die Herrlichkeit einer Vollmondnacht, wie wir sie genossen, durch die Straßen über die Plätze wandelnd, auf der Chiaja, dem unermesslichen Spaziergang, sodann am Meeresufer hin und wider. Es übernimmt einen wirklich das Gefühl von Unendlichkeit des Raums. So zu träumen ist denn doch der Mühe wert.“

„Gestern dacht‘ ich: ‚Entweder du warst sonst toll, oder du bist es jetzt.‘“

„Triebe mich nicht die deutsche Sinnesart und das Verlangen, mehr zu lernen und zu tun als zu genießen, so sollte ich in dieser Schule des leichten und lustigen Lebens noch einige Zeit verweilen…“

„Reisen lern‘ ich wohl auf dieser Reise, ob ich leben lerne, weiß ich nicht.“

Getreu seinem Credo setzt er die Reise fort: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.“

Hier macht er sich auf die vergebliche Suche nach der Urpflanze, wie in Neapel schon ist er von Vulkanen fasziniert, er berichtet über das Essen und zieht dann doch, warum auch immer ein sehr nüchternes Fazit seiner Sizilientour: „In dieser Lage wollte mir unsere ganze sizilianische Reise in keinem angenehmen Lichte erscheinen. Wir hatten doch eigentlich nichts gesehen, als durchaus eitle Bemühungen des Menschengeschlechts, sich gegen die Gewaltsamkeit der Natur, gegen den Groll ihrer eigenen feindseligen Spaltungen zu erhalten.“

Nach abenteuerlicher Seefahrt zurück in Neapel ist seine Stimmung, seinen Aufzeichnungen zufolge eher gemischt.

„… und je mehr ich die Welt sehe, desto weniger kann ich hoffen, dass die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne.“

„Um wie manche Stunde betrogen wir die Gegenwart in heiterster Erinnerung.“

Ab Juni 1787 ist er wieder zurück in Rom. Der Charakter der Einträge in sein Reisejournal ändert sich nunmehr, zumindest gestattet uns der Meister nur noch Zusammenfassungen. Wir lesen nur noch wochenweise Berichte. Der Mensch, verschwindet hinter einem Tätigkeitsbericht. Nur selten schimmert dieser Mensch dann doch hervor.

„Ich habe recht dieser Zeit her zwei meiner Kapitalfehler, die mich mein ganzes Leben verfolgt und gepeinigt haben, entdecken können. Einer ist, dass ich nie das Handwerk einer Sache, die ich treiben wollte oder sollte, lernen mochte. Daher ist gekommen, dass ich mit so viel natürlicher Anlage so wenig gemacht und getan habe. Entweder es war durch die Kraft des Geistes gezwungen, gelang oder misslang, wie Glück und Zufall es wollten, oder wenn ich eine Sache gut und mit Überlegung machen wollte, war ich furchtsam und konnte nicht fertig werden. Der andere nah verwandte Fehler ist, dass ich nie so viel Zeit auf eine Arbeit oder Geschäft wenden mochte, als dazu erfordert wird. Da ich die Glückseligkeit genieße, sehr viel in kurzer Zeit denken und kombinieren zu können, so ist mir eine schrittweise Ausführung nojos und unerträglich.“

„Die Kunst ist deshalb da, dass man sie sehe, nicht davon spreche, als höchstens in ihrer Gegenwart. Wie schäme ich mich alles Kunstgeschwätzes, in das ich ehemals einstimmte.“

Hier und da schwappt ein wenig Erotik über den Rand der Berichte: „Die italienischen Mäuschen haben ihre Eigentümlichkeiten, vor zehn Jahren hätten einige passieren können, nun ist diese Ader vertrocknet, und es gab mir diese kleine Feierlichkeit kaum so viel Interesse, um sie bis ans Ende auszuhalten.“

Er berichtet an einigen Stellen von einer schönen Mailänderin, die er in Castell Gandolfo kennenlernt. „Man kann sich von einem solchen Herbstaufenthalte den besten Begriff machen, wenn man sich ihn wie den Aufenthalt an einem Badeorte gedenkt. Personen ohne den mindesten Bezug aufeinander werden durch Zufall augenblicklich in die unmittelbarste Nähe versetzt. Frühstück und Mittagessen, Spaziergänge, Lustpartien, ernst- und scherzhafte Unterhaltung bewirken schnell Bekanntschaft und Vertraulichkeit; …“

Aber er hält sich zurück, denn die junge Frau sucht kein Abenteuer, sondern einen Gatten: „… denn ich war dem Gelübde, mich durch dergleichen Verhältnisse von meinem Hauptzwecke nicht abhalten zu lassen, vollkommen treu geblieben.“

Häufig erzählt er von seinen gemeinsamen Unternehmungen mit Angelika Kauffmann, der berühmten, einige Jahre älteren Malerin. Ansonsten schweigt des Sängers Höflichkeit, bis auf eine Stelle, auf die ich noch zurückkommen werde.

Er arbeitet viel in Rom, versucht sich als Maler und Bildhauer, erkennend, wie oben bereits zitiert, dass er sich nicht wirklich dazu eignet. Er nimmt sich ältere Werke vor, die er überarbeitet. Den Egmont beispielsweise. Hierzu lässt er seinen Freund, den Musiker Kayser, nach Rom kommen, damit dieser eine Schauspielmusik zu diesem Werk komponiere.

Er räsoniert über die Schwere der Aufgabe: „Es war eine unsäglich schwere Aufgabe, die ich ohne eine ungemessene Freiheit des Lebens und des Gemüts nie zustande gebracht hätte. Man denke, was das sagen will: ein Werk vornehmen, was zwölf Jahre früher geschrieben ist, es vollenden, ohne es umzuschreiben. … Nun liegen noch so zwei Steine vor mir: „Faust“ und „Tasso“.“

Er berichtet über den römischen Karneval, auch wenn hier ein Text eingeflossen ist, der wahrscheinlich erst später entstanden ist und schließt: „Wie froh will ich sein, wenn die Narren künftigen Dienstagabend zur Ruhe gebracht werden. Es ist eine entsetzliche Sekkatur, andere toll zu sehen, wenn man nicht selbst angesteckt ist.“

Dann gilt es Abschied zu nehmen. Er verabschiedet sich von den Menschen, die ihm besonders am Herzen lagen. So auch von der Mailänderin, der er zuruft: „Man will mich nicht von Euch wegführen, seht Ihr“, rief ich aus, „man weiß, so scheint es, dass ich ungern von Euch scheide.“

Vielleicht hat er diese Worte auch einer anderen Frau zugerufen, wahrscheinlich eher zugeflüstert. Die berühmte Faustine, von der wir nichts wissen, weil Goethe es so will.

Sein Fazit für die Öffentlichkeit lautet: „Ja, ich kann sagen, dass ich die höchste Zufriedenheit meines Lebens in diesen letzten acht Wochen genossen habe und nun wenigstens einen äußersten Punkt kenne, nach welchem ich das Thermometer meiner Existenz abmessen kann.“ Und damit beantwortet er auch die in Neapel gestellte Frage: „Reisen lern‘ ich wohl auf dieser Reise, ob ich leben lerne, weiß ich nicht.“, sicherlich mit einem ja. Ja, er hat leben gelernt!

Und Faustine? „… und in solchen Umgängen zog ich gleichsam ein unübersehbares Summa Summarum meines ganzen Aufenthaltes. Dieses, in aufgeregter Seele tief und groß empfunden, erregte eine Stimmung, die ich heroisch-elegisch nennen darf, woraus sich in poetischer Form eine Elegie zusammenbilden wollte.“

Und so finden wir in den Römischen Elegien die Zeilen: „Darum macht Faustine mein Glück; sie teilet das Lager gerne mit mir und bewahrt Treue dem Treuen genau. Reizendes Hindernis will die rasche Jugend; ich liebe, mich des versicherten Guts lange bequem zu erfreuen. Welche Seligkeit ists! Wir wechseln sichere Küsse, Atem und Leben getrost saugen und flößen wir ein. So erfreuen wir uns der langen Nächte, wir lauschen, Busen an Busen gedrängt, Stürmen und Regen und Guss. Und so dämmert der Morgen heran …“

Und so träume ich mich lesend nach Italien.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Und gleich noch einmal nach Italien

Der Insel Verlag legte im Jahre 2020 ein von Volker Michels herausgegebenes Buch „Mit Hermann Hesse durch Italien“ auf. Im Untertitel „Ein Reisebegleiter durch Oberitalien“ genannt.

Die potentiellen Lesenden seien an dieser Stelle gewarnt, es handelt sich dabei nicht um die italienische Reise des Hermann Hesse. Allerdings lesenswert ist dieser Sammelband dennoch, mit Einschränkungen.

1910 schreibt Hesse: „Ich trete häufig für einige Augenblicke ins Schlafzimmer, wo an der Wand die große Karte von Italien hängt, und streife mit begehrlichem Auge über den Po und Apennin hinweg, durch grüne toskanische Täler, an blau und gelben Strandbuchten der Riviera hin, schiele auch etwa nach Sizilien hinab und verirre mich dabei gegen Korfu und Griechenland hin. Lieber Gott, wie ist das alles nah beieinander! Und wie schnell kann man überall sein. Und pfeifend kehre ich in die Studierstube zurück, lese entbehrliche Bücher, schreibe entbehrliche Artikel und denke entbehrliche Gedanken.“

Hesse war seit 1901 viele Male in Italien oder korrekter gesagt in Oberitalien. Er schildert seine Streifzüge durch die toskanischen und umbrischen Städte und rühmt Venedig.

Ein wirklicher „Reisebegleiter“ ist das Buch nicht, auch nicht an den Stellen, wo Hesse kurz die Sehenswürdigkeiten preist und beispielsweise auf Kunstwerke näher eingeht. Sehr gelungen ist die Mischung aus diesen Kurzbeschreibungen, sehr gefühlvollen Gedichten und längeren Prosastücken dennoch.

In Cremona (1913) breitet er die Frage aus, warum Menschen auf Reisen gehen. Den Text kann ich hier nicht in Gänze zitieren, den muss man nachlesen. Nur so viel: „So, scheint mir, reisen wir und schauen und erleben die Fremde im tiefsten Grunde als Sucher nach dem Ideal des Menschentums.“

Venedig schlägt ihn ganz in seinen Bann: „Venedig übte auf mich einen stärkeren Zauber aus als irgendeine andere italienische Stadt, …“.

Im lesenswerten Nachwort des Herausgebers erfahren die Lesenden mehr vom „Individualtouristen“ Hermann Hesse, was mir diesen großartigen Schriftsteller noch sympathischer macht.

Wenn er die Lagune beschreibt, die Farbenspiele des Wassers, dann fängt er die Lesenden spielend ein und fördert deren Reiselust. Die Betrachtung dieser Schönheit bringt ihn zu der Erkenntnis: „Dann ist es dem geübten und fleißigen Beschauer vergönnt, im glücklichen Belauschen und Verstehen an dieser Schöpfung so teilzunehmen, dass er dem schönen Objekt gegenüber selbst das Gefühl des Erschaffenden hat. Es ist genau dasselbe Glücksgefühl, das ein Buch, eine Musik in der Stunde des vollkommenen Verstehens gewährt; dann ist das Kunstwerk dein Eigentum und du selbst bist der Dichter.“

Und warum Betrachten wir Kunstwerke auf Reisen? „Weil ich bei ihrem Anblick gefühlt hatte, dass Arbeit und Hingabe eines Menschen nicht wertlos sind, dass über der bedrückenden Einsamkeit, in der jeder Mensch sein Leben hinlebt, etwas allen Gemeinsames, etwas Begehrenswertes und Köstliches vorhanden ist; … Denn Michelangelo und Fra Angelico haben weder an mich noch an irgend jemand gedacht, wenn sie arbeiteten. Sie haben für sich selber geschaffen, jeder für sich allein, jeder zum Teil für seine Not und in bitterem Kampf mit Unmut und Müdigkeit.“

Und warum reisen wir nun, diese Frage stellt er sich wieder und wieder und erhält die Antwort: „… stellte ich nun als Beweggrund meines Reisens das Bedürfnis auf, rechenschaftsloses Erstaunen zu fühlen und eine Welle frei von Verantwortung nur als Zuschauer zu leben.“

Natürlich macht dieses Buch Lust auf Reisen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Der Traum vom Bau einer neuen Stadt

Ich lese Bücher immer mit einem Bleistift in der Hand oder zumindest in meiner Nähe. Sätze, die Gedanken Raum geben; Formulierungen, die die Absichten der Autorinnen zum Vorschein bringen; Metaphern, die hell strahlen, wie im Sonnenlicht funkelnde Diamanten, verdienen unterstrichen zu werden, damit sie mir schneller wieder zugänglich sind.

Bei der Lektüre des Romans „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann hätte ich manchmal viele Seiten hintereinander markieren müssen.

Der Roman erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau. Als junges Mädchen, das Kriegsende und die erste Zeit des Neubeginns, erlebend, Rückblenden auf die Gräuel des Krieges nicht verschweigend. Die Eltern und die Großmutter, vor allem aber den älteren Bruder skizzierend. Diese Darstellung einer wahrlich schlimmen Zeit ist eine so gelungene, dichte Beschreibung, dass ich geradezu atemlos den Schilderungen folgte.

Die junge Franziska, entschließt sich nach dem Architekturstudium, nicht bei ihrem berühmten Lehrer zu bleiben, sondern sich dem Aufbau einer neuen Stadt zu widmen. Freie Deutsche Jugend bau auf!

Sie stößt sehr schnell auf die Wirklichkeit, die ernüchternde Realität der DDR. Sie traf die Entscheidung, eine Stadt mit aufzubauen, sicherlich auch vor ihrem privaten Hintergrund. Die Scheidung von ihrem ersten Mann, die Übersiedlung ihrer Eltern nach Westdeutschland.

Nun also Neustadt, der Traum, eine sozialistische Stadt zu erschaffen. Keine Schlafstadt für die „Werktätigen“ der großen, die Umwelt belastenden, Industriebetriebe.

Sie ringt mit ihrem Vorgesetzten, der von Franziska fasziniert, in sie verliebt ist, sich nicht mit den Gegebenheiten abzufinden. Ein Stadtzentrum müsse gestaltet, errichtet werden.

Sie ringt mit ihrem Geliebten Ben, sie kann den Selbstmord ihrer Sekretärin nicht verhindern. Selbstmord im sozialistischen Paradies. Sie erlebt rohe Gewalt gegen einen jungen Arbeiter, der an den Folgen der Prügelei sterben wird. Gewalt im sozialistischen Paradies. Sie klagt das stumpfe Wegsehen, das Nichteinschreiten der braven Bürger an. Ob es sich um die Gewalt gegen jenen jungen Arbeiter oder die Vergewaltigung eines jungen Mädchens handelt.

Sie begehrt auf, sie verfasst einen Artikel, der in geänderter Form gedruckt wird, sie spricht auf einem Architekturkongress. Hier wie dort beklagt sie die Entscheidungen der Parteispitzen. Nichts ändert sich, das Stadtzentrum wird nicht gebaut.

Vieles von dem, was ich las, lag „außerhalb der Grenzen meiner Erfahrungs-Geographie“, um einen kurzen Halbsatz des Romans zu zitieren. Dennoch packte mich dieser Roman, wie schon lange keiner mehr.

Brigitte Reimann konnte diesen Roman nicht mehr abschließen, sie starb vor der Fertigstellung. Insofern konnte dieser Roman ebenso wenig vollendet werden, wie Neustadt. Aber im Gegensatz zu nicht fertiggestellten Bauwerken, die man als Ruine bezeichnen könnte, ist dieser Roman ein schon prächtiges Schloss, dem vielleicht noch ein Flügel und die Ausgestaltung von baulichen Details fehlt.

Ohne Zweifel ist dies ein großer Roman, einer großen deutschen Schriftstellerin. Lesen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Vom Wünschen und Träumen in schwerer Zeit

Das ist die Geschichte der Johanna Rumpl aus Öd in einer bayerischen Gemeinde. Es ist auch – teilweise – die Geschichte von Lena Christ, der Autorin des Romans „Die Rumplhanni“, zumindest sind es ihre Träume.

Die Hanni arbeitet als Magd auf einem Hof, es sind die ersten Augusttage des Jahres 1914, und die jungen Männer des Dorfes müssen in den Krieg. Hanni hat dem Jungbauern des Hauser Hofes mitgeteilt, dass sie von ihm schwanger sei und er dies noch mit seinem Vater besprechen müsse, bevor er in eine ungewisse Zukunft zieht. Denn Hanni will den Hof eines Tages übernehmen. Sie ist fleißig und kräftig und will nicht Zeit ihres Lebens Dienstmädchen bleiben.

Dann entwickelt sich der Roman zu einer Geschichte, die entfernt an den zerbrochenen Krug des Dichters Kleist erinnert und mehr noch an Stücke des Komödienstadls.

Die Rumplhanni hat ihre genauen Vorstellungen von ihrer Zukunft. Da sie diese in Oberbayern nicht verwirklichen kann, zieht sie nach München und wird dort glücklich.

Mehr kann ich den Lesenden nicht verraten. Das Vergnügen muss man sich schon lesend „erarbeiten“.

Im Hintergrund spielt der Krieg eine nicht unerhebliche Rolle und Lena Christ schildert ohne Beschönigung das Leben einfachen Leute vor hundert Jahren.

Am 30. Juni 1920 vergiftet sich Lena Christ auf dem Münchner Waldfriedhof. Die Verzweiflungstat beendet ein hartes und bitteres Leben.

Für den zeitgenössischen Kritiker Josef Hofmiller stand fest, dass ihre drei Bücher, neben denen von Ludwig Thoma, den Wert kulturgeschichtlicher Quellenwerke haben. „Wenn man in hundert Jahren wissen will, wie es damals in Oberbayern gewesen ist“.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Empfindsame Erziehung

Ich las den Roman der „L’éducation sentimentale“ von Gustave Flaubert nicht in der neuen Übersetzung von Elisabeth Edl. Sie sorgte in der Szene dadurch für Aufmerksamkeit, dass sie dem Roman den Titel „Lehrjahre der Männlichkeit“ verpasste. Ich las die alte, sehr gut lesbare Fassung von Emil Alfons Rheinhardt, die durch Ute Haffmanns durchgesehen und revidiert worden war: „Die Erziehung des Herzens“.

Es ist offensichtlich nicht einfach, den Romantitel zu übersetzen, weil sein Original eine Hintergründigkeit besitzt, der man im Deutschen nicht zu entsprechen vermag.

Wovon nun handelt der Roman?

Wir begleiten 1840 einen jungen Mann, Frédéric Moreau, von Paris in seine Heimatstadt Nogent-sur-Seine, nachdem er sein Abitur so gerade bestanden hat. Er will nicht so schnell nach Hause kommen, weshalb er den Dampfer und nicht die kürzere Landverbindung wählt.

Auf dem Boot wird er die Familie Arnoux kennenlernen. Jacques, dessen Töchterchen Marthe und Madame Arnoux, Marie, seine große Liebe.

In drei Teilen, die einen Bogen von knapp dreißig Jahren spannen, bringt uns Flaubert unmissverständlich das Scheitern seines „Helden“ näher. Die Jahre haben es in sich, denn Frankreich erlebt Unruhen, Aufstände, ein neues Kaiserreich. Durch diese Jahre gaukelt Monsieur Moreau, einem Schmetterling gleichend, zwischen verschiedenen Blüten. Louise, die Nachbarstochter aus Nogent, Rosanette, die „Kurtisane“, mit der er ein Kind haben wird, das nur wenige Monate nach der Geburt stirbt und Madame Dambreuse, die Gattin, später Witwe, eines reichen Mannes.

Aber immer wird er, zumindest in Gedanken, zu Marie zurückfinden.

Es ist auch die Geschichte des Scheiterns seines Schulfreundes Deslauriers. Es ist der Roman des Scheiterns zweier Träumer, vielleicht sogar des Scheiterns einer Generation. Frédéric, er wird ein kleines Vermögen erben und es weitgehend durchbringen, findet: „…, dass das Glück, das er durch die Vortrefflichkeit seiner Seele verdient hätte, sich allzu sehr Zeit lasse.“

Er will „endlich jenes unerklärliche, schillernde Unfassbare kennenlernen, das Gesellschaft heißt.“

„Indem er in die Persönlichkeit anderer eindrang, vergaß er seine eigene, denn das ist ja vielleicht die einzige Art, nicht an sich selber leiden zu müssen.“

Schließlich treffen die beiden Schulfreunde am Ende des Romans wieder zusammen. „Sie überblickten ihr Leben. Sie hatten es beide verfehlt, der, der von der Liebe geträumt hatte, wie der, der von der Macht geträumt hatte.“ Und wie das so ist, wenn sich Menschen treffen, die eine gemeinsame Vergangenheit haben, ergehen sie sich in Erinnerungen. Sie wollten ein Bordell als Jugendliche besuchen, Frédéric wurde von den Eindrücken so erregt und verlegen, dass er das Lachen der Mädchen falsch interpretierte und wegrannte. „Und da Frédéric das Geld hatte, war Deslauriers wohl oder übel gezwungen, ihm zu folgen.“

Sie ergänzten ihre Erinnerungen gegenseitig und Frédéric stellte schließlich fest: „Das war doch das Beste, was wir gehabt haben!“

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Irrfahrt durch Dublin

Wir schreiben Donnerstag, den 16. Juni 1904. Es wird ein warmer Sommertag in Dublin werden.

Die Lesenden begleiten Menschen durch diesen Tag. Im Mittelpunkt stehen Leopold Bloom und Stephen Dedalus. Sie werden sich über den Weg laufen und spät am Abend ein gutes Stück des Weges gemeinsam zurücklegen.

Eine Inhaltsangabe möge man mir ersparen. Ebenso werde ich mich mit einer Interpretation zurückhalten. Natürlich liegt der Zusammenhang nahe, den Roman „Ulysses“ von James Joyce mit Homers Odyssee in Beziehung zu setzen. Doch war ich während der Lektüre einige Male geneigt, mehr an Faust II zu denken. Ausführen werde ich das jetzt nicht.

Den Lesenden erwartet ein vielschichtiger Text. Jedes Kapitel hat seine eigene Form, seinen eigenen Stil, seine eigene Sprache.

Ich folgte in großer Bewunderung der Übersetzung von Hans Wollschläger. Zurecht ist schon auf dem Einband von einer Übertragung die Rede, weil dieser Roman nicht einfach übersetzt, sondern im Deutschen nachempfunden wurde.

Es gibt Kapitel, die sich leicht lesen lassen und solche, die man nur mit Mühe, zu lesen in der Lage ist. Ein Kapitel kommt als Drama daher. Ein anderes Kapitel spielt sich durch verschiedene Phasen der deutschen Sprache, wie das Original dies mit dem Irischen tut. Das letzte Kapitel, in den Morgenstunden des 17. Juni, ist eine, durch kein Komma und keinen Punkt unterbrochene, Aneinanderreihung von Gedanken der Molly Bloom. Sie springt gedanklich von ihrem aktuellen Liebhaber zu ihrem Gatten, von der Tochter zu ihrer ersten Liebe, von Einkaufs- zu Speiseplänen.

Ich will das nur einmal kurz demonstrieren dabei habe ich während der Lektüre immer wieder an meine Freundin denken müssen und dass ich sie nich sehen kann im Augenblick ist aber auch schwierig diese Rezension zu einem vernünftigen Schluss zu bringen wobei ich immer noch nicht weiß was ich morgen einkaufen soll

aber eine Rezension muss doch ein Fazit haben ich weiß ja nicht einmal was ich kochen soll und ein Fazit bei mir lautet doch immer dass es empfehlenswert ist bei dem Wetter würde ich gern mit ihr zusammen sein doch es geht halt nicht ja und nun weiter ja. Ja!

Dieser Roman, so dachte ich mir vor Beginn der Lektüre, ist ein Mount Everest. Falsch gedacht. Dieser Roman ist ein riesiges Gebirge, in dem sich ein Mount Everest an den anderen schmiegt.

Die Lesenden irren durch eine Stadt, durch eine Landschaft von Gedankensplittern. Glücklicherweise gibt es immer wieder Inseln zum Ausruhen, zum Kraft sammeln. Dann geht es weiter, immer weiter.

Denn: „Jedes Leben besteht aus vielen Tagen, immer einem nach dem andern. Wir schreiten durch uns selbst dahin, Räubern begegnend, Geistern, Riesen, alten Männern, Weibern, Witwen, warmen Brüdern. Doch immer im Grunde uns selbst.“

Ja!

Montalbanos fünfzehnter Fall

Sizilien im November. Commissario Montalbano beobachtet den Todeskampf einer Möwe.

Später wird sich diese Szene vor seinem inneren Auge mit einem Menschen wiederholen. „Der Tanz der Möwe“ von Andrea Camilleri ist genauso spannend, wie alle seine Kriminalromane mit dem genauso genialen wie verschrobenen Kommissar vorher.

Ehe man sich versieht, ist der Fall gelöst.

Die Menschen in den Romanen begleiten die Lesenden nun schon einige Jahre. Man kennt deren Macken und deren liebenswerte Seiten.

Und immer macht die Lektüre dieser Romane Appetit auf die wundervollen Gerichte, die in den Restaurants oder von der Haushälterin zubereitet, verspeist werden. Appetit auch auf Meer, auf Sizilien, auf das Leben.

Lesende, was wollt ihr mehr?

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Über heute, gestern und vorgestern und über alles andere und einen fiktiven Vermeer

Was werden Menschen in hundert Jahren mit IKEA oder dem DIXI Klo anfangen? Wenn man das in einem Roman schreibt, beabsichtigt man offenbar einen besonderen Bezug zur Gegenwart herzustellen.

Im Stile eines Volker Kutschers wird die Geschichte entwickelt. Berlin in der Gegenwart der erfolglos vor sich hin promovierenden Hannah und in der Vergangenheit ihrer Urgroßmutter.

Mit der Geschichte der letzteren entwickelt die Autorin, Alena Schröder, die Geschichte der deutschen Vergangenheit. Das Aufkommen der Nazis, die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die widerrechtliche Aneignung von Gemälden zum Zwecke der Finanzierung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates.

Hannah, die regelmäßig ihre Großmutter Evelyn im Altersheim besucht, findet das Schreiben einer israelischen Anwaltskanzlei, in dem diese der Großmutter ihre Dienste „in einer Restitutionssache anbot“. Es ginge um von den Nazis konfiszierten und nunmehr verschollenen Kunstvermögen. Es ginge um wertvolle Gemälde bedeutender Maler aus verschiedenen Epochen. Möglicherweise sei auch ein Bild des Holländers Jan Vermeer darunter: „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“.

Großmutter Evelyn will nichts damit zu tun haben, nicht einmal über diese Zeit und ihre Geschichte will sie reden, aber die sonst eher prokrastinierende Hannah, unglücklich in eine Affäre mit ihrem Doktorvater verstrickt, legt sich nunmehr ins Zeug. Ob am Ende das Gemälde gefunden wird, verrate ich ebenso wenig, wie uns die Autorin verrät, ob Hannah schwanger ist (oder habe ich das überlesen, weil mich der Roman dann doch nicht so fesselte?).

Dieser Roman ist in der Sparte Trivialliteratur zu führen. Daher ist es auch egal, ob die Autorin Tchibo und IKEA und so weiter aufführt, weil den Roman in wenigen Jahren sowieso niemand mehr lesen wird.

Neben schrägen Metaphern, wie der folgenden: „Seine eigene Faszination war ihm manchmal unheimlich, es war ein bisschen wie Pornogucken, eine merkwürdige Mischung aus Schuldgefühlen und Reizüberflutung.“, gibt es auch sehr gelungene, wie „mitten in ihre bewölkte Seele geschaut“.

Trotzdem, dieser Roman ist zum schnellen Verzehr geeignet, wie ein Joghurt mit gerade schon abgelaufenem Haltbarkeitsdatum.

Lesen oder auch nicht und schnell zur nächsten Lektüre!

Betrachtungen eines Ohrensesselsitzers

Der Schriftsteller ist noch nicht lange aus London zurück in Wien als er auf dem Graben von den Eheleuten Auersberger zu einem künstlerischen Abendessen eingeladen wird. Er hatte ein Zusammentreffen mit den Auersbergerischen vermeiden wollen und dann treffen sie ausgerechnet am Todestag der gemeinsamen Freundin Joana aufeinander. Joana hat sich das Leben genommen. Am Tage der Beisetzung findet dann am Abend das künstlerische Essen statt. Ein Burgschauspieler ist der „Stargast“ und alle Gäste müssen warten, bis dieser seine Vorstellung (Die Wildente) beendet hat.

So warten alle auf den Schauspieler und der Ich-Erzähler sitzt in einem Ohrensessel, in dem er schon vor zwanzig Jahren gern gesessen hat, beobachtet die Gäste, lauscht den Gesprächen und lässt die Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte sowie der an diesem Tage stattgefundenen Beisetzung der Joana, sie hatte sich erhängt, Revue passieren.

Thomas Bernhard nennt seinen Roman „Holzfällen“ „Eine Erregung“. Und um es gleich zu schreiben, dieser Roman ist so typisch im „Bernhard Sound“ verfasst, also großartig, dass ich kaum mit der Lektüre aufhören konnte.

Der Roman rechnet mit dem Kunstbetrieb ab, mit den Menschen, die vermeintlich anderen helfen wollen und naturgemäß vor allem sich selber therapieren. Er rechnet mit Wien und mit Österreich ab, mit allen Menschen.

Schon das einleitende Voltaire-Zitat macht die Haltung des Ich-Erzählers, also des Thomas Bernhard, deutlich: „Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich.“

Der Roman ist streckenweise lustig, er beschreibt genau Lebenssituationen und die Lesenden in ihren Ohrensesseln folgen schmunzelnd den Tiraden des Ohrensesselsitzers. Das Burgtheater ist nur eine „theatralische Dichtervernichtungs- und Schreianstalt“, sein früherer Förderer, der Komponist Auersberger, der als Webern Nachfolger „gefeiert“ wird, ist „noch hundertmal dürftiger als der dürftige Anton von Webern …, den ich, wie die stumpfsinnigen Literaten den Paul Celan sozusagen als beinahe wortlosen Dichter, als beinahe tonlosen Komponisten bezeichnen muss.“

Und „Wien ist eine fürchterliche Genievernichtungsmaschine, dachte ich auf dem Ohrensessel, eine entsetzliche Talentzertrümmerungsanstalt.“

Es ist nicht schwer zu entschlüsseln, wer sich hinter dem Komponisten, wer sich hinter Joana verbirgt. Der junge Thomas Bernhard verkehrte in dem Kreis des Komponisten Gerhard Lampersberger und dessen Frau, die einen Künstlerkreis in Wien unterhielten und sich oft in Maria Saal aufhielten. Im Roman nennt sich der Ort Maria Zaal, Und Joana ist niemand anderes als Ingeborg Bachmann.

Doch zurück zu dem wundervollen Roman. Im Ohrensessel erinnert sich der Erzähler an dieses Maria Zaal und was daraus wurde. „Da, wo noch vor zwanzig Jahren die schönsten Wiesen und Weiden gewesen sind, stehen jetzt Dutzende sogenannter Einfamilienhäuser, eines hässlicher als das andere, zum Großteil sogenannte Fertighäuser, die ihre Erwerber direkt aus den Lagerhäusern der Umgebung bestellen konnten, schauerliche Betonwürfel, auf die von schlampigen Spenglermeistern billige Welleternitdächer genagelt worden sind. Da, wo ein Wäldchen war, da, wo ein Garten aufblühte im Frühjahr und in seinen allerschönsten Farben zur herbstlichen Verwelkung gekommen war, wuchern jetzt die Betongeschwüre unserer Zeit, die auf Landschaft, überhaupt auf Natur, keinerlei Rücksicht mehr nimmt, und die nur von der politisch motivierten Geldgier beherrscht ist, von der gemeinproletarischen Betonhysterie, dachte ich auf dem Ohrensessel.“

Der Schauspieler trifft weit nach Mitternacht ein, das Essen ist schlecht und die Stimmung wird immer gereizter, bis der Schauspieler die Anfeindungen einer Frau nicht mehr ertragen kann und sich, nachdem er dieser und allen anderen die Meinung gesagt hat, verabschiedet. Alle brechen auf, auch unser Erzähler, der aber der Gastgeberin nicht die Wahrheit sagt, sondern sich mit falschen Lobeshymnen verabschiedet. Ihr künstlerisches Abendessen sei ihm ein Vergnügen gewesen, wo es ihm doch nichts weniger als abstoßend gewesen war.

Warum machen so etwas Menschen? „Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir die Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit.“

Er läuft durch das menschenleere Wien und denkt währenddessen, „dass diese Stadt, durch die ich laufe, so entsetzlich ich sie immer empfinde, immer empfunden habe, für mich doch die beste Stadt ist, dieses verhasste, mir immer verhasst gewesene Wien, mir auf einmal jetzt wieder doch das beste, mein bestes Wien ist und diese Menschen, die ich immer gehasst habe und die ich hasse und die ich immer hassen werde, doch die besten Menschen sind, dass ich sie hasse, aber dass sie rührend sind, dass ich Wien hasse und dass es doch rührend ist, ….“

Und er denkt, dass er über dieses künstlerische Abendessen gleich und sofort etwas schreiben müsse, egal was, nur gleich.

„… gleich immer wieder, durch die Innere Stadt laufend, gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist.“

Es war nicht zu spät! Thomas Bernhard hat einen wunderbaren Roman geschrieben, dachte ich beim Lesen der letzten Sätze des Romans in meinem Ohrensessel.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein (k)alter Fall

Kriminaldirektor a. D. Manz soll als Zeuge „Vor Gericht“ aussagen. Er war 1990 mit seiner ehemaligen Kollegin Ermittler in einem Mordfall in Berlin-Buckow.

Ab Januar 1991 war er dann schon in Dresden tätig, seine Kollegin stirbt zu dieser Zeit an einem Hirntumor. Die Ermittlungen schleppen sich hin und verlaufen zunächst im Sand. Erst Jahre später wird ein Verdächtiger angeklagt, weil sich seine DNA auf den Nägeln des Mordopfers befand (auf den Nägeln, nicht darunter).

Manz bereitet sich auf seine Aussage in dem Prozess vor. Bei dieser Vorbereitung kommen ihm die Geschehnisse der weit zurückliegenden Zeit in Erinnerung. Seine kurze Affäre mit Vera, der Kollegin, beispielsweise. Er reflektiert seine lange Ehe mit seiner Gattin, sein Verhältnis zu den gleichalten Freunden im Ruderclub.

Alles erzählt der Autor, Matthias Wittekindt, sehr langsam, geradezu schleppend. Die Lesenden warten auf den großen Knall, warten auf mehr Tempo in der Erzählung, warten auf Geständnisse im privaten Umfeld. Aber nichts dergleichen, ohne jetzt zu spoilern, passiert.

Mein Trost lautet: schnell weiter zur nächsten Lektüre!

Der Fall Arbogast

Im Jahre 2001 legte Thomas Hettche den Kriminalroman „Der Fall Arbogast“ vor.

Der Roman lehnt sich an einen tatsächlichen Fall aus den 50er Jahren in der noch jungen Bundesrepublik an. Einzelheiten können sich interessierende Lesende gern im Netz erschließen; Stichwort „Der Fall Hans Hetzel“.

Die Geschichte eines Justizirrtums, die nahezu 50 Jahre vor dem Erscheinen des Romans erfolgte. Erklärbar aus einem Gemisch der politischen Verhältnisse, der Vorstellungen von Sitte und Moral und der Einflussnahme eines Gutachters auf den Fall.

Erst vierzehn Jahre später wird in einer Neuaufnahme des Verfahrens der Angeklagte freigesprochen. Auch in der neuen Verhandlung trägt das Gutachten einer Pathologin der Charité, damals DDR, erheblich dazu bei, ein für den Angeklagten Arbogast günstiges Urteil zu erreichen (in der Realität war es der Pathologe Otto Prokop).

Hettche erzählt sehr ausführlich und dabei durchaus spannend den langen Weg von der ersten Verurteilung über gescheiterte Wiederaufnahmeversuche bis hin zu dem zweiten Prozess. Er belässt bei den Lesenden immer eine Spur des Zweifels an der Unschuld des Angeklagten. War es nur ein „Sexunfall“ oder war es eine Tötungsabsicht?

„Wir haben uns nur geliebt, und dann war sie plötzlich tot. Das ist die Wahrheit.“ Ist es die Wahrheit?

Hettche gelingt, die Schilderung eines sich im Gefängnisalltags verändernden Lebens. Das Individuum wird zurückgedrängt. Weihnachten erkennt man daran, dass es Schokoladenpudding zum Nachtisch gibt.

Der Roman, durchaus erotisch an vielen Stellen aufgeladen, erweist sich als „Pageturner“. Fast nebenbei schildert er das sich ändernde Alltagsleben in der Bundesrepublik Deutschland in den Zeiten des Wirtschaftswunders, bis hinein in die Zeit der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Brandt.

„Die Nachricht von Borgwards Pleite war dann 1961 eine der Meldungen gewesen, die Arbogast plötzlich der Gleichförmigkeit hier drinnen entriss und ihn spüren ließ, was es bedeutete, dass Zeit verging. Dass nämlich bald nichts mehr so sein würde, wie er es kannte.“

„Was ich noch sagen wollte. Die Zuchthausstrafe wird 1969 abgeschafft. Im nächsten Jahr erhalten Sie also Ihre bürgerlichen Ehrenrechte zurück“, sagte er im Hinausgehen. „In diesem Sinne fröhliche Weihnachten; Arbogast!“

Im Jahre 1969 erfolgt im November dann die Revision des ersten Urteils.

Eine spannende Lektüre, ohne jede Frage!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Eine trübe Geschichte

Von Zeit zu Zeit greife ich zu einem der Romane aus der „Menschlichen Komödie“ des großen Honoré de Balzac. Es ist sein geschliffener Stil, der mich jedes Mal in seinen Bann zieht. Es ist die Ehrfurcht vor der Schaffenskraft dieses Genies. In wenigen Monaten, manchmal Wochen oder sogar nur Tagen entstanden Geschichten, für die andere Menschen Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte benötigten. Natürlich bedeutet es auch, dass es in diesem literarischen Kosmos auch schwächere Romane gibt. Einen solchen Roman habe ich jetzt gerade gelesen. Und dennoch: Selbst die Lektüre dieses Romans „Eine dunkle Begebenheit“ oder in anderer Übersetzung „Eine dunkle Geschichte“ lohnt sich.

Wo werden schon Personen in so wenigen Zeilen, so eindrücklich charakterisiert?

„Er unterschied sich sehr von seinem Bruder, einem Mann von gewalttätigem Aussehen, einem großen Jäger und unerschrockenen Soldaten, der, voller Entschlossenheit, aber materiell gesinnt, ohne geistige Regsamkeit und ohne Feingefühl in den Dingen des Herzens war.“

Wo findet man in einem 1842 geschriebenen Roman Zeilen über ein sich wandelndes Frauenbild, wie hier?

„Soweit es sich um Empfindungen handelte, gehörte der Ältere der d’Hauteserres zu jenen Männern, die die Frau als vom Manne abhängig ansehen; sie beschränken ihr Recht auf Mütterlichkeit auf das rein Physische, verlangen jede Vollkommenheit von ihr, aber rechnen sie ihr nicht an. Ihrer Meinung nach ist die Anerkennung der Frau in der Gesellschaft, in der Politik, in der Familie ein sozialer Umsturz.“

Und wie gut der Roman ist, wird deutlich, wenn man den folgenden Satz liest und ihn in den Zusammenhang der Geschichte rückt: „Es gibt immer Wölfe, wo es Schafe gibt.“

Dieser Roman ist fast ein Vorläufer eines Kriminalromans. In diesem Roman wird es einen Prozess geben, mit Verurteilungen und eine Begnadigung ist nur durch Napoleon möglich. Es geht um einen Komplott gegen junge Adlige, die in der französischen Revolution ihre Güter verloren haben. Es geht um jene, die sich solche Ländereien unter den Nagel gerissen haben und nun fürchten, diese Besitzungen wieder zu verlieren. Getreu der Devise: „Billig ist nichts, wenn man bezahlen muss.“, steht für alle viel auf dem Spiel. Eine Entführung, die man anderen in die Schuhe schieben kann, wird angezettelt und entwickelt sich zur Falle für die jungen Edelleute.

Der Roman ist auch eine reizende Liebesgeschichte zwischen einer jungen Marquise und zwei jungen Edelleuten. Diese Frau, Laurence, ist eine selbstbewusste, starke Frau, eine der vielen starken Frauen dieses Autors.

Und immer sind es diese kleinen Beschreibungen, die heute noch genauso gültig sind: „Nach den unumgänglichen Fragen nach der Familie, nach der Marquise de Chargeboeuf und nach all den in Grunde ganz gleichgültigen Dingen, für die man sich aber aus Höflichkeit lebhaft interessieren muss, …“ oder: „Wenn die Menschen ehrlich wären, würden sie vielleicht zugeben, dass niemals ein Unglück über sie hereingebrochen ist, ohne dass sie zuvor irgendeine offene oder geheime Warnung erhalten hätten.“

Am Ende hat Laurence den einzigen der vier überlebenden Edelleute geheiratet und ist Mutter einer Tochter.

Schließlich: „Die Gesellschaft gleicht dem Ozean, sie nimmt nach einer Katastrophe ihr Niveau und ihr früheres Verhalten wieder an und verwischt die Spur des Geschehenen durch das Sichregen ihrer verzehrenden Interessen.“

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Dorfgeschichten aus dem Poitevin oder une plaisanterie rabelaisienne

Die Ethnologie ist eine Sozialwissenschaft, die die Vielfalt menschlicher Lebensweisen aus einer sowohl gegenwartsbezogenen als auch historisch verankerten Perspektive erforscht; besagt ein Eintrag auf Wikipedia.

Diese Definition im Kopf und die Information, dass die Menschen während der Lektüre des zu besprechenden Romans an die ständige Wiedergeburt denken sollten, macht das Buch zu einem einzigartigen Lesevergnügen.

Dem Einwand, dass die Kenntnisse der Werke von Rabelais, Reclus, Lotti, d’Aubigné oder Malinowski zum Verständnis des Romans zwingend erforderlich wären, widerspreche ich nachdrücklich.

Also hinein ins Lesevergnügen!

David Mazon, ein dreißigjähriger Anthropologe, hat ein Stipendium erhalten, um seine Doktorarbeit über das Leben auf dem Lande, dem Poitevin, zu verfassen. Er mietet sich in einem kleinen Dorf ein, bekommt schnell Kontakt zum Bürgermeister des Ortes, der ihm helfen will, geeignete Menschen für ein Interview zu bekommen. Hauptberuflich ist der Bürgermeister Bestatter in dem Ort. In Mazons Tagebuch, denn damit beginnt der Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“ von Mathias Enard, können wir lesen: „Ich war noch nie bei einem Bestatter, dabei ist es eine weltweit verbreitete Tätigkeit, soweit ich weiß. Und mit Sicherheit das älteste Gewerbe der Welt, älter noch als das andere. Vielleicht teilen sie sich auch den ersten Rang.“

Bei seinen „Recherchen“ lernt er Max, einen Künstler kennen. „Er wohnt seit zehn Jahren im Dorf. Er kennt jeden in diesem verlorenen Kaff (sic!). Ich erfuhr allerhand halbgare Geschichten über jeden und bedauerte es, mein Aufnahmegerät nicht mitgenommen zu haben. Max unterscheidet die, die im Dorf leben, von denen, die sich damit begnügen, dort zu wohnen, und die man nie sieht: die Besitzer der Einfamilienhäuser aus der Siedlung; Leute aus der Stadt, hauptsächlich Beschäftigte im Dienstleistungssektor, deren Hauptaktivität darin besteht, ihr Grundstück blickdicht zu machen, …“

Gary, den Gatten seiner Vermieterin Mathilde, porträtiert er: „Er wusste, dass seine Lebensweise, seine und die seiner Eltern, im Begriff war zu verschwinden, dass die Zeit, die Gebräuche und die Landschaften für immer veränderte.“

Aber unser Doktorand kommt nicht so recht voran. Zu groß sind die Ablenkungen, die nächtlichen Chats mit seiner Freundin in Paris, die Gespräche in der „Dorfkneipe“, die junge Lucie, die ihren Großvater pflegt und sich um einen liebenswerten, allerdings beschränkten Cousin kümmert, der Ereignisse, die zu einem Tag gehören aufzählen kann, in einer Autowerkstatt hilft und so vieles mehr.

Die Bestatter freuen sich auf ihr bevorstehendes Gelage, an dem die Arbeit für zwei Tage ruht. In dem Berichtsjahr ist der Bürgermeister der Veranstalter des Banketts, zu dem die Bestatter aus ganz Frankreich anreisen. Dieses Bankett wird ausführlich geschildert, die Aufzählung der vielen Gänge macht Appetit (nur ein kurzes Zitat: „Gut gefettet mit geschmolzenem Speck aus dem Flamboir und großzügig mit einer Sauce aus Sauerampfer und Feldthymian bepinselt, verströmten die Hasen einen Duft wie ein englischer Rasen, wie ein korsisches Wäldchen, wie ein Sumpf, den man trockenlegt: Kraft, Zartheit, Laune der Natur.“) und ich gestehe, ich wäre gern dabei gewesen. Und warum Totengräber? „Totengräber, die von allen Menschen am meisten am Leben hingen, weil sie mit dem Tod lebten“.

Der Einfall, die Wiedergeburt als eine unumstößliche Tatsache in dem Roman darzustellen, ermöglicht, in den Zeitebenen hin und her zu springen. Immer bleiben wir in dem Gebiet, das westlich von La Rochelle und der Ile de Ré begrenzt wird. Und so finden wir uns irgendwann im Mittelalter wieder, springen nach vorn und kommen bei einem der heutigen Dorfmenschen an. Der Pfarrer der Gemeinde, stirbt und seine Seele findet sich sogleich in einem jungen Eber wieder, über dessen Schicksal ich hier nichts weiter schreiben werde. Die Lesenden werden es vergnügt verfolgen. Die Totengräber wissen: „Was auch immer mit der subtilen Materie der Seele geschieht, der Körper kehrt immer in die Hände der Bestatter zurück.“

Manche Menschen spüren durchaus, „wie sich das Große Rad drehte, das die Lebewesen vom Tod zur Geburt und von der Wiedergeburt zum Tode trägt, …“

Manchmal schickt eine „Kette von ursächlichen Zusammenhängen nach einer sehr kurzen Reise durchs Bardo die Seele „mehr als vierhundert Jahre früher ins Leben zurück, denn das Schicksal, wo alles miteinander verbunden ist, in einem riesigen Geflecht unsichtbarer Fäden, kennt keine Zeit.“

So ganz nebenbei erfahren die Lesenden, was es mit der Bȗche de Noȅl auf sich hat, wie sie zu dem „Weihnachtsgebäck“ der Franzosen wurde.

David Mazon hätte nur weiter nach den Geschichten im Dorfe suchen müssen. „Dorfgeschichten, wo sich unter jedem Stein eine schreckliche Anekdote, Eifersucht, Feindseligkeit verbergen.“ Stattdessen wird er mit Lucie Obst und Gemüse heranziehen, um der Klimakatastrophe etwas entgegenzusetzen.

Der Roman besteht aus verschiedenen Teilen. Zu Beginn und am Ende lesen wir die Tagebucheinträge des Doktoranden. In der Mitte gibt es von einem auktorialen Erzähler die Geschichten über Menschen im Poitevin und den Bericht über das Totengräberbankett. Zwischen diesen sind jeweils noch kurze Geschichten eingefügt (Zwischenspiele, hier Chansons genannt), die ebenfalls immer in der Gegend spielen und die sich auf Volks- und Kinderlieder beziehen. Ethnologisch bedeutsam und so hätte dann auch die Doktorarbeit des David Mazon ausschauen können. Gut, dass es ein phantastischer Roman des großartigen französischen Schriftstellers geworden ist.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Meisls Gut

„Es ist, wie Sie sehen werden, ein Roman mit einem etwas eigenwilligen Aufbau. Die einzelnen Kapitel sehen aus und lesen sich wie selbständige Erzählungen, und es dauert einige Zeit, ehe man darauf kommt, dass man Kapitel einer eigentlich ziemlich straffen Romanhandlung vor sich hat, die aber nicht chronologisch erzählt wird.“ Diese Erklärung liefert der Autor des Romans seinem Verleger zum besseren Leseverständnis. Gleichwohl wird der Verleger Zsolnay die Herausgabe 1951 ablehnen. „… wie sehr ich Ihr Werk liebe und schätze, dass ich aber nicht glaube, es mit Erfolg bei der gegenwärtigen Einstellung der Leser in Deutschland und Österreich herausbringen zu können.“ Der „jüdische Stoff sei der Publikation hinderlich“ mutmaßte Hans-Harald Müller, der Herausgeber meiner Romanausgabe.

Leo Perutz wollte seinen Roman ursprünglich unter dem Titel Meisls Gut publizieren, er kam dann 1953 mit großem Erfolg unter der Überschrift „Nachts unter der steinernen Brücke“ heraus.

Der Roman spielt vor und kurz nach dem Beginn des dreißigjährigen Krieges in Prag. Er zeigt, die nur im Traum bestehende Liebe zwischen Kaiser Rudolf II. und der schönen Jüdin Esther, der Gattin des reichen Mordechai Meisl. Der Rabbi Loew muss diese real ja gar nicht existierende Liebe lösen, um die Pest aus Prag zu vertreiben. Rudolf, der von Meisl finanziert wird, fällt nach dieser Trennung immer mehr in Melancholie, Esther stirbt und Meisl, der erst spät hinter das Geheimnis der Liebe zwischen seiner Frau und Rudolf kommt, investiert all sein Gut in den Um- und Ausbau des jüdischen Viertels von Prag. Sein Geld wäre nach seinem Tode in die Kassen des Kaisers gespült worden. Seinen Verwandten hinterlässt er nur Bett und Schrank und einige Schriften.

Dieser Roman ist ein Wunder an Sprachwitz: „Ich geb‘ nichts drauf, was fremde Leut‘ daherreden. Ein Tauber hat gehört, wie ein Stummer erzählt hat, dass ein Blinder gesehen hat, wie ein Lahmer auf dem Seil tanzte.“

Dieser Roman ist eine Sammlung an Weisheiten: „In meinem Herzen … halten Furcht und Hoffnung einander das Gleichgewicht. Aber es ist nun einmal so und auch der Dichter Petrarca hat es gesagt, dass im menschlichen Leben weit öfter die Furcht als die Hoffnung sich verwirklicht.“

Dieser Roman ist ein Glanzstück deutschsprachiger Literatur; daher kann ich das Werk nur allen Lesenden zur Lektüre empfehlen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Das kurze Leben des Andrew Marbot

Ein Autor, der Malerei in London studierte, sich dann auf die Literatur verlagerte, eine vielgerühmte Biographie über Mozart verfasste, schreibt „Marbot – Eine Biographie“. Der Autor ist Wolfgang Hildesheimer.

Im Anhang des Werkes finden die Lesenden ein Personenregister; von Leon Battista Alberti bis William Wordsworth, viele Namen ganz großer Geister tauchen auf: Byron, Corot, Goethe und Schopenhauer, um nur einige zu nennen. Die meisten standen mit Marbot im Austausch, einige hat er besucht und mit ihnen Gespräche geführt.

Allerdings sucht man vergeblich nach diesem Andrew Marbot, er ist eine Kunstfigur, eine Erfindung des Autors. Auf dem Umschlagrücken wird der Kritiker Joachim Kaiser zitiert: „Glanzstück souveräner Wirklichkeits-Erfindung!“

Damit könnte ich die Besprechung beenden, aber so schnell sollte es dann doch nicht geschehen.

Unser erfundener Held wird in ein inzestuöses Verhältnis mit der eigenen Mutter verstrickt. Das Verhältnis (die Biographie umfasst die fiktive Lebensspanne Marbots von 1801 bis 1830) währt nur kurz, Marbot verlässt England und wird die letzten Jahre seines Lebens in Italien verbringen.

Er hat früh begriffen, dass sein Talent nicht ausreicht, um selbst Maler zu werden. „Er war sich sein Leben lang darüber im Klaren gewesen, dass er nicht der wurde und geworden war, der er hatte werden wollen, und sein Tod war die Bekräftigung dieser Tatsache.“

So beschäftigt er sich mit der Malerei: „… die Flucht vor dem Leben in die Kunst, die auszuüben ihm versagt blieb, …“Genauer beschäftigte er sich mit der Frage, was den Künstler antrieb: „… ein tiefes, ja, vehementes Engagement in der Erforschung von Beziehungen zwischen Movens und Agens im schöpferischen Prozess; …“

Geschickt auch des Autors Schachzug, so zu tun, als nähme Marbot psychoanalytische Aspekte, die Freud beinahe ein dreiviertel Jahrhundert später einführen wird, vorweg. „Er war der erste und für beinah ein Jahrhundert der Einzige, der zum einzelnen Kunstwerk die Frage nach seiner Motivation im Unbewussten und damit seiner seelischen Herkunft gestellt hat.“

Hildesheimer hätte diese Fragen in einer wissenschaftlichen Abhandlung stellen können, er wählte aber die Form des Romans oder eben jener Wirklichkeits-Erfindung. Zur Freude und zum Genuss der Lesenden!

„Die Antwort des Kunstwerkes richtet sich nach der Frage des Betrachters, und nur wer die Frage nach seinem Wesentlichen an es heranträgt, dem antwortet dieses Wesentliche. Doch die Frage nach dem größten Geheimnis beantwortet es niemandem, nämlich die nach jener seelischen Notwendigkeit, der es seine Entstehung verdankt. Daher werden wir mit Gewissheit nichts von dem erfahren, was im Künstler vorgegangen ist, außer seinem Gebot, was in uns vorzugehen habe. Der Künstler spielt auf unserer Seele, aber wer spielt auf der Seele des Künstlers?“

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Schatzsuche – ein weiterer Fall für Commissario Montalbano

Dieser Kriminalroman kommt, wie eine Katze, auf leisen Pfoten daher. Es ist der sechzehnte Fall des Commissario Montalbano, der Figur des grandiosen Schriftstellers Andrea Camilleri. Der Titel der deutschen Übersetzung lautet „Das Spiel des Poeten“. Der Originaltitel „La caccia al tesoro“, eben die Schatzsuche, gefällt mir persönlich viel besser.

Zu Beginn des Romans kam während der Lektüre bei mir die Befürchtung auf, das wird eine wenig inspirierende Geschichte. Der Kommissar wird älter, immer wieder hält er Zwiesprache mit seinem alter Ego, immer häufiger isst er eindeutig mehr als zuträglich und immer öfter geht ihm und seiner Leserschaft die Freundin Livia auf die Nerven.

Doch dann entwickelt sich eine höchst spannende Geschichte, ein grausames Verbrechen geschieht und das letzte Stündchen …

Doch hier höre ich auf, denn ich will niemand die spannende Lektüre verderben.

Und wieder einmal träumte der Autor dieser Zeilen von Sizilien, dem Meer, dem Wein und auch ein wenig von den Frauen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Underground Railroad

Erst jetzt bin ich dazugekommen, den hochgelobten und unter anderem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Roman von Colson Whitehead zu lesen: „Underground Railroad“.

Im Amerika der Zeit vor dem Bürgerkrieg gab es ein Netzwerk von Menschen, die geflohene Sklaven zu einem Leben in Freiheit verhelfen wollten. Sie hatten verschiedene Funktionen übernommen, die mit den Bezeichnungen der Eisenbahner bezeichnet wurden: Stationsvorsteher, Lokomotivführer. Es gab aber kein Eisenbahnnetz, keine unterirdischen Tunnel. Doch dieser Dreh des Autors macht die Aufgabe der Menschen deutlicher. Sie wirkten im Untergrund!

Der Roman besteht aus drei, sich abwechselnden Segmenten: Anzeigen aus Zeitungen, die eine Belohnung für geflohene Sklaven ausloben. Kurze Abhandlungen über bestimmte, im Roman vertretene Personen, deren Schicksal ausführlicher dargestellt wird. Schließlich die „Stationen“ der Flucht Coras, der Hauptfigur des Romans.

Ich gestehe, dass mich die Lektüre nicht gefesselt hat. Die Erzählung ihrer Kinder- und Jugendzeit von Maya Angelou oder der Richard Powers Roman „Klang der Zeit“ nahmen mich ganz anders mit. Underground Railroad ließ mich kalt.

Sätze wie „Eine Plantage war eine Plantage; man mochte sein Leiden für einmalig halten, aber der wahre Horror lag in ihrer Universalität.“ Bringen bei mir nichts zum Schwingen. Und manche Stellen lösten bei mir Kitschalarm aus: „Ein Luftzug kitzelte Coras Haut. Sie trank die Luft in tiefen Zügen wie Wasser, der Nachthimmel war die beste Mahlzeit, die sie je gehabt hatte, und die Sterne erschienen ihr nach ihrer Zeit unter der Erde reif und saftig.“

Damit keine Zweifel aufkommen: dieser Roman ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des immer noch schrecklich lebendigen Rassismus. Und dennoch ist dieser Roman nicht mein großer Favorit.

Heldensagen

Schon von der Nacherzählung der alten Göttersagen von Stephen Fry mit dem Titel „Mythos“ war ich begeistert. Nun legt der Mann nach und erzählt in schon bewährter Form die klassischen Sagen der Antike neu: „Helden“. In einer modernen Sprache, in entstaubter Fassung und genauso so witzig, wie das Vorgängerbuch.

Besonders dankbar bin ich dem Autor, dass er ein umfangreiches Personenverzeichnis im Anhang aufführt. Bei den vielen Namen, manchmal ja sogar dieselben Namen für verschiedene Gestalten, könnten die Lesenden schon durcheinandergeraten.

Ausführlich widmet er sich den Geschichten von Herakles, Jason, Perseus und Theseus. Auffällig sind manche Ähnlichkeiten der Geschichten: die Helden mussten sehr ähnliche Aufgaben lösen, kämpften mit hinterhältigen Herrschern und konnten ihren Schicksalen nicht entgehen. Aber das ist ja bis heute nicht anders.

In einem klugen Nachwort geht der Autor der Frage nach, wie es zu diesen Sagen gekommen ist. „Es gibt Menschen, die glauben, dass Mythen wie Perlen sind, die sich um ein Körnchen Wahrheit gebildet haben.“

Er kommt auch auf die psychologischen Fragen zu sprechen: „Wissenschaftler und Mythographen sind an der sogenannten doppelten Determination interessiert: die Tendenz von Dichtern, Dramatikern und anderen Autoren, die Macht des Handelns und seine Ursächlichkeit beidem zuzuschreiben, der inneren Person und dem äußeren Einfluss, einem Gott oder Orakel beispielsweise.“

Wir Menschen wissen bis heute nicht, was uns antreibt. „Die Götter in den griechischen Mythen stehen für menschliche Motive und Antriebe, die uns immer noch rätselhaft vorkommen.“

Mit diesem Nachwort lässt uns der Autor zurück. Wir haben nun ganz viel Stoff über uns, unser Handeln und unseren Antrieb nachzudenken. Weil wir Lesenden schließlich auch irgendwie Helden sind.

Ich kann die Lektüre dieses Buches nur empfehlen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Seelenwärmer

Man stelle sich vor, einen Roman zu lesen, der sich liest, als sei er von Jane Austen verfasst.

Die junge Louisa schlägt Alvey, einer Mitschülerin, im gemeinsamen Internat eine Täuschung vor: sie solle an ihrer Stelle in ihr Elternhaus fahren, schließlich sehen sich die beiden jungen Frauen sehr ähnlich und die Aydons haben die Tochter vier Jahre nicht mehr gesehen. So kann die richtige Tochter als Missionarin nach Indien gehen.

Wir befinden uns im Jahre 1815. Napoleon hat gerade Waterloo erlebt. James, der Halbbruder aus erster Ehe von Sir Aydon hat dort ein Bein verloren. Er wird mit einem Freund einige Zeit auf dem Gut verbringen und will dem Vater beibringen, seinen Dienst quittiert zu haben, um in Edinburgh Medizin studieren zu können.

James soll einen unehelichen Sohn mit einer jungen Frau aus dem Dorf haben. Der kleine Junge wird von Sir Aydon verwöhnt als sei der Kleine sein eigener Sohn. Die junge Frau dient Lady Aydon als Amme für deren letztes Baby. Der kleine Junge wird ertrunken aus einem Brunnen geborgen, die verzweifelte Mutter stürzt sich von einem Felsen.

In dieser Situation kommt Alvey auf dem Gut an. Nur die beiden ältesten Schwestern der mit dem Missionsgedanken ausgefüllten jungen Frau wissen von dem Tausch. Alvey, charakterlich gänzlich anders als Lousia, wird in kurzer Zeit sehr beliebt auf dem Gut. Sie kümmert sich um zwei jüngere „Geschwister“, kommt mit der Großmutter sehr gut aus und nur zu einer weiteren „Schwester“ findet sie keinen Zugang.

Die Ereignisse spitzen sich zu, es gibt Turbulenzen am laufenden Meter. Und als Louisa, inzwischen verheiratet, ihre Mitgift bei ihrem Vater einfordern will, ist Alvey gezwungen, das Gut und all die Menschen, die ihr so ans Herz gewachsen sind, Hals über Kopf zu verlassen.

Sie hatte ein Buch auf dem Gut geschrieben, das von einem Verleger angenommen wurde und nun einen großen Erfolg feiert.

Wie es alles weitergeht, wird hier natürlich nicht verraten.

Die Autorin Joan Aiken, hat tatsächlich einige Romane im Stile der Jane Austen verfasst. Dieser Roman „Du bist ich“ gehört aber nicht dazu. Bei der großen Austen ist den Lesenden immer sehr schnell klar, wer wen heiraten wird, wer welches Schicksal erleidet. Bei der großen Aiken ist das nicht der Fall. Es gibt unvorhergesehene Wendungen, die Lesenden tappen durchaus in die eine oder andere Romantikfalle.

Bei Jane Austen erfährt man nichts vom Krieg, anders als bei Joan Aiken. Hier erzählt James aufgebracht seinem Vater von den Erlebnissen auf dem Schlachtfeld: „Auf jenem Feld … an jener Hecke, wo Pictons Fünfte das Corps von d’Erlon in die Flucht schlug … da lagen Arme und Beine herum wie … wie Äste nach einem Sturm. Die … die Leichen lagen sechs Fuß hoch …“

Auch eine Reflektion über das eigene Ich findet man so nicht bei Jane Austen: „Wer ist dieses Ich, das beobachtet, wie sie den Baumstamm rollen? Existiere ich? Wie komme ich hierher nach Newcastle, in diese dunkle Stube? Newcastle? Wo ist diese Stadt? Habe ich das Leben auf Birkland Hall geträumt? Oder jenes in New Bedford? Welches Leben war die Illusion? Oder ist alles nur Illusion?“

Joan Aiken hat in einer ganz anderen Zeit als Jane Austen gelebt, sie wurde 1924 geboren und starb 2004. Ihr Roman ist ein funkelndes Juwel, die Lektüre wärmt Herz und Seele und verlangt nach mehr von dieser großen Autorin.

Ich spreche eine klare Leseempfehlung aus.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Europäische Geschichte

Vor einiger Zeit las ich Barbara Tuchmans „Der ferne Spiegel“ in dem das 14. Jahrhundert dargestellt wird. Eine uns ferne Epoche. Auch die erste Hälfte des sogenannten hundertjährigen Krieges wird ausführlich beschrieben. In dem Buch von Bart Van Loo „Burgund – Das verschwundene Reich“ wird der gesamte Krieg dargestellt und – natürlich – sehr viel mehr. Denn der Untertitel des Werkes lautet „Eine Geschichte von 1111 Jahren und einem Tag“.

Nun ist dieser Untertitel ein wenig reißerisch und auch überflüssig. Das Werk aber ist es keinesfalls.

Ein modernes „Geschichtsbuch“ muss – natürlich – in einer heutigen Sprache verfasst sein. Es muss heutige Lesende für Geschichte begeistern können. Für Belgier und Holländer ist dieses Buch so etwas wie ein Heimatkundebuch. Für Lesende aus anderen Nationen sollte es andere Bezugspunkte bereithalten. Für einen Menschen, der in der Europäischen Union lebt, ist es ein Grundlagenbuch der Europäischen Geschichte – zumindest der west- und mitteleuropäischen Historie.

Bart Van Loo schildert die Geburt Burgunds durch Menschen, die aus der Gegend von Bornholm gekommen sind. Die Entwicklung des Landes, seine Höhepunkte und schließlich die „Auflösung“. Er konzentriert sich dabei auf fünf burgundische Herzöge und auf einige sehr starke Frauen.

Philipp der Kühne, Johann Ohnefurcht, Philipp der Gute, Karl der Kühne und schließlich Kaiser Karl V. Bei den Frauen sind es nicht in der chronologischen Reihenfolge: Johanna von Orleans, Margarete von Flandern, Maria von Burgund und Jakobäa von Bayern.

Der Autor hat nicht nur den Ehrgeiz, uns die Geschichte dieses Landes, eines Flickenteppichs, zu erläutern. Er hat ein Hobby, die Etymologie, die er gern bemüht. Mir haben die vielen Erklärungen sehr gefallen.

Beispiel eins: Chlodwig wird zu Ludwig, für Niederländer, Franzosen, Belgier und Engländer wird er Clovis. Daraus wird im Französischen Louis. Westgermanisch setzte sich Chlodwig aus den Begriffen berühmt und Kampf zusammen.

Beispiel zwei: „Er war Senfmacher von Beruf, und bald war das Moult me tarde auf jedem Senftopf aus Dijon zu lesen. Der Legende zufolge verdankt die regionale Spezialität diesem Spruch ihren französischen Namen. … Höchstwahrscheinlich geht das Wort moutarde in Wirklichkeit auf das ursprünglich verwendete Malz zurück, genauer gesagt auf die lateinischen Wörter mustum (Malz) und ardens (brennend).“

Beispiel drei: „Unentbehrlich war der maréchal, der sich als Oberstallmeister um den umfangreichen Pferdebestand kümmerte, … Das Wort maréchal ist germanischen Ursprungs, es entstand in der fränkischen Zeit aus althochdeutsch marah (Pferd, Mähre in der Bedeutung Stute) und scalc (Diener).“

Die Lesenden werden ebenso über den Ursprung des Begriffs Teller, wie über das Wort Dessert aufgeklärt. Ich lernte die Bedeutung von Heirat „über den Handschuh“ kennen.

Ich weiß nun, dass Notker von Sankt Gallen als erster Chronist das Wort Europäer gebrauchte, als er über die Schlacht bei Poitiers im Jahre 732 berichtete.

Eine Geschichte über Burgund muss auch auf den Wein eingehen: 1395 wird in einem Weingesetz die Gamay Rebe aus Burgund verbannt. Der Gamay wurde dann im Süden die bevorzugte Rebsorte im Beaujolais. Der Pinot noir hielt Einzug, der auf den für Burgund typischen Lehm- und Kalkböden besser gedieh.

Und ich gebe zu, mir bisher keinerlei Gedanken über Zeitangaben gemacht zu haben, in einer Zeit als Uhren noch die große Ausnahme waren. Wie soll man ein Kochrezept verfassen, wenn man nicht exakte Angaben über die Garzeit machen kann? „Im berühmten Viandier (um 1380), dem ersten kulinarischen Meisterwerk der französischen Geschichte, machte der Koch und Autor Guillaume Tirel kaum Angaben zur Zubereitungszeit der Gerichte, und wenn, dann anhand einer religiösen Handlung, etwa wenn er seinen Lesern empfahl, einen Braten achtzehn Vaterunser oder dreiundzwanzig Ave Maria lang schmoren zu lassen.“

Und auch zur Uhrzeit: „Mönche waren die Zeiger einer imaginären Uhr, das Kloster ein lebendiges Uhrwerk, die Welt ein von Gott angetriebener Mechanismus.“

Nach der Lektüre weiß ich auch um die Bedeutung des Tour Jean-sans-Peur in der Pariser Rue Étienne Marcel: „Diese ältesten erhaltenen Toiletten der Hauptstadt waren beheizt und hatten Abflüsse innerhalb des Bauwerks, damals eine Ausnahme; …“

Hat das Werk auch Schwächen? Hier und da schießt Bart Van Loo ein wenig über das Ziel hinaus. Die Künstler van Eyck, Maelwael, van der Weyden und van der Goes werden in einen Olymp versetzt, Vergleiche zu anderen europäischen Künstlern nur selten hergestellt. Das wirkt zuweilen leicht provinziell. Und wenn man schon ausführlich Bilder beschreibt, dann sollten diese auch regelmäßig in den Abbildungen auftauchen, die das Buch sehr bereichern.

Aber das ist dann auch schon eine kleinteilige Kritik. Ich möchte die Lektüre dieses sehr gelungenen Werkes nicht missen, sondern dringend empfehlen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Kriminalroman der etwas anderen Art

Der Spiegel schrieb in einer Rezension zu einem Kriminalroman von Heinrich Steinfest: „Heinrich Steinfest ist ein Meister der skurrilen Sprachbilder und alltagsphilosophischer Exkurse.“

Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Diese Bemerkung trifft voll umfänglich auch auf seinen Kriminalroman „Mariaschwarz“ zu.

Um diesen Krimi zu charakterisieren, zitiere ich den Autor gern: Der Kriminalroman ist „frei von einer Donnaleonisierung“.

Was in diesem Roman passiert, fasst, zumindest weitgehend, der Vorgesetzte des Chefinspektors Lukastik zusammen: „Ich habe Sie wegen einer Toten im See zu diesen Wilden geschickt, und jetzt kommen Sie mit einer absurden Plastikfigur daher, einem toten Taxifahrer, mit einem adoptierten Kind, einem Mann, der Sprachen erfindet, und was da noch alles folgen mag.“ Tatsächlich folgt noch einiges!

Dieser Roman ist auch ein „Österreichroman“. Steinfest ist nicht ein ganz so großer Hasser seines Landes wie Thomas Bernhard, dessen „Alte Meister“ eine kleine, aber nicht unwichtige Rolle spielen. Jedoch kommen einige Stellen seines Romans durchaus an den Bernhard-Ton heran, der auch zwischen Zuneigung und Abscheu changierte: „… jenseits davon aber – deutlich wie sonst kaum – das Riesenrad sah, diese merkwürdige, ein wenig lachhafte Sehenswürdigkeit, ohne die man sich jedoch Wien nicht vorstellen konnte. Es gefiel Lukastik, dass die Banalität eines sich drehenden Rades, welches nicht viel anders aussah als eines dieser Laufräder in den Käfigen von Meerschweinchen und Mäusen, dass also ein solches allein von der Größe lebendes Objekt sinnloser Bewegung den Charakter der Stadt mitbestimmte. Er mochte dieses Rad, wie es da am Himmel klebte und an all die Postkarten erinnerte, auf denen es abgebildet war. In der Regel kennt man ja zuerst die Abbildung von etwas und ist in der Folge ganz glücklich, wenn die Wirklichkeit dem Vorbild so halbwegs entspricht.“

Es gäbe noch viel über diesen Roman zu loben, es gäbe noch viele Sätze zu zitieren, wie diesen: „Die Zukunft gibt es, damit sie irgendwann auch eintritt.“ Aber ich will es hierbei belassen. Wie die ganze Geschichte ausgeht und was es mit all den kleinen Sonderbarkeiten zu tun hat (Pfützen, zum Beispiel), verrate ich nicht. Offensichtlich aber ist, meine Leseempfehlung!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Begegnung mit Aleksander Tišma

Im Jahre 2015 kamen wir im Rahmen einer Donau-Radtour nach Novi Sad. Die Stadt zeigte noch die Narben des Krieges der NATO gegen Serbien im Jahre 1999. In meinem Bücherregal lag da schon der Roman „Das Buch Blam“ von Aleksander Tišma. Erst jetzt las ich dieses Buch.

In diesem 1985 erschienen Roman, der zwei Zeitebenen beleuchtet, ist Novi Sad die eine zentrale „Größe“, Miroslav Blam die andere.

Im zweiten Weltkrieg besetzen faschistische Ungarn die Stadt und es kommt zu Massenverhaftungen, zu Erschießungen und Transporten in Konzentrationslager. Die Beschreibungen dieser Szenen sind nichts für schwache Nerven, sie verdeutlichen den faschistischen Terror, diese Szenen brennen sich in das Gedächtnis der Lesenden ein.

Tišma beschreibt am Beispiel der Judengasse das Schicksal der Bewohner jedes einzelnen Hauses: „In der Nr. 1 der ehemaligen Judengasse hatte sich bis zum Krieg die Lederwarenhandlung von Levi & Sohn befunden. Das Geschäft führte Levi junior, während der Gründer, Levi senior, krank und abgemagert, mit schwarzem Seidenkäppchen auf dem Kopf und Plaid auf den Knien in der Wohnung über dem Laden saß. (Der Enkel Levi studierte in Belgrad Pharmazie.) Nach dem Einmarsch der Ungarn in die Stadt wurde die Firma von den Behörden konfisziert, die Ware darin zum kriegswichtigen Material erklärt und mit Militärlastwagen abtransportiert; die leeren Räume übernahm der langjährige Geselle der Levis, Julius Mehlbach, und eröffnete ein Taschen- und Ledergalanteriegeschäft. Levi junior, dem es trotz allem gelungen war, einen größeren Posten Leder in der Wohnung zu verstecken, bot es Mehlbach unter der Bedingung an, dass sie den Erlös aus dem Verkauf der Taschen teilten. Mehlbach stimmte zu, übernahm das Leder und zeigte Levi junior wegen Unterschlagung kriegswichtigen Materials an. Levi junior wurde verhaftet und im Gefängnis so geschlagen, dass er Nierenblutungen bekam. Man ließ ihn frei, aber er lebte nur noch acht Tage. Auf dem Sterbebett rief er Mehlbach zu sich und nahm ihm das Versprechen ab, für den gelähmten Levi senior zu sorgen, der ihm die Unterhaltskosten mit wöchentlich einem Dukaten erstatten werde. An diese Vereinbarung hielten sich Mehlbach und Levi senior bis zum Frühjahr 1944, als der alte Mann zusammen mit den in Novi Sad verbliebenen Juden nach Deutschland deportiert wurde. Er kehrte nie zurück (ebenso wenig wie der Enkel Levi und seine Mutter, die sich in den Tagen des Kriegsausbruchs bei ihm in Belgrad aufgehalten hatte). Mehlbach suchte in der verlassenen Wohnung nach den restlichen Dukaten, fand jedoch ihr Versteck nicht, obwohl er alle Fußböden und Wände aufstemmte, und im Herbst desselben Jahres musste er selbst Haus und Geschäft aufgeben und vor den Partisanen und der sowjetischen Armee fliehen.“

Blam hat nach einer kurzen Affäre eine junge Frau, Janja, geheiratet und er ist von deren Untreue überzeugt. Auch glaubt er nicht, dass er der Vater seiner Tochter ist. Meisterlich beschreibt Tišma, wie Blam zufällig Janja mit einem anderen Mann in einer Umarmung sieht. Er wird aber nie mit seiner Frau darüber sprechen, vielmehr entfernt sich Blam, hier Leopold Bloom nicht unähnlich, immer mehr von seiner Frau.

„Da, schon kurz vor dem Zollamt, wo sich dicht an dicht die kleinen Einfamilienhäuser reihten, kam die Straßenbahn an den beiden eng Umschlungenen vorüber: dem brünetten Mann im grauen Mantel und der blonden Frau im blauen Tuchkostüm. Sie standen nahe am Bordstein, genau in der Mitte zwischen Straßenbahnlinie und den Häuserwänden, ganz allein, völlig frei, von niemandem gesehen, leicht aneinandergelehnt, seine dunkle Hand auf ihrer straffen Hüfte, ihr Arm um seine Schultern, und da sie groß war, verdeckten ihr Kopf und ihr üppiges blondes Haar sein Gesicht. Dennoch erkannte Blam in ihnen sofort seine Frau Janja und Predrag Popadić. Die Erkenntnis, dass sie ihn mit diesem Mann betrog, bohrte sich in seinen Leib wie ein Messer, nahm ihm den Atem, ließ ihn fast ohnmächtig werden, aber er schrie nicht, sprang nicht auf, um aus der Straßenbahn zu stürzen, sondern blieb auf seinem Platz sitzen und wandte den Kopf nach ihnen um, bis die Straßenbahn vorbeigeschaukelt war. … Glück strahlte aus ihrer ganzen Erscheinung, ein Glück des Vergessens, der Befriedigung eines gesunden Triebs, der sich ausgelebt hatte und ihnen noch die Körper wärmte, ein Glück, das blind war für die Umgebung, für das Grau des kalten Morgens, für den Alltag der Stadt, durch die die Straßenbahn mit einem frierenden, sorgenvollen Fahrgast rollte.“

Dieser Roman ist gewiss kein „Page Turner“, vielmehr verlangt er konzentrierte Lektüre. Blam beklagt sein Schicksal, obwohl er „davongekommen“ ist. Er kann aber Gott nicht dafür verantwortlich machen, wie es die biblische Figur Hiob tat, schließlich glaubt er nicht.

Zum Ende des Romans sitzt er in der ehemaligen Synagoge von Novi Sad, die nunmehr als Konzerthaus dient und lauscht der Musik Dvoraks, wobei seine Gedanken auf Wanderschaft gehen: „Dabei weiß er, dass nicht sein religiöses Gefühl verletzt ist, denn ein solches hat er nicht; im Gegenteil, er ahnt aus der Art seiner Unruhe, dass ihn die allzu sichtbaren Spuren dieser Religion stören. Die Vergangenheit verletzt ihn, denn er hat sie längst von sich gewiesen, er wollte sie wegschieben. Es sind die alten Bilder aus der Kindheit, die er vergessen möchte. Seine Hand in der kalten, harten Hand der Großmutter, die ihn an einem Feiertag in diesen Tempel führt; die Klage des orientalischen Liedes, das der bärtige, dunkelhaarige, in dünne Leinenstreifen gewickelte Geistliche mit den entzündeten Augenlidern singt; …- und er lief davor weg, nahm sich dankbar ein Beispiel am aufgeklärten Atheismus seines Vaters Vilim Blam, der selbst einen Bogen um den Tempel machte und ihm den kosmopolitischen Qualm der Kaffeehäuser vorzog.“

Sein Résumé: Die Synagoge ist für ihn nicht der richtige Ort.

„Für ein verlogenes Leben, ein Halbleben oder Scheinleben, wie er es selbst führt. Für diese Lebensimitation, der er sich ergibt, seit er mit dem Leben davongekommen und dem Tod entronnen ist, nachdem er all jene in den Abgrund gestoßen hat, die ihm ihre Hände entgegenstreckten, um ihn mit sich zu ziehen.“

Blam, „versunken in die träge Erwartung von etwas, das niemals eintrifft“.

Ein großes Buch!

Oberst Chabert

Im Kosmos des Honoré de Balzac funkeln eine Vielzahl von Sternen. Die Lesenden geraten in Erstaunen über die Leichtigkeit des Stils seiner Romane, über die Modernität der Schilderungen seelischer Zustände und gesellschaftlicher Verhältnisse: zumindest ich bin voller Staunen und Demut über dieses literarische Genie.

Ein hell leuchtender Stern an diesem literarischen Firmament ist die Erzählung „Oberst Chabert“ aus dem Jahre 1832.

In der Schlacht von Preußisch-Eylau wird der Oberst Graf Chabert, dem es gelang das Kriegsglück zugunsten Napoleons zu wenden, verletzt und irrtümlich für tot erklärt. Lange verletzt, gelingt es ihm nach Paris zurückzukehren. Seine vermeintliche Witwe ist da aber schon erneut verheiratet, das nicht unbeträchtliche Erbe ihr zugeflossen und der Oberst als Betrüger verleugnet, fristet ein trostloses Dasein. Ihm springt der Anwalt Derville bei, der sehr schnell die Beweggründe der „Witwe“ versteht. In einer zweiten Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen sind, muss sie fürchten von ihrem zweiten Gatten geschieden zu werden, weil dieser nach der Pairswürde im restaurierten Frankreich schielt. Sie hat sich das gesamte Vermögen Chaberts angeeignet und setzt alle Hebel in Bewegung, ihren ersten Gatten von diesem Vermögen nichts zurückerstatten zu müssen.

Derville besucht seinen Klienten in dessen Unterkunft. „… ein Haus, wenn man diese Bezeichnung auf ein Bauwerk anwenden darf, wie es in der Umgebung von Paris oft zu sehen ist, ein miserables Ding, mit nichts auf der Welt zu vergleichen, nicht einmal mit den schlechtesten Hütten auf dem Lande, denn es hat von diesen Hütten nur die Erbärmlichkeit, nicht ihre Romantik.“

Derville trifft auf die drei Söhne des Vermieters dieser Unterkunft. „Als Derville fragte, ob hier Herr Chabert wohne, mochte keiner antworten, sondern sie glotzten ihn alle blöden Geistes an, wenn man die Worte blöd und Geist verknüpfen darf.“

Chabert erliegt beinahe der Intrigen seiner ehemaligen Frau, durchschaut zwar im letzten Moment deren Absichten, verzweifelt dennoch an der Welt und verzichtet auf seinen Namen ebenso wie auf sein Vermögen.

Einige Zeit später trifft Derville den Oberst vor einem Gericht wieder, das ihn gerade zu zwei Monaten Gefängnis wegen Vagabondage verurteilt hat.

„Trotz seiner Lumpen, trotz des Elends, das nur zu deutlich auf seinen Zügen geschrieben stand, verriet er noch Spuren von Stolz und Adel. Sein Blick hatte den Ausdruck eines Stoikers, den ein Richter nicht hätte verkennen dürfen. Aber, fällt einmal ein Individuum in die Hände der Justiz, so ist es kein Mensch mehr, nur eine anonyme Person, eine Tatbestandsfrage, eine Rechtsfrage, so wie er in den Augen eines Statistikers zu einer bloßen Ziffer gesunken ist.“

Es bleibt Derville gegen Ende der Erzählung, bei der es zu einer letzten Begegnung mit Chabert kommt, nur die Einsicht: „Alle Schrecklichkeiten, die ein phantasievoller Dichter erfinden könnte, sind nichts gegen die Wahrheit.“

Aus gegebenem Anlass erneut gelesen

Am 25. Juli dieses Jahres wäre Paul Watzlawick 100 Jahre alt geworden. Grund genug, eines seiner wundervollen Bücher hervorzuholen und erneut zu lesen: „Anleitung zum Unglücklichsein“.

Der schmale Band will natürlich das Gegenteil bewirken und was er schafft ist vor allem eins: gute Laune verbreitend, zum Nachdenken, gerade über Beziehungen, anregen.

Die nachfolgende Geschichte ist in dem Band nicht enthalten, zeigt aber auf, wie der Autor vorgeht. Er schildert Alltagssituationen, spitzt diese gelegentlich zu, verdeutlicht jedoch immer, dass die Lesenden von selbst über ihr Verhalten nachzudenken beginnen.

Also die Geschichte: „Herr A und Herr B sitzen im Autobus zum Flugplatz, um zwei Flüge zu erreichen, die zum selben Zeitpunkt, aber in zwei verschiedene Richtungen abgehen. Der Autobus kommt in einen Riesenverkehrsstau hinein und der Autobus kommt mit 30 Minuten Verspätung an. Herr A erfährt, dass seine Maschine flugplanmäßig vor 30 Minuten abgeflogen ist. Herr B erfährt, dass seine Maschine ihrerseits verspätet war und vor fünf Minuten abgeflogen ist. Wer ärgert sich mehr?“

Im Buch erzählt er die Geschichte vom Hammer, bei der sich ein Mann beim Nachbarn einen Hammer ausleihen will, sich jedoch so sehr in eine vermeintliche Ablehnung des Nachbarn hineinsteigert, dass er dem ahnungslosen Menschen, wutschnaubend, den Satz: „Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!“ entgegenschleudert.

Watzlawick setzt dann fort: „Die Wirkung ist großartig, die Technik verhältnismäßig einfach, wenn auch keineswegs neu. Schon Ovid beschrieb in seiner Liebeskunst – wenn auch leider nur im positiven Sinne: ‚Rede die ein, du liebst, wo du flüchtig begehrest. Glaub es dann selbst … Aufrichtig liebt, wem es gelang, sich selbst in Feuer zu sprechen.‘“

Watzlawick schreibt auch von einem anderen fatalen Verhalten, welches ein Schlüssel zu unseren Problemen, nicht nur den ökologischen, darstellt: dem mehr desselben.

„Hinter diesen beiden einfachen Worten, mehr desselben, verbirgt sich eines der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Katastrophenrezepte, das sich auf unserem Planeten im Laufe der Jahrmillionen herausgebildet und zum Aussterben ganzer Gattungen geführt hat. Es handelt sich dabei nämlich um ein Spiel mit der Vergangenheit, das unseren tierischen Vorfahren schon vor dem sechsten Schöpfungstag bekannt war.“

Höchste Zeit, dass wieder mehr Menschen die Werke von Paul Watzlawick lesen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Raub und Mord auf Sizilien

Wieder einmal tanke ich Sonne und die Wonne sizilianischer Lebensart. Andrea Camilleri gelingt es spielend, die Lesenden zu verzaubern, zumindest zu bezaubern. So wie die junge Signorina es mit ihrem Lächeln schafft, den Commissario Montalbano zu verführen. „Das Lächeln der Signorina“ ist ein spannender Kriminalroman, der siebzehnte Fall des Commissario.

Natürlich steckt der Roman auch wieder voller Phantasien alter Herren. Aber schafft es die Literatur nicht immer wieder, unmöglich erscheinende Sachverhalte zusammenzuführen? Also genießen wir gemeinsam mit dem Kommissar Wein und Weib.

Bemerkenswert ist es, wie der Autor Verse von Ariost aus dessen „Der rasende Roland“ mit dem Geschehen des Krimis zusammenführt. Gleichsam als Kommentar des Geschehens. Schließlich heißt die wunderschöne Signorina Angelica.

Sie ist von engelsgleichem Wesen, vielleicht.

Camilleri blättert vor uns interessante Einbrüche auf, es folgen dann auch noch Tote und am Ende ist der Fall gelöst.

Mir wird zu viel Whisky getrunken, zu viele Zigaretten geraucht und Müdigkeit mit Unmengen Kaffee vertrieben. Aber ich mäkele hier nicht weiter rum.

Die Kriminalromane des Andrea Camilleri sind eine wundervoll entspannende Lektüre.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Kriegskriminalroman

Ich beginne mit einem Zitat aus dem Roman „Die Toten vom Gare D’Austerlitz“ von Chris Lloyd.

„Zweierlei geschah am 14. Juni 1940.

Vier Unbekannte starben in einem Bahndepot, ein fünfter Mann sprang vom Balkon.

Es geschah noch mehr am 14. Juni 1940.

Die Soldaten der Panzerjäger-Abteilung 187 wollten beim Einmarsch in Paris möglichst gut aussehen, also wuschen sie sich im trüben Wasser des Ourq-Kanals, sechs Kilometer vor der Stadt. Beim Wettlauf um die besten Quartiere bezog Bogislav von Studnitz das Hôtel de Crillon, und deutsche Offiziere legten ihre verstaubten Uniformen auf die edelste Bettwäsche der Stadt. Und in der Sommersonne tröteten endlose Wehrmachtskapellen die menschenleeren Champs-Élysées entlang, bis schließlich ein riesiges Hakenkreuz über dem Grabmal des unbekannten Soldaten entrollt wurde – für den Fall, dass in Paris noch immer irgendwem nicht klar sein sollte, dass wir verloren hatten.“

Der Ich-Erzähler, Inspektor Giral, beginnt damit seine Erzählung. Er ermittelt die oben geschilderten Todesfälle unter den schwierigen Bedingungen der Besatzung. Die deutsche Wehrmacht in der Person des Majors Hochstetter ist Aufpasser und Strippenzieher zugleich, mehr im Hintergrund, manchmal tritt er dann aber auch sehr massiv in den Vordergrund.

Giral trägt ein Paket mit sich herum: Ein Trauma als Soldat aus dem ersten Weltkrieg. Er hat Frau und Sohn verlassen, wankt nach dem Krieg zwischen seinem Dienst als Flic und in einem Zweitjob als koksender „Rausschmeißer“ in einem Lokal.

Sein Sohn taucht nun im Jahre 1940 als von seiner Truppe getrennter Soldat bei ihm auf.

Die Gestapo taucht auf, fiese Typen. Obwohl sie sich in Paris nicht einmischen sollte, worauf die Wehrmacht bestanden hatte.

Fast täglich wird Giral von verschiedenen „Interessengruppen“ verprügelt. Ihm wird ein Mord untergeschoben, aber der Mann gibt nicht auf. Einem Stehaufmännchen gleich.

Polnische Widerständler, eine amerikanische Journalistin und sogar Hitler geistern durch den Roman.

Die vielen Fäden zu entwirren, erfordert nicht nur von Giral, sondern auch von den Lesenden sehr viel Aufmerksamkeit. Kein Thriller zur Entspannung also.

Und leider auch nicht die spannendste Lektüre. Schade!

Die Nase ist nicht nur für die Brille da

„Daran kannst du die Gesetze der Aphasie studieren“, sagte Ruben. „Linguisten wie Roman Jakobson haben sie erforscht. In diesem Fall wird ein Paradigma >Fuchs< durch ein Syntagma ersetzt, das seine spezifische Semantik von der geläufigen Liedzeile her bezieht. Rhetorisch ist es eine Periphrase.“

Diesen Absatz finden die Lesenden auf Seite 240 des lesenswerten Kriminalromans „Die Katze schleicht“ von Manfred Schneider.

Der Autor war Hochschullehrer für Literaturwissenschaft und Medien an verschiedenen deutschen Universitäten, nunmehr, emeritiert, malt er uns in kräftigen Farben das Leben in einem Altenheim aus. Hier feiert eine betuchte Dame ihren hundertsten Geburtstag, der Bürgermeister gratuliert und freut sich auf eine nicht geringe Zuwendung von ihr für die Stadt. „Sie hatte der Stadt eine erhebliche Summe zum Bau einer Unterkunft für Flüchtlinge in Aussicht gestellt; allerdings knüpfte sie das an die Bedingung, dass der Rat an allen Häusern, wo früher jüdische Bürger und andere Verfolgte des Nazi-Regimes gelebt hatten, Gedenktafeln anbringen ließ.“

Kurze Zeit später findet man den Bürgermeister tot im Seniorenheim auf. Es wird sich herausstellen, dass er vergiftet wurde.

Die junge Kommissarin Annabelle Petrosian übernimmt die Ermittlungen. Sie hat es nicht nur mit gewalttätigen Neonazis und dementen Heimbewohnenden zu tun, sondern auch mit einer nicht unerheblichen Schar von Angehörigen der spendablen alten Dame, die sich um ein Teil ihres Erbes gebracht sehen dürften. Gerade bei den teilweise zunächst wirr klingenden Aussagen einiger dementer Heimbewohnerinnen hilft der Gatte der Kommissarin, ein arbeitsloser Linguist, dann doch sehr weiter.

Was sonst noch eine Rolle spielt, verrate ich hier nicht. Nur so viel: der Unterhaltungswert dieses Romans ist hoch.

Und dass der Mensch die Nase primär zum Riechen besitzt, sollte wohl hinlänglich bekannt sein.

Ein Lesevergnügen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Vom Untergang einer Welt

Neulich stellte ich fest, den Roman „Kapuzinergruft“ von Joseph Roth nicht gelesen zu haben. Dieses Manko galt es, schnell zu beseitigen.

Roth schrieb den Roman im Jahre 1938, Kakanien war bereits lange untergegangen und nun herrschten die Nazis auch in Österreich. Roth lebte damals bereits in Paris, in dem er 1939 starb.

Roth kehrt in dem Roman zurück zu der Familie Trotta, die im Mittelpunkt des Romans Radetzkymarsch stand. Der Trotta hier ist ein junger Mann, der modern ausgedrückt mit seinen adligen Freunden „abhängt“, nichts gelernt hat und keinem Beruf nachgeht. Unvorstellbar, dass er normalerweise früh auf den Beinen ist. Aber eines morgens im Jahre 1913 wird er geweckt, weil er Besuch eines Vetters bekommen hat. Die Schilderung dieser morgendlichen Stunde liest sich wie bei Proust: „Unser Dienstmädchen, das ich bislang noch niemals so früh am Morgen gesehen hatte, erschien mir in ihrer blauen Schürze fremd – denn ich kannte sie nur als ein junges Wesen, bestehend aus Blond, Schwarz und Weiß, so etwas wie eine Fahne. Zum erstenmal sah ich sie in einem dunkelblauen Gewand, ähnlich jenem, das Monteure und Gasmänner trugen, mit einem purpurroten Staubwedel in der Hand – und ihr Anblick allein hätte genügt, mir eine ganz neue, ganz ungewohnte Vorstellung vom Leben zu geben. Zum erstenmal seit mehreren Jahren sah ich den Morgen in meinem Haus, und ich bemerkte, dass er schön war.“

Die Welt ist noch in Ordnung zu diesem Zeitpunkt. Die Doppelmonarchie funktioniert irgendwie. „Ich will damit sagen, dass das sogenannte Merkwürdige für Österreich-Ungarn das Selbstverständliche ist. Ich will zugleich damit auch sagen, dass nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint.“

Der erste Weltkrieg bricht über Europa aus und unser Held schildert diese Zeit. Joseph Roth beschreibt keine großen Schlachten, nicht die Not der vielen Menschen, sondern er beschreibt am Beispiel eines kleinen Kreises von Menschen die ganze Tragödie des Kriegs.

Am Ende des Kriegs kehrt er nach Wien zurück und die Geschichte geht weiter. Trotta stolpert durch das Nachkriegswien auf der Suche nach einer vergangenen, einer verlorenen Epoche. Seine alte Mutter wird schwerhörig, seine kurz vor dem Einrücken geheiratete Frau lebt mit einer anderen Frau zusammen und das Vermögen hat sich im Krieg aufgelöst. Seine Frau kann er zurückgewinnen, für einige Zeit; ein Sohn wird geboren und das Stolpern geht weiter.

Am Ende kommen die Nazis und er will die Kapuzinergruft besuchen, wo die österreichischen Kaiser begraben liegen. Aber die Gruft war geschlossen.

Ein grandioser Roman, eines großen deutschsprachigen Autors.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein einfühlsamer Detektiv

Der Roman „Die Geistesgegenwart“ von Jochen Schimmang gehört zu einer besonderen Kategorie von Büchern: Romanen, die sich mit bildender Kunst beschäftigen.

Wie die Romane von John Banville „Athena“, „Schiffbruch“ von Julian Barnes, „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Tracy Chevalier oder „Konzert ohne Dichter“ von Klaus Modick.

„Die Geistesgegenwart“ ist ein Gemälde des Belgiers Magritte. Das Bild wird gegen eine Kopie ausgetauscht, das Museum zur Zahlung eines Lösegeldes aufgefordert. Mit der Geldübergabe wird ein Detektivbüro, bereits geübt im Umgang mit solchen Fällen, beauftragt. Der Detektiv taucht jedoch nicht wieder auf und ebenso wenig das Geld und das Gemälde. Das Museum beauftragt nunmehr einen weiteren Detektiv, Kleff, mit der Untersuchung des Falls.

Ihm gelingt es, Licht in den Fall zu bringen. Allerdings passieren dann eine Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen. Die Lesenden werden mit zunehmendem Vergnügen in die Lektüre hineingezogen.

Man könnte diesen Roman schlicht Krimi nennen, das wäre jedoch eine ungerechtfertigte und unterkomplexe Beschreibung dieses Lesevergnügens.

Der Roman ist gespickt mit geistreichen Sätzen

„Die Traurigkeit ist ein ziemlich sicheres Gefühl, sie widersteht anderen Gefühlen und dem Verstand, der rät, die Traurigkeit zu vertreiben.“

„Ja, sagt er, wegen unseres schwarzen Schafes, und Kleff registriert anerkennend, dass er noch den Genitiv zu gebrauchen weiß.“

„Erstaunlich, welche Rauschzustände der Banalität abgepresst werden können, wenn die Sprache der Liebe in Aktion tritt.“

„Ach, Kleff, sagt sie ganz leise, früher habe ich mir das Leben viel schöner vorgestellt.“

Der Roman führt uns durch Liège und Ostende. Seufzend sehnt sich der Lesende genau dorthin. In die Dämmerung Ostendes beispielweise: „Die Dämmerung braucht Zeit hier im Westen. Unendlich langsam gehen die Veränderungen vor sich: nach einer gewissen Zeit kann man vielleicht sagen, dass ein bestimmter Streifen Grau sich mehr dem Schwarz angenähert hat, aber dunkel geworden ist es immer noch nicht.“

Ach, was für eine wundervolle Lektüre!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Französische Revolution

In seinem historischen Roman „Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau“ verknüpft Lion Feuchtwanger geschickt die Erzählung der letzten Lebensphase des französischen Philosophen in dem kleinen Ort Ermenonville, dessen Besitzer, der Marquis Girardin, den Park nach den literarischen Vorschlägen des Philosophen „umgestaltet“ hat. Der Marquis und sein Sohn Fernand sind glühende Anhänger Rousseaus. Sie versuchen nach dessen Motto zu leben: „Die Welt war verrottet, durch Zivilisation; wollte man das quälende Gefühl der Ödnis loswerden, dann musste man zurückfinden zur Einfachheit, zur Natur.“

Der Philosoph wird tot aufgefunden. Die Wahrscheinlichkeit einem Mord zum Opfer gefallen zu sein, ist sehr hoch. Dennoch wird ein natürlicher Tod attestiert. Der mutmaßliche Mörder, der Geliebte der Therese Rousseau, wird nicht verfolgt. Im Park entsteht auf einer kleinen Insel die letzte Ruhestätte des Philosophen.

„‚Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten‘, heißt der vielzitierte erste Satz seines ‚Gesellschaftsvertrages‘. Darin prägt Rousseau den ‚allgemeinen Willen‘ des Volkes, die ‚volonté générale‘, hinter die alle Individualansprüche zurücktreten müssen.“ (Zitat aus einem Aufsatz von Annette Grossbongardt in Spiegel Geschichte 1/2010). Damit ist Rousseau einer der geistigen Väter der Revolution, die ein Jahrzehnt später nicht nur Frankreich grundlegend verändern wird.

Die Revolution schildert Feuchtwanger am Schicksal der Girardins und an dem zunehmenden Schrecken, der das Land überzieht. Der Roman endet mit der Verklärung des Philosophen. Sein Sarg wird aus Ermenonville nach Paris überführt, wo er im Panthéon neben dessen Erzrivalen Voltaire seine letzte irdische Ruhestätte findet. Der alte Girardin wird diese Überführung des toten Philosophen wohl kaum lange überleben, Bertrand schließt sich der Revolutionsarmee an. Was der Roman nicht mehr schildert, sind die Jahre des blanken Terrors, denen auch jene zum Opfer fallen, die Rousseau immer wieder zitierten.

Allerdings nicht den folgenden Gedanken: „Alles sei ‚unweigerlich verloren‘, hatte Rousseau einmal hellsichtig räsoniert, ‚wenn man auf den Galgen und das Schafott zurückgreifen muss‘“. (Zitat aus der o. g. Quelle).

Ein großer Roman, sehr lesenswert.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Wildgruber – Winkler – Hamlet

Im Jahre 1999 gab es ein Hamlet – Projekt der Wiener Festwochen gemeinsam mit Berlin und Straßburg. Peter Zadek, einer der legendären Köpfe des Regietheaters, sollte mit einer erlesenen Schar dieses Projekt auf die Bretter, die die Welt bedeuten, heben.

Klaus Pohl, Mitglied dieses Ensembles, hielt die gesamte Probenzeit in einem Tagebuch fest. Nun legt er aus diesem Fundus schöpfend, ein Buch vor, das er als Roman bezeichnet: „Sein oder Nichtsein“. Er schreibt es auf, denn: „Es geht sonst verloren im Bergwerk des Gewesenen.“

So entfaltet sich der ganze Wahnsinn der Probenarbeit vor den Augen der Lesenden. „Vom ersten Satz an herrschte eine ganz und gar kunstverkrampfte Schauspielerei.“

Dieses Buch kann nur jemand genießen, dem die Namen der Schauspielerinnen und Schauspieler etwas sagen. Zadek hatte den Hamlet in Bochum schon einmal inszeniert, damals mit Uli Wildgruber in der Titelrolle. Wildgruber war einer der Lieblinge Zadeks. Bei dieser neuen Inszenierung nun soll Angela Winkler den Hamlet spielen. Sie kann sich den vielen Text nicht merken, sie flieht zweimal vor dieser Aufgabe. Man findet eine Lösung für die Textschwäche der großen Schauspielerin. Man findet überhaupt immer eine Lösung. Wildgruber will den Hamlet noch einmal spielen, aber Zadek hält an der Winkler fest. Es kracht auf der Bühne, das Scheitern scheint gewiss zu sein.

Otto Sander, ein weiterer Star dieses Ensembles, wird zitiert mit Sätzen, wie diesen: „Lieber ein stadtbekannter Säufer als ein anonymer Alkoholiker.“

Ein anderes Mitglied verkündet: „Ich trinke Sekt nur noch verdünnt mit russischem Wodka.“ Nun ja, man mag es komisch finden.

Pohl schildert den Fortschritt der Probenarbeiten. Er traut den Lesenden jedoch nicht, dass diese die nächste Katastrophe erkennen würden. Also schreibt er sicherheitshalber: „Kurz darauf kam es zu einer denkwürdigen Episode.“ Oder: „Wir sollten davon eine fürchterliche Kostprobe erhalten.“

Ich habe mich während der Lektüre gut unterhalten gefühlt, weil ich diese Schauspielerinnen und Schauspieler allesamt selbst in vielen Inszenierungen gesehen hatte. Für Lesende, die dieses Privileg nicht genießen durften, bleiben die Figuren sehr blass. Sie saufen zu viel, sie kreisen ständig um sich selber und überschätzen sich.

Im Mittelpunkt des Buches steht Uli Wildgruber, der nur wenige Wochen nach dem Ende der Tournee sich das Leben nahm.

Ich schrieb damals in mein „Theatertagebuch“ unter anderem: „Am Strand von Hörnum auf Sylt hat man seine Leiche gefunden. Wahrscheinlich hat er sich das Leben genommen. Der Mime ist tot.

Vor einigen Wochen traf ich ihn in der Wilmersdorfer Straße. Er sah krank aus, aufgeschwemmt im Gesicht, fahrig in den Bewegungen, unsicher, verunsichert. Krank am Herzen war er tatsächlich. Seine Augen leuchteten, wie immer.

Sein Blick war das auffälligste an ihm. Sein irrer unsteter Blick ins Publikum geschossen. Den Kopf zurückwerfend, seinen massigen Körper in die Blickrichtung lenkend, so schaute er die Masse an, die seinem Spiel folgte. Der Mime ist tot.

Manchmal war man sich sicher, dass er etwas anderes eigentlich ausdrücken wollte als sein Kopfzucken und sein Blickewerfen. Aber er konnte es nicht. Das trug ihm manchmal Gelächter ein, auch wenn er es bitterernst meinte. Aber meistens war die Geste gerechtfertigt, meistens war es der richtige Ausdruck und die richtige Unterstreichung seiner Sprechweise war es sowieso. Ich mochte ihn, ich konnte seine Art zu spielen, gut leiden.“

Ein deutscher Roman

Ziemlich zu Beginn des Romans von Jochen Schimmang sagt ein Freund zum anderen: „Das war doch das Beste, was wir je gehabt haben!“ Ziemlich am Ende des Romans sagt Anita: „Das war doch das Beste, was wir gehabt haben!“ So wundert es nicht, dass der Romantitel „Das Beste, was wir hatten“ lautet.

Es ist die Geschichte von Gregor, seinem Freund Nott, seinem besten Freund Leo und dessen Frau Anita. Es ist die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (alt) bis fast zur Abwahl von Kanzler Kohl.

Es ist die Geschichte „vom letzten Borgward, nicht wahr, das war noch Zukunft“. In dem Roman taucht immer wieder „die Erinnerung an diese kurzen, heftigen, ungeschützten und gewiss auch obszönen Momente des Glücks auf, die als einzige das Leben rechtfertigten“.

Zwischen der Biographie Gregors wird die Zeitgeschichte abgehandelt, egal ob Fußballweltmeisterschaft oder Mauerfall. Es taucht eine Suada wider den Neoliberalismus auf und ich bin geneigt, diese Sätze aus dem Jahre 2009 genauso heute zu verwenden.

„Der freie Markt, die unsichtbare Hand, wenn’s den Reichen gut geht, geht’s uns allen gut, Unternehmen entlasten, Steuern runter, und ihr werdet schon sehen, alle haben was davon, kriecht Ihnen in den … das ganze liberale Märchen (das neo sparte er sich bei seiner Begriffsbildung) hatte so einen Bart, und es war verwunderlich, dass es immer wieder Dumme gab, die darauf hereinfielen“.

Ich erzähle die Geschichte des Romans nicht nach. Ganz am Ende erzählt Gregor zwei jungen Menschen alles auf einer knappen Seite, die mag der ungeduldige Lesende gern als Klappentextersatz lesen. Aber viel besser ist es, jede Seite dieses Romans zu genießen. Die eigene Geschichte im Kopf abzugleichen mit derjenigen Gregors.

Und dann stellte ich fest: „In Charlottenburg ändert sich nicht viel. Charlottenburg hat ein enormes Beharrungsvermögen.“

Und außerdem stellte ich fest: Diese Zeit war das Beste, was ich hatte!

Eine riesige Leseempfehlung!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Aus dem Leben eines Tagträumers

„Vielleicht wusste auch ich nicht immer, was richtig war und was falsch.“ So äußert späte Zweifel der Ich-Erzähler des Romans „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ von Timon Karl Kaleyta.

Der Mann ist von stupender Einfalt geschlagen. Das wird schon am Beginn des Romans deutlich. Unser „Held“ ist am Boden zerstört, denn Helmut Kohl wurde abgewählt. Für den kurz vor dem Abitur stehenden jungen Mann aus einfachen Verhältnissen bricht eine Welt zusammen. Nach dem bestandenen Abitur weiß er monatelang nicht weiter, er hat keinen Plan. Da ist sein Freund Sebastian, Sohn eines Zahnarztes, der was mit Musik machen will und sein anderer Freund Vincent, eher aus ähnlichem sozialem Umfeld wie er selbst, der sich sofort in sein Kunststudium vertieft. Als unser Erzähler sich für ein Studium interessiert und zur Universität fährt, um sich zu immatrikulieren, will er Medizin studieren, weil er im Park zwei Ärzte bei der Mittagspause beobachtet hatte. Er ist völlig entsetzt, als die Angestellte in der Universität ihm erzählt, dass man nicht so einfach Medizin studieren könne. Also: Geisteswissenschaft.

Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet, das wird so bleiben. Er wird durch Zufall ein Lied mit Sebastian aufnehmen und nun wird er Künstler.

Während der Lektüre dachte ich kurz an Eichendorfs Taugenichts, was der Erzählstil des Autors durchaus zulässt. Aber im Gegensatz zu ihm, ist die Zentralfigur dieses neuen Romans nur naiv und beseelt von dem Gedanken, es alle Welt schon zeigen zu werden.

Er lernt in Madrid (Auslandsstudium) eine wundervolle Frau kennen, die er verlassen wird, genauso wie eine noch viel aufregendere Zahnärztin, die ihn liebt, bis er sie schlicht vergessen zu haben scheint.

Und am Ende ist er ein wirklich einfacher Mann.

Der Roman hat mich amüsiert, die Erzählung ist in einem flüssigen und unterhaltsamen Ton verfasst. Nur „vom Hocker“ hat mich der Roman nicht gerissen.

Ein kluger Roman über das Altern

Im Roman „Altes Zollhaus, Staatsgrenze West“ von Jochen Schimmang kehrt Gregor Korff als Rentner zurück. Er hat sich ein altes Zollhaus an der Deutsch – Holländischen Grenze gekauft und wohnt dort schon einige Jahre lang. Er lernt wenige Menschen kennen, aber zwischen denen wächst so etwas wie Freundschaft. Gregor blickt auf sein früheres Leben zurück und es ist von Vorteil den Roman „Das Beste, was wir hatten“ gelesen zu haben.

Schimmang ist ein Meister der Darstellung von Kleinigkeiten, von Alltäglichkeiten. Gregors alter Freund ist schwer krank, Gregor erkennt schnell, dass es sich um einen Abschiedsbesuch handelt. Er sagt aber nichts, man verabredet sich auf ein nächstes Mal, obwohl er weiß oder zumindest ahnt, dass es kein nächstes Mal mehr geben wird. Sein Freund berichtet von einer Tagung an der er teilgenommen hat, auf der er auch selbst einen Vortrag gehalten hatte und wo man den „Großen Philosophen“ als Star erwartete. Die Figur ist als Peter Sloterdijk eindeutig zu identifizieren. Und Gregors Freund beobachtet die Unsicherheit im Vortrag des Großen Philosophen: „Ja, Gregor, wir Alten haben eben Angst, dass die Welt nicht mehr unsere ist, dass sie nicht mehr deutlich zu entziffern ist, und so ist es ja auch. Der Große Philosoph hat mir sogar ein bisschen leidgetan, als er da seine Sätze vorlas, glaub mir.“

Und etwas später im Roman, er bringt seinen Freund mit dem Auto nach Düsseldorf zum Bahnhof, erzählt er eine Geschichte, die sein Freund schon kannte. Gregor entschuldigt sich für die Wiederholung und der Freund antwortet: „Das muss dir nicht leidtun. Es ist doch gut, wenn man festhält an den wenigen wichtigen Sachen, die einem im Leben passieren. Den Bildern, den Kadenzen. Sonst wäre es doch gar nicht auszuhalten.“

Schimmang lässt seinen Gregor ins Kino gehen. Er sieht den Film „45 years“, der

beschreibt ein altes Ehepaar am Punkt eines blinden Flecks, der durch einen Brief offenbar wird, den der Ehemann erhält. Der Brief informiert darüber, dass die Leiche einer Frau in den Alpen gefunden wurde, mit der unser Mann unterwegs war. Die Gattin, Kate, wusste nichts von dem Verhältnis, es war zwar vor ihrer Zeit, aber wenn man so lange zusammen ist, dann denkt man doch, dass man alles von dem anderen weiß. 45 Jahr sind eine lange Zeit und doch nicht lang genug, um alles übereinander zu erfahren.

„‘Komisch‘, sagt Kate an einer Stelle, ‚dass man die Dinge vergisst, die einen glücklich machen‘, und ich hätte ihr zugeflüstert: Es nützt uns nichts, sie im Gedächtnis zu behalten.“

Und selbst die kleinen Dinge des Lebens lässt er nicht aus: „Draußen im Foyer noch einen Augenblick beschützt von dieser leichten Benommenheit, dieser cineastischen Lokalanästhesie, die nicht mehr lange anhalten wird. Die Stimmen um einen herum, und jedes Mal schon im Foyer der Erste, der den tödlichen Satz ausspricht: Wie fandest du denn den Film. Aus und vorbei.“

Es gäbe noch so viel über diesen Roman zu berichten, zu loben, zu lobpreisen. Aber ich lasse es einfach.

Lesen Sie doch selbst!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Bericht aus dunkelster Zeit

Für diese Rezension beginne ich mit dem Nachwort des Autors. Uwe Wittstock schreibt in seinem Buch „Februar 33 – Der Winter der Literatur“: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“

Ganz zu Beginn des Buches findet sich der Satz: „Vermutlich gehört es zur Natur eines Zivilisationsbruchs, schwer vorstellbar zu sein.“

Das ist wahr, aber natürlich gab es Anzeichen für den Zivilisationsbruch schon seit einigen Jahren. Die Nazis waren nicht von Anfang an die stärkste Fraktion im Reichstag. Ich ziehe jetzt keine weiteren Parallelen zur Gegenwart, aber natürlich muss die Demokratie wachsam sein und dem Willen haben, sich zu wehren.

Uwe Wittstock zeichnet die Ereignisse im Jahre 1933, beginnend mit dem 28. Januar und endend mit dem 15. März, nach. Er bedient sich einer ähnlichen Form wie Florian Illies in seinen Büchern zum Jahre 1913.

Was Wittstock gelingt, ist die Schilderung unvorstellbarer Ereignisse anhand einzelner Personen, die uns Nachgeborenen bekannt sind, weil sie zu den Kulturgrößen jener Zeit gehörten, von den Brüdern Mann, Bert Brecht, Mascha Kaléko, Theodor Wollf, Alfred Döblin oder Carl von Ossietzky.

Als halbwegs gebildete Menschen kennen wir deren Schicksale bereits, aber nachzulesen, wie sie gerettet werden konnten oder eben auch nicht, beindruckte mich sehr. Ich konnte manchmal nur wenige Seiten lesen, obwohl Wittstock einen flüssigen Schreibstil pflegt. Doch die Schicksale, die sich auftun, ließen mich nicht unbeeindruckt zurück.

Nach der Lektüre kann man sich nur wieder versichern, dass so etwas nie wieder passieren darf.

Eine sehr zu empfehlende Lektüre.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Der Spieler

Fjodor Dostojewski wurde am 11. November 1821 geboren. Ich nehme den 200. Geburtstag zum Anlass, den einen oder anderen Roman erneut zu lesen oder gar zum ersten Mal.

Der Spieler“ ist mit ganz viel eigenen Erfahrungen des Autors angefüllt. Die Aufzeichnungen eines jungen Mannes, so der Untertitel, schildern Menschen, die dem Roulette verfallen sind. Sie sind spielsüchtig. Die Aufzeichnungen des jungen Alexei Iwanowitsch sind nicht immer zuverlässig, unser junger Mann ist nicht zuverlässig, er ist ein Spieler.

Die Geschichte, die er uns Lesenden präsentiert, ist teilweise grotesk überzeichnet, aber vielleicht hat sie sich ja doch so zugetragen. Alexei ist als Hauslehrer für die beiden Kinder eines russischen Generals tätig und begleitet die Familie, zu der auch die Stieftochter Polina gehört, auf einer Reise, die durch Deutschland führt. In diese Polina ist unser Alexei verliebt. Aber erwidert sie seine Liebe? „Sie weiß zum Beispiel, dass ich sie bis zur Raserei liebe, gestattet mir sogar, von meiner Leidenschaft zu sprechen, und sicherlich könnte sie mir ihre Geringschätzung durch nichts deutlicher ausdrücken, als eben durch die Erlaubnis, frei und unbehindert zu ihr von meiner Liebe zu reden.“

Der General ist hoch verschuldet, nur der Tod seiner Erbtante kann ihn aus den finanziellen Nöten katapultieren. Man leistet sich einen viel zu aufwendigen Lebensstil und verspielt noch das wenige Geld in dem fiktiven Roulettenburg. Aber nicht nur der General hofft auf die Erbschaft, sondern auch ein zwielichtiger französischer Edelmann und die nicht minder obskure Mademoiselle Blanche, die den General heiraten würde, vorausgesetzt seine pekuniäre Lage hätte sich zum Positiven verändert.

Dann taucht die schon sterbenskrank geglaubte Tante auf, versetzt alle in Schrecken mit ihrer offensichtlichen Gesundheit und wird im Spielrausche ein stattliches Vermögen in der Spielbank lassen.

Dostojewski hält mit seinem Urteil über seine Landsleute nicht hinter dem Berg: „In den Katechismus der Tugenden und Vorzüge, der im zivilisierten westlichen Europa gilt, hat infolge der historischen Entwicklung auch die Fähigkeit, Kapitalien zu erwerben, Aufnahme gefunden, ja sie bildet darin beinahe das wichtigste Hauptstück. Aber der Russe ist nicht nur unfähig Kapitalien zu erwerben, sondern er vergeudet sie auch, wenn er sie besitzt, in ganz sinnloser und unverständiger Weise. Dennoch – fuhr ich fort – brauchen auch wir Russen Geld, und infolgedessen greifen wir mit freudiger Gier nach solchen Mitteln wie das Roulette, wo man in der Zeit von zwei Stunden, ohne sich anzustrengen, reich werden kann. Das hat für uns einen großen Reiz; und da wir nun unbedachtsam und ohne rechte Bemühung spielen, so ruinieren wir uns durch das Spiel völlig.“

Alles spitzt sich zu und um seiner Polina zu helfen, gewinnt Alexei ein stattliches Vermögen, was diese aber nicht annehmen will. So fährt er mit Blanche nach Paris, die ihm versprochen hat, das Geld binnen zweier Monate durchgebracht zu haben.

Alexei führt nun das Leben eines Spielers, der von Spielbank zu Spielbank zieht, mal gewinnt und im nächsten Moment alles verspielt. Es hilft auch nichts mehr, zu erfahren, dass Polina ihn liebt. Vielleicht doch, nur noch schnell etwas Geld am Roulettetisch gewinnen, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Kann er das, hat er dazu die Kraft?

„Morgen, morgen wird alles zum guten Ende kommen!“

Eine wundervolle Lektüre!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Wieder auf Sizilien

Die Romane, die die Fälle des Commissario Montalbano schildern, sind, da muss ich gar nicht drum herum schreiben, Geschichten von einem weißen, alten Mann, der über einen weißen Mann mittleren Alters erzählt. Fast immer begegnen dem Kommissar schöne, meist deutlich jüngere Frauen. Manchmal sind sie Opfer, manchmal Täterin und selten endet der Roman damit, dass diese Frauen dem Commissario freundschaftlich verbunden bleiben. Seine Freundin Livia lebt auf dem Festland, ihre Beziehung ist wenig intensiv. Sie verstehen einander selten, manchmal missverstehen sie sich absichtlich. Das Frauenbild ist politisch nicht korrekt, gibt aber wahrscheinlich die sizilianische Wirklichkeit auch jetzt noch realistisch wieder.

Im achtzehnten Fall spielt auch die Mafia am Rande eine Rolle. Aber natürlich muss man diese Romane selbst lesen. Selbst das köstliche Essen genießen, das Adelina oder der Wirt Enzo zubereiten. Und die Sonne der Insel genießen und einfach träumen.

Band achtzehn von Andrea Camilleri heißt „Das Labyrinth der Spiegel“. Ein kluger Titel, warum müssen die Lesenden natürlich selbst herausbekommen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Lügen, um zu überleben

In diesem Jahr erschien der Roman „Hugo Gardners neues Leben“ von Louis Begley. Das erinnerte mich daran, dass in meinem Bücherregal noch immer sein Debütroman „Lügen in Zeiten des Krieges“ lag.

Bis auf das Schlusskapitel und zwei Einschübe, in dem sich der Autor mit Szenen aus Dantes Göttlicher Komödie auseinandersetzt, erzählt ein Junge von seinen frühen Kindheitserinnerungen in Polen. Ein behütetes Leben, trotz des Verlustes der Mutter, die bei seiner Geburt stirbt. Behütet wird er von seiner Tante, seinem Vater und den Großeltern mütterlicherseits.

Dann bricht das Unglück über das Land herein. Die Deutschen besetzen Polen und die Jagd auf Juden beginnt. Die Familie wird auseinandergerissen, die Tante bleibt an der Seite des Kindes. Sie hat ein Verhältnis mit einem deutschen Offizier, der ihre Familie zu beschützen versucht, der dafür sorgt, dass alle zu essen haben. Der die kranke Großmutter pflegen wird und als die Gestapo kommt erst die alte Frau und dann sich selbst erschießen wird.

Der kindliche Erzähler berichtet von einem Spaziergang mit seinem geliebten Großvater, bei dem dieser dem Jungen erzählt, dass auch er Angst habe und: „Er meine, jetzt müsse ich vor allem sehr genau beobachten und möglichst immer im Sinn behalten, dass Angst die Menschen verändert; das werde mir helfen zu verstehen, was ich zu sehen bekäme.“

Normalerweise schaffen es Autoren nicht, eine kindliche Erzählstimme auf einem bestimmten Niveau zu halten. Die Erzählung rutscht leicht ins infantile oder aber sie wird überhöht. Begley gelingt das Wunder, eine stimmige Erzählung eines durch die Umstände etwas früher gereiften Menschen vorzulegen.

Er schafft es außerdem ebenso von den kleinen schönen Momenten zu berichten, wie von der ganzen Gräuel des Krieges. Da wird ein Säugling vor den Augen der Mutter von einem Offizier in einen Gully geworfen, bevor die Frau erschossen werden wird. Die Bewohner eines Hauses in Warschau beobachten vom Dach, wie der Aufstand im Ghetto brutal niedergeschlagen wird. Einige Zeit später sieht man von anderen Dächern, wie der Aufstand der polnischen Untergrundarmee in eben diesem Warschau ebenfalls niedergewalzt wird. Dieses Mal sind sie nicht nur Zuschauende, sondern Beteiligte.

Aber der Erzähler berichtet auch von den glücklichen Momenten des Zusammenlebens mit seiner Tante, die zur Tarnung als seine Mutter auftritt, wie sie abends zusammen im Bett liegen und planen, wie es weitergehen kann, wie man weiter überleben kann. Da werden immer neue Lügen geprobt, um die jüdische Identität zu verschleiern. Lügen in Zeiten des Krieges dienen als Selbstschutz, sie werden zu einem wärmenden Mantel in bitterkalten Winternächten.

Das Wunder geschieht, die Tante und unser junger Erzähler überleben den Krieg, überleben den Faschismus. Aber und das ist dann doch ebenso erschreckend, der Antisemitismus ist damit nicht ausgerottet.

„… denn die Polen wollten jetzt nichts mehr mit Juden zu tun haben.“ Diese Erfahrung hatten sie schon in den letzten Monaten des Krieges machen müssen. Und kaum war der Krieg vorbei, „setzten ihre neuen Nachbarn schon wieder ein Pogrom ins Werk, das erste im befreiten Polen.“

Dieser Roman ist große Literatur. Unnötig zu betonen, dass ich dessen Lektüre dringend empfehle.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Münzwurf im Weltraum

Was wäre, wenn? Das ist eine in der Literatur häufig wiederkehrende Frage. Zum Beispiel, was wäre, wenn es einen Doppelgänger von mir gäbe, eine Replikation meiner selbst. Wir hätten immer und überall dasselbe erlebt. Es dürfte uns nicht geben, aber bei einem unruhigen Linienflug einer Maschine der Air France von Paris nach New York passiert genau dies. Die Maschine gerät in gewaltige Turbulenzen und wird etwas später sicher am Ziel ankommen (sagen wir im März). Drei Monate später landet die Maschine mit genau denselben Passagieren wiederum in den USA. Was ist passiert und vor allem, was wird passieren, wenn die März–Menschen auf die Juni–Menschen treffen?

Das ist, grob beschrieben der Inhalt des Romans „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier.

Der Autor greift das Schicksal einiger Passagiere heraus: den Serienkiller Blake, den Autor Victor Miesel, der gerade einen Roman mit dem Titel „Die Anomalie“ fertiggestellt hat, die alleinerziehende Cutterin Lucie, den krebskranken Piloten David, dem kleinen Mädchen Sophia, der farbigen Anwältin Joanna und noch einigen weiteren Menschen. Jedes dieser Kapitel ist ein kleiner feiner Roman oder zumindest der Beginn eines solchen.

Erst ab der Seite 50 in der hervorragenden deutschen Übersetzung (Jürgen und Romy Ritte) lesen wir von dem Flug der Maschine und bekommen eine Vorstellung von dem Ausmaß der „Turbulenzen“.

Wie kann es sein, dass eine identische Maschine drei Monate später landen wird? Was sagt die Physik dazu?

„Alle ruhigen Flüge sind einander ähnlich. Jeder turbulente Flug ist es auf seine Weise“, könnte der erste Satz dieses Romans, es grüßt Tolstoi, lauten. Es ist der erste Satz des Kapitels, das den Flug beschreibt.

Die Amerikaner, so verrät der Roman, haben nach dem 11. September „in einem über eintausendfünfhundert Seiten starken Geheim-Memorandum ihre Empfehlungen unter dem nüchternen Titel „Zivile Luftfahrt: Krisendiagnostik, Optimierung der Entscheidungskette und Sicherheits-/Gegenschlags-Protokolle“ von zwei Wissenschaftlern anfertigen lassen. Und da ein Auftraggeber die Frage stellte: „Und wenn wir mit einem Fall konfrontiert sind, der keiner der durchgespielten Situationen entspricht?“ fügten sie ein weiteres Protokoll hinzu, das die beiden humorbegabten Menschen in Anspielung auf Douglas Adams‘ Buch ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘ das Protokoll 42 nannten. Nun müssen die beiden, gemeinsam mit einer großen Schar anderer hochkarätiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem amerikanischen Präsidenten erklären, was da vor sich gegangen ist.

Der Versuch, nur darauf zu verweisen, dass es beim Wurf einer Münze drei Möglichkeiten ihrer Landung auf der Erde gibt – Kopf, Zahl oder auf dem Rand – reichte nicht aus und ebenso wenig der Zusatz: „Irgendjemand hat also irgendwo in der Galaxis eine Münze geworfen, und diese ist wahrhaftig in der Luft hängen geblieben.“

So wird in diesem Roman das Wurmloch ebenso als Erklärungsmöglichkeit herangezogen wie ein Druck der biologischen Materie in einem überdimensionierten 3D Drucker. Dem Präsidenten wird in Vorbereitung von Telefonaten mit dem chinesischen und dem französischen Präsidenten auch die Möglichkeit erklärt, dass es sich um eine Simulation handelt. „…, dass wir mit unserem Bewusstsein Teil dieser Simulation sind. Einer technischen Zivilisation eröffnen sich nur drei mögliche Schicksale: Sie kann natürlich aussterben, bevor sie die technologische Reife erreicht hat, wofür wir mit der Umweltverschmutzung, der Klimaerwärmung, dem Insektensterben und so weiter ein großartiges Beispiel abgeben. Ich für meinen Teil denke, dass wir, ob simuliert oder nicht, untergehen werden.“ Und nach einer längeren Ausführung schloss der vortragende Wissenschaftler seine Ausführung: „Anders gesagt, das ‚Ich denke, also bin ich‘ aus Descartes‘ ‚Discours de la méthode‘ ist obsolet. Vielmehr gilt: ‚Ich denke, also bin ich ziemlich sicher ein Programm.‘‘

Spannend sind die Kapitel, die das Aufeinandertreffen der März- mit den Junimenschen beschreiben.

Ich werde nicht verraten, wie sich das alles auflöst, falls es das überhaupt tut. Ich zitiere Le Tellier, der aus einer Art Rezension über den Roman „Die Anomalie“ des Victor Miesel zitiert: „…durchdacht, zugleich flüssig zu lesen und sehr ausgeschrieben, …“ Genauso ist dieser Roman, kurz gesagt: schlicht genial!

Dieser Roman ist ein großer Wurf, ein Geniestreich, ohne jede Frage und er ist es wert, wieder und wieder gelesen zu werden, weil dann die vielen Feinheiten sich erst präsentieren werden.

„…, und er fühlte sich in seiner niederschmetternden Vorstellung bestärkt, dass die Addition individueller Verfinsterung selten zu kollektiver Erleuchtung führt.“

„Ich kenne kein Problem, das der Abwesenheit einer Lösung standhielte.“

„Ein indisches Sprichwort sagt, dass die, die still betteln, still verhungern.“

„Die Hoffnung, das ist der Treppenabsatz des Glücks, ihre Erfüllung das Vorzimmer des Unglücks.“

„Ein jüdischer Witz besagt, dass Gott häufig die Tora lese, weil er verstehen will, wie es in der Welt zugeht, die er geschaffen hat.“

„Die Botschaft ist unklar, aber die Meinungsfreiheit im Internet ist umso kompletter, als man dafür gesorgt hat, dass die Leute aufgehört haben zu denken.“

„Ihr gefällt dieser andere Witz besser, wonach ein Pfeil nur dann sein Ziel treffen kann, wenn er vorher alle anderen verfehlt hat.“

Einfach lesen und genießen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

What is this thing called love?

Mit der im Titel am 27. März 1929 gestellten Frage von Cole Porter beschäftigt sich das Buch „Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls – 1929 – 1939“ von Florian Illies.

Die Methode, die der Autor schon erfolgreich in seinen beiden „1913“ Büchern angewandt hatte, damals bekannte Menschen (manchmal werden sie erst später bekannt) in kurzen Abschnitten, selten länger als anderthalb Buchseiten, in bestimmten Situationen darzustellen, wendet er wieder an. Und diese Methode funktioniert perfekt. Illies hat für dieses Buch (es ist kein Sachbuch im klassischen Sinne und ebenso wenig ein Roman) sehr viel recherchiert und er präsentiert viele Einzelheiten, die zumindest ich bisher nicht kannte. Beispielsweise wird der Geliebte von Sophie Scholl nach dem Krieg deren Schwester heiraten und als Richter tätig gegen die Wiederbewaffnung demonstrieren.

Was das Besondere dieses großen Buches ausmacht ist aber noch etwas anderes. Ganz häufig schildert Illies faktenreich eine bestimmte Affäre, eine Liaison, einen „Fehltritt“ oder was auch immer und dann kommentiert er diese Tatsachen in einer so zutreffenden Art und Weise, dass ich immer nur von Punktlandung sprechen mag.

Er schreibt über die unweigerlich zu Ende gehende Ehe von Zelda und Scott Fitzgerald: „Die beiden zerfleischen sich, quälen sich nach allen Regeln der Kunst. Eine Ehe als Insolvenzverschleppung.“

Oder über die Hoffnung einer jungen Frau, endlich Hermann Hesse ehelichen zu können: „Ninon Dolbin, geborene Ausländer, genannt ‚die Ausländerin‘, wartet weiter auf die Einreisegenehmigung ins Herz Hermann Hesses.“

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die mit Davor, 1933 und Danach überschrieben sind. Denn bei all den wilden Bettgeschichten, die uns aufgetischt werden, bei aller Freiheit dieser Zeit, schwebt schon 1929 der braune Mief in der Luft. Und der Autor kommentiert dies: „Niemand hofft 1929 noch auf die Zukunft. Und niemand will an die Vergangenheit erinnert werden. Darum sind alle so hemmungslos der Gegenwart verfallen.“

Viele der in diesem Buch auftretenden Persönlichkeiten, werden spätestens 1933 Deutschland verlassen haben oder ein schreckliches Ende in ihrer Heimat finden.

Bleibt zu klären, ob Illies die Frage Cole Porters beantworten kann. An einer Stelle schreibt er: „Die Liebe wird, wie jede Utopie, immer größer, je länger man auf sie wartet.“ An anderer Stelle zitiert er Sartre: „Jeder will, dass der andere ihn liebt, ohne sich darüber klarzuwerden, dass lieben geliebt werden wollen heißt – und dass er also, wenn er will, dass der andere ihn lieben soll, nur will, dass der andere will, dass er ihn liebt: daher die ständige Unsicherheit der Liebenden.“

Noch Fragen?

Für mich gehört diesem Buch der Titel „Buch des Jahres“.

Lesen Sie es und denken Sie daran, dass Illies sicherlich noch mehr Geschichten für uns aufbereiten kann.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern

Vor wenigen Wochen gedachten viele Menschen der großen deutschsprachigen Autorin Ilse Aichinger. Am ersten November wäre ihr hundertster Geburtstag gewesen.

Anlass für mich, ihren einzigen Roman, „Die größere Hoffnung“ zu lesen.

„Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schifffahrtslinien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre Zerrissenheit.“

So beginnt dieser Roman in einem expressionistischen Wirbel, der Beschreibung eines Traums des Mädchens Ellen. Ihre Mutter ist vor den Nazis geflohen, ihrer Mutter mit der Hilfe eines Visums zu folgen, ist ihr Ziel. „Wie David gegen Goliath kämpfte sie gegen das Grauen der Verlassenheit, gegen das neue furchtbare Bewusstsein, das seinen Kopf wie ein hässlicher Wassermann aus den Fluten der Träume hob.“ Sie wird das Visum nicht erhalten. Der Konsul wird es ihr nicht bewilligen.

Ellen spielt mit den Kindern, die sicher wissen, dass sie von den Nazis ins Konzentrationslager verschleppt werden. Sie bleibt bei der Großmutter, bis diese sich der Abholung in ein Konzentrationslager durch Gift entzieht. Sie landet mit Einbrechern in einem verschütteten Keller. Sie erlebt eine letzte Nacht mit einem Offizier der Befreier, den sie zu einer der umkämpften Brücken in der Stadt führen soll. Der Offizier, wird verwundet, sie macht sich allein auf den Weg, kann eine Nachricht überbringen und wird „von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen.“

Der Roman endet mit jenem Satz, den ich als Überschrift meiner kleinen Rezension ausgewählt habe.

Die Lektüre ich schwere Arbeit. Das Gelesene musste ich immer in kleinen Dosen „verarbeiten“. Doch die Zeit ist so grausam gewesen, so unvorstellbar barbarisch.

Dieser Text steckt voller wundervoller Sprachbilder, häufig nur ein Satz:

„Die Nacht sank dem Tag in die Arme.“

„Ihre Augen tranken das stille Dunkel wie die letzte Wegzehrung.“

Dem Roman in meiner Ausgabe sind noch zwei kurze, sehr lesenswerte Texte beigefügt, die von der großen Sprachkraft der Autorin Zeugnis ablegen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Kunst im Barock

Ein kleines Büchlein mit dem vielversprechenden Titel „Schattenkünstler – Von Carravaggio bis Velázquez“ liegt vor mir. Das beiliegende Lesezeichen verspricht, dass die Autorin, Kia Vahland, „anschaulich vom Leben und Werk der beiden Maler“ erzählt und deren „Malerei in ihre Zeit“ einordnet. Das Bändchen enthält 25 farbige Abbildungen.

Die Lebensgeschichten der beiden Künstler, die uns die Autorin in den Mittelpunkt rückt, sind lückenhaft erzählt, aber sie wollte ja auch keine Biographien verfassen. Sie hängt auf einigen Seiten noch andere Künstler des Barocks an, Baumeister ebenso wie Maler.

Ich fand das Verbindende der dargestellten Persönlichkeiten nicht. Ich las Sätze, wie: „Seine Kunst will nicht überwältigen, sie will den Menschen zu sich selbst führen.“ Die Autorin schreibt dies über Rubens.

Sie beschreibt begeistert das Deckengemälde in der Würzburger Residenz. Zu Recht schwärmt sie über die Arbeit Tiepolos, aber auch dieser Exkurs bleibt für sich alleinstehen.

Die für mich schönsten Sätze dieses Büchleins sind Zitate. Das eine ohne Angabe des Autors: „Gemalte Nacktheit halten die Theoretiker der Katholischen Reform für noch gefährlicher als bloße Haut. Sie schreiben, die Versuchung gerate über das Auge in die Seele, daher gelte es, die Freiheit der Maler stärker als die der Kurtisanen einzuschränken und schamlose Darstellungen zu ahnden.“

Das zweite Zitat stammt von Jacob Burckhardt: „Die Barockkunst spricht dieselbe Sprache wie die Renaissance, aber einen verwilderten Dialekt.“

Zwei Sätze sind einfach zu wenig für ein Buch, auch wenn es schmal ist.

Berlin Babylon

Im Jahre 1989 entstand der Roman „March Violets“ von Philip Kerr. Die deutsche Übersetzung erschien 1995 mit dem Titel „Feuer in Berlin“.

Wir befinden uns im Jahre 1936 kurz vor dem Beginn der Olympischen Spiele in Berlin. Ein ehemaliger Polizist, der als Privatdetektiv tätig ist, bekommt den Auftrag, ein gestohlenes, sehr wertvolles, Collier wiederzubeschaffen. Das Problem, es wurde nicht nur dieses Collier gestohlen, sondern im Doppelbett liegt ein erschossenes Paar, zur Unkenntlichkeit durch einen gelegten Brand entstellt.

Der Auftraggeber ein Großindustrieller, seine Tochter und deren Ehemann sind die Opfer.

Der Privatdetektiv Bernhard Gunther, ein deutscher Philip Marlowe, wird noch einen anderen Fall lösen sollen und es wundert die Lesenden nicht, dass diese Fälle zusammenhängen. Dieser Detektiv ist ein Meister der Metaphern.

„Ich bat um einen Whiskey, und sie goss mir das Glas so voll, dass man ein falsches Gebiss darin hätte desinfizieren können.“

„Er hatte senffarbenes Haar, das ein ehrgeiziger Schafscherer in der Mache gehabt hatte, und eine Nase wie ein Champagnerkorken. Sein Schnurrbart war breiter als der Hutrand eines Mannes und schien sich seine ausgeprägte Kinnpartie und seine Wangenknochen von einem preußischen Wahlplakat entliehen zu haben.“

Er kann aber auch sehr scharfsinnig die Stadt skizzieren, in der dieser Fall spielt: „Berlin. Früher liebte ich diese alte Stadt. Doch das war, bevor sie ihr eigenes Spiegelbild zu Gesicht bekam uns so eng in ein Korsett schnürte, dass sie kaum atmen konnte. Ich liebte die lockere, unbekümmerte Lebensart, den anspruchslosen Jazz, die ordinären Kabaretts und all die anderen kulturellen Ausschweifungen, welche die Weimarer Jahre prägten und Berlin zu einer der aufregendsten Städte der Welt machten.“

Ich musste an die Romane von Volker Kutscher denken und mir fiel ein, dass dieser Autor später mit seinen Romanen angefangen hat. Ich las, auch die sehr brutalen Szenen aus dem KZ Dachau atemlos und freue mich auf eine weitere Geschichte mit diesem Privatdetektiv.

Lesen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Erlebnisse des Odemar Müller

In dem neu übersetzten (Übersetzer Gerhard Meier) Roman „Sodom und Berlin“ von Yvan Goll wird die Geschichte eines jungen Mannes, Odemar Müller, erzählt, der nach Abitur an der Universität in Bonn sein Studium aufnimmt („In der alten Aula, in der so viele junge Adler des Geistes erste Flugversuche unternahmen“), in den ersten Weltkrieg ziehen muss und 1918 in Berlin strandet, und in die Revolution gespült wird („Und die roten Soldaten mit den eckigen Bewegungen wie auf einem expressionistischen Gemälde schwenkten die Standarten einer jähen Dämmerung“).

Expressionistisch sind einige der Schilderungen des Autors und sie erinnern die Lesenden an Gemälde von Grosz oder Dix: „Das Schiff erfüllte das ganze Gasthaus, und an den Tischen saßen Tausende von Passagieren. Tausend gleiche deutsche Köpfe: tausend riesige Schädel, rosig und durchsichtig wie Talgkugeln, rasiert oder kahl, die auf dicken Hälsen mit dreifachem Nackenwulst saßen.“

Unser Odemar taumelt von Station zu Station, erlebt die Inflation, lernt Frauen und deren Gatten kennen, wird mit einer Frau nach Paris und weiter an die dalmatische Küste reisen und wieder in Berlin landen, um „sein Studium am Germanischen Seminar wieder aufzunehmen und seine Dissertation über die Nonne Roswitha von Gandersheim abzuschließen“.

Goll, der zweisprachlich aufwuchs, charakterisiert seine beiden Heimatländer, macht den beiden Städten Berlin und Paris Liebeserklärungen.

Warnt vor dem Faschismus, als Eurokokke, einem Bazillus, bezeichnet: „Wie gesagt, die Eurokokke zerfrisst den inneren Wert der Dinge und vernichtet ihren Geist.“ Er beschreibt schwärmend die Zahl zwei und abwertender die anderen Zahlen. Der Rom enthält die grandiosen Sätze: „Denn was ist Liebe? Dass man das Glück des Menschen will, den man liebt.“

Und ihm ist auch klar: „Der deutschen Seel ist nur wohl, wenn sie in Superlativen schwelgen kann.“

Ich hoffe, genug Appetit auf die Lektüre gemacht zu haben. Und wem der feine, kurze Roman nicht genügt, dem sei das intelligente Nachwort von Hanns Zischler ans Herz gelegt.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Eine Klinge aus Licht

Mal wieder auf Sizilien zum Sonne tanken, zum Essen und Trinken. Commissario Montalbano taucht in seinem neunzehnten Fall in seine eigene Vergangenheit ein, löst einen kniffligen Fall, löst sich aber leider nicht von seiner Livia.

Andrea Camilleri baut einen spannenden Roman, der mit einem Traum beginnt, in dem die Mafia wieder einmal fast keine Rolle spielt und die Liebe und das Begehren dafür eine umso größere Rolle beansprucht.

Der Titel des Romans in der deutschen Übersetzung: „Die Spur des Lichts“. Warum ich den oben genannten Titel gewählt habe, erschließt sich bei der empfohlenen Lektüre.

Mehr kann ich nicht verraten.

Basta!

Der Kastrat

Die Lektüre eines schmalen Romans liegt hinter mir und erzeugte unterschiedliche Eindrücke. Ich bespreche den Roman „Der Virtuose“ von Margriet de Moor.

„Es heißt, die Schöpfung sei zu groß für die Menschen, zu groß und zu düster, und deswegen, aus ebendiesem Grund, habe man die Sprache erfunden. Sprache, Worte, und ganz am Ende der Worte die Musik.“

Das ist nicht der Beginn dieses Romans, wäre aber kein schlechter Beginn gewesen. Wir lesen zunächst, dass ein Junge aus einem Dorf verschwindet, er wird kastriert und wird zum Sänger ausgebildet. Wir befinden uns in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Über das Verschwinden des Jungen berichtet eine junge Frau, die dem Sänger später wieder begegnen, seine Geliebte wird und wir so an seinem Leben teilnehmen können.

Sie berichtet über ihr Zusammensein, wie der Boden unter ihr zu schwanken scheint. „All meine Sorgen ruhten. Mein Hunger zerfraß mich nicht mehr, sondern nährte mich. Meine Sehnsucht war kein Kummer, sondern Genuss. Gleich würde sich auch mein Durst in eine schöne Gewissheit verkehren: Schenk mir das Glas voll. Umarme mich.“

Es gibt eine kurze Geschichte in der Geschichte. Das Leben der Dienerin der Kastraten-Geliebte wird auf wenigen Seiten von deren Geburt bis zu ihrem Tod geschildert. Der Lesende weiß zwar nicht so recht warum diese Geschichte in dem Roman erzählt wird, aber diese kleine Erzählung zeigt das große Talent der Autorin.

Aber, ja es folgt ein aber. Die Autorin bleibt nicht im 18. Jahrhundert. Sie springt in ihrer Sprache und ich frage mich warum.

„Was für eine Situation! Musik und Sex, in mir haben sich Kräfte gesammelt, …“

„Wir haben doch nette Stunden miteinander verbracht? Ich bin der Meinung, dass Freundschaft und Sex sehr gut zusammenpassen.“

Der große Sänger erklärt seiner Freundin seine Kunst; er tut das im Buch sehr häufig: „Du hast eine Skizze und musst zusehen, dass du unabhängig von den sichtbaren Noten die Kadenz herausholst, die Bewegung, die stillschweigend gemeint ist, den natürlichen Pulsschlag, den, den … – er sucht nach Worten, er schnippte mit den Fingern – den Swing.“

Sicherlich sind diese Anachronismen gewollt, aber sie sind überflüssig!

Vielleicht mangelte es auch an einem kritischen Lektorat. Denn anders ist das folgende kaum zu erklären: „Wer verliebt ist, glaubt an die Unendlichkeit. Wer nicht verliebt ist, übrigens auch.“

Und dann lese ich auch noch einen so unfassbar tiefsinnigen Satz: „Heute morgen hat mich der banale Gedanke vergiftet, dass die Dinge vergänglich sind.“

Mich tröstete dieser Satz: Man wird in einigen Jahren, nicht mehr über diesen Roman schreiben und lesen.

Krimi in dunkelster Zeit

Ich konnte mich davon überzeugen, dass Philip Kerr bereits Kriminalromane in der Nazizeit angesiedelt hatte, als Volker Kutscher vielleicht darüber nachdachte, aber noch nichts publiziert hatte. Gleichwohl will ich damit nichts gegen die „Rath- Krimis“ gesagt haben. Sie sind großartig. Dieses Urteil allerdings möchte ich auch den gänzlich anderen Romanen des britischen Autors zuteilwerden lassen.

Sein Privatdetektiv Bernhard Gunther ist eine Berliner Ausgabe eines Sam Spade oder Philip Marlowe. In dem zweiten Band – „Im Sog der dunklen Mächte“ – einer Krimireihe wird Gunther allerdings von SS-Führer Heydrich zurück in den Polizeidienst geholt, zum Kommissar befördert und soll mit einer Sonderkommission den Mord an jungen deutschen Mädchen aufklären.

Nebenbei wird es Gunther gelingen, das Verschwinden seiner Assistentin aus dem ersten Roman, welches ungelöst blieb, aufzuklären.

Die Lesenden tauchen in ein sehr düsteres Kapitel deutscher Geschichte ein, das mit der „Reichspogromnacht“ einen schrecklichen Höhepunkt erlebt.

Die Handlungsstränge werden logisch zusammengeführt, für Spannung ist gesorgt und auf Fortsetzungen darf man sich auch freuen, wenn man etwas für Kriminalromane übrighat.

Meine klare Leseempfehlung!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Wo du einst hingehörtest

Die (fiktive) Stadt Holt, der Ort, an dem alle Romane des großartigen Schriftstellers Kent Haruf spielen, ist in Aufruhr: Jack Burdette ist zurück.

Acht Jahre war er weg. Untergetaucht in Kalifornien, wo er 150 Tausend Dollar durchbrachte, die er unterschlagen hatte. Seinem Arbeitgeber, einer Getreidekooperative, gestohlen.

Der Herausgeber und Chefredakteur des Mercury Holt, Pat Arbuckle, erzählt uns die Geschichte. Burdette besaß für eine Kleinstadt wie Holt eine Fähigkeit: er war ein sehr guter Football-Spieler. So sah man schon in der Schule über alle seine Unzulänglichkeiten großzügig hinweg. So schafft er es sogar auf das Collage, muss dieses aber bald verlassen, weil er einem Kommilitonen einen Radioapparat stiehlt.

Er ist eine Plage und die Stadt atmet auf, als er untertaucht. Er lässt eine Frau und zwei kleine Kinder zurück.

Was nach seiner Rückkehr geschieht, was sonst alles in den Jahren in dieser kleinen Stadt passiert, darf ich hier nicht verraten.

Ich lobe aber gern den Stil des Autors, seine Fähigkeit, in nur wenigen Sätzen, das Leben eines Menschen zu skizzieren.

„Jacks Mutter dagegen war eine winzige Frau, hager und verhärmt. Sie hatte eine makellos saubere runde Nickelbrille auf der Nase und trug ihr Haar so, wie es in den 1920er Jahren in Mode gewesen war, als sie jung war: eine Art gleichmäßig kurz geschnittenen Bubikopf. Sie war eine sehr ernste Person.“

Oder: „…und dabei Burdette beobachtet, hatte ihn von oben bis unten angesehen, als wäre dieser eine unerwartete Delle in der menschlichen Evolution und nicht unbedingt eine reizvolle oder notwendige, eher so, als sei er eine sprechende Schaufensterpuppe oder sagen wir, eine enorme und potentiell gefährliche Anomalie.“

Dieser Roman lässt mich aus einem einzigen Grunde nicht froh zurück. Alle anderen Haruf Romane, die ich bisher las, enden hoffnungsvoll, lassen die Lesenden in einer positiven Grundstimmung zurück. Das ist in diesem Fall anders. Aber, „such is life“!

Eine Leseempfehlung meinerseits ist dieser Roman, „Ein Sohn der Stadt“, natürlich trotz alledem.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Unterströmungen

Die junge Engländerin, Kirsty Bell, zieht mit ihrem Ehemann und zwei Söhnen in eine große Wohnung am Tempelhofer Ufer in Berlin. Der Umbau ist abgeschlossen und die Wohnung in Besitz genommen. Da treten Wasserschäden auf, da geht die Ehe in die Brüche und die junge Frau versucht den „Geheimnissen“ des Hauses auf die Spur zu kommen. Sie taucht ein in dessen Geschichte und damit auch in die Geschichte der Stadt.

Es entsteht ein Werk, das sich der normalen Kategorisierung entzieht. „Gezeiten der Stadt – Eine Geschichte Berlins“ ist kein Roman, keine biographische Erzählung, keine historische Abhandlung. Von allem ein wenig, in jedem Falle spannend.

Frau Bell selbst beschreibt an verschiedenen Stellen des Buches es so: „Den Blick von innen nach außen. – … – Ich beginne, meine eigenen Erlebnisse auf diese Schichten aus Zeiten, Worten und Bildern aufzutragen. – … – Der Text ist ausufernd und unbändig geworden und beginnt so dem Ort selbst zu ähneln, der sich ohne erkennbare Ufer weit ausbreitet. Berlin.“ Dieses Berlin, vom „Kahn erbaut“, wie sie es schildert.

Sie stellt fest, dass Berlin Tempo fehlt, anders als New York. „Der fehlende Strom der Stadt sorgt für ein in Zeitlupe erfolgendes Dahintreiben, eine Entfaltung, die den unschlüssigen Schleifen der Spree oder den gewundenen Wegen von Lennés Tiergarten folgt. Sie kann in der gemütlichen Geschwindigkeit der Kontemplation erlebt werden.“

Und so entsteht so etwas wie eine Geschichte der Stadt. Bell selbst schreibt: „Durch eine Ansammlung randständiger Details und der ‚beiläufigen Passagen‘, von denen Rebecca Solnit spricht, entsteht das Porträt einer Stadt aus der Perspektive einer Frau.“

Bell verknüpft immer wieder die Orte, insbesondere das Haus, in dem sie wohnt, und dessen nähere Umgebung, mit einer Schilderung der Zustände Berlins zu verschiedenen Zeiten. So schildert sie die Immobilienspekulation, die schon zu Fontanes Zeiten „blühte“. „1872 verkaufte sein [Fontanes] Vermieter das Haus, die Miete stieg exorbitant, und seine Familie und er mussten ausziehen. Immobilienspekulation war schon damals so weit verbreitet wie heute, eineinhalb Jahrhunderte später, und wurde von denen vorangetrieben, für die der Wert der Stadt sich einzig über den Quadratmeterpreis bemaß.“

Sie geht mit den Stadtplanern ins Gericht: „Die Ziellosigkeit der verantwortlichen Stadtplaner ist fester Bestandteil der urbanen Landschaft Berlin.“ Sie prangert die heutigen Zustände an, die sich besonders stark auf touristische Aspekte Berlins beziehen und weniger auf die, der dort lebenden Bevölkerung: „Was bedeutet es für eine Stadt, wenn die Interessen sich auf das Nachtleben beziehen?“

Die Geschichte der Stadt Revue passieren zu lassen, geht nicht ohne auf die Zeit der Nazis und die Zerstörung Berlins zu schauen. Das Haus, in dem sie wohnt, bleibt als einiges von wenigen in der Umgebung stehen. Sie schreibt dann einige grandiose Sätze, die zu so vielen Werken passen, die diese Zeit berühren.

„Im weiteren Verlauf der 1930er Jahre liegen die latente Aggression der Freikorps und die immer besser organisierte Nationalsozialistische Partei Deutschlands wie ein tödlicher Unterstrom unter der Oberfläche der Stadt. Eine beängstigende Veränderung kündigt sich an, die den weiteren Kurs Berlins von einem vibrierenden liberalen Intellektualismus und einer sozial ausgerichteten Politik zur blanken, reaktionären Brutalität Hitlers, Goebbels‘, Görings und ihrer Heere von Braunhemden umlenken wird. Es ist nahezu unerträglich, dies alles im Rückblick zu beobachten, während sich wie in Zeitlupe der Horror entfaltet.“

Dann folgt, was eigentlich? Aufarbeitung? Der Versuch, mit Schuld, Schande und Scham umzugehen?

Nein, eher nicht.

„Und dann? Stillstand. Nichts. Sie nannten diesen Augenblick die Stunde null. Als könnte man die Uhr einfach zurückdrehen, und das ganze Dritte Reich wäre verschwunden.“

Hierfür liefert sie eine Erklärung: „Geschäftig bleiben, sein Leben aufbauen, eine anziehende Umgebung schaffen als strategische Abwehr gegen das Unglücklichsein.“

Dieses Buch hält auch den Menschen, die das Glück „der späten Geburt“ hatten, einen Spiegel vor.

Natürlich gibt es auch einiges, was mich beim Lesen des Textes störte. Vor allem hat es mit der Übersetzung (Laura Su und Michael Bischoff) zu tun. Insbesondere störe ich mich an dem Begriff der „Gezeiten“. Nein, es handelt sich um „undercurrents“, eben Unterströmungen. Noch ein Tipp: Superlative kann man nicht mehr steigern.

Ich musste bei der Lektüre dieses sehr guten Buches an ein anderes Buch denken, das vor einigen Jahren die Französin Pascal Hugues über ihre ruhige Straße in Berlin geschrieben hat. Sie versuchte die Geschichte, der früheren Bewohner, meistens Juden, die durch die Nazis vertrieben oder ermordet worden waren, nachzuverfolgen.

Kirsty Bell versucht es auch, mit der früheren Besitzerin des Hauses. Sie scheut nicht vor Familienaufstellungen zurück. Sie hatte auch auf eine Expertin des Feng-Shui zurückgegriffen, um die Wasserflecke in ihrer Wohnung erklären zu können. Das hätte ich sicherlich nicht getan, aber es schmälert nicht mein Lob über dieses bemerkenswerte Buch.

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Wiener Gambit

„In seiner Berlin-Trilogie um den Privatdetektiv Bernhard Gunther schafft es Philip Kerr, in der Form des spannenden Kriminalromans die schmutzig-düstere Atmosphäre der Nazi- und Post-Nazi-Zeit in Berlin zu beschwören. Geschickt verwebt er die historischen Ereignisse und ihre Protagonisten mit seinen Kriminalgeschichten.“ Diese Sätze finde ich auf der Seite des Rowohlt Verlages, die die Romane von Philip Kerr bewirbt. Ja, dieser Werbung schließe ich mich an.

Den Lesenden erwartet spannende Unterhaltung. Die Geschichten haben manchmal beinahe einen Dreh zu viel. Gerade festigt sich beim Lesenden der Eindruck, nun auf der richtigen Spur zu sein, da biegt die Geschichte um eine Ecke und alles ist wieder anders.

Auf der Seite 234 des dritten Teils der oben erwähnten Trilogie, „Alte Freunde – neue Feinde“, geht das unserem Detektiv auch so: „‘Verzeihen Sie mir meinen Mangel an Begeisterung‘, sagte ich trocken, ‚ich fange bloß allmählich ab, den Überblick über das zu verlieren, was ich hier treibe.‘“

Die Lesenden befinden sich also in bester Gesellschaft. Beruhigend darf ich versichern, dass aber alle losen Enden am Schluss zusammenfinden. Und bitte erwarten Sie von mir jetzt keine übersichtliche Inhaltsangabe. Nur so viel: Herr Gunther ermittelt nicht in Berlin, sondern in Wien. Wir befinden uns auch nicht mehr in der Nazizeit, sondern bereits im Jahre 1947.

Der Roman erinnert zuweilen an den „Dritten Mann“ und als Hintergrundmusik für die Lektüre empfehle ich Schrammelmusik.

Die Lektüre ist spannend bis zur letzten Seite, spannend wie eine gute Schachpartie.

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Vom Zergehen der Welt

Wir lesen die Aufzeichnungen von Ben Turnball, einem Börsenmakler im Ruhestand, die uns über den Zeitraum eines Jahres informieren. Wir folgen dem „Leben mit seinen Möglichkeitsverzweigungen“. Der virile Bursche, in zweiter Ehe mit einer aktiven Geschäftsfrau verbunden, lebt seine sexuellen Bedürfnisse aus. Zuweilen, so ging es mir zumindest, wären weniger Beschreibungen seiner libidinösen Vorstellungen mehr gewesen für die Ernsthaftigkeit der Themen, die John Updike hier literarisch verarbeiten möchte. „Gegen Ende der Zeit“ ist 1997 veröffentlicht worden, die vorzügliche deutsche Übersetzung von Maria Carlsson, erschien 2002.

Nur langsam und in kleinen Dosen erfahren die Lesenden von der stattgefundenen Apokalypse. Der im Jahre 2020 spielende Roman ist mit seinen Informationen zurückhaltend. „Die USA als zersplitterte, von Sprengköpfen zernarbte Staaten.“ Ein Nuklearkrieg zwischen China und den USA hatte stattgefunden. Auf S. 178 findet sich der Grund für den Amerikanisch-Chinesischen Krieg (Bündnisverpflichtung gegenüber Japan). Japan und China kämpften um die Vorherrschaft in Asien. Von einem „kataklystischen Krieg“ schreibt Ben. Wir erfahren, dass Mexiko, im Krieg neutral, sich nunmehr anschickt, einige ehemalige US-Bundesstaaten zu annektieren. Mexiko stellt gleichzeitig nun ein Ziel für Nordamerikaner dar, über die grüne Grenze dorthin zu gelangen.

„Wer keine legale Aufnahme fand, schlich sich über die grüne Grenze, ganze Scharen waren das, und die mexikanischen Behörden verdoppelten die Grenzposten und zogen immer mehr Elektrozäune aus Maschendraht hoch. Sie sprachen davon, eine Art Chinesischer Mauer zu errichten, in aztekischer Bauweise.“

Ben Turnball schildert ausführlich die sich jahreszeitlich verändernde Natur. Die genauen botanischen Beschreibungen rechtfertigt Updike indirekt wie folgt: „Meine Tage verstreichen, und mir ist bewusst, mit welch unaufmerksamem Blick ich die Welt wahrgenommen habe.“

Von einem Prostatakrebs, den folgenden Operationen, der Inkontinenz und der Impotenz schwer gezeichnetem Ben Turnball folgt dann der Satz: „Ich erkenne jetzt, da es zu spät ist, dass ich der Welt nicht genug Aufmerksamkeit, nicht genug Anerkennung gezollt habe.“

Die in den USA zerbrochene Ordnung wird durch Banden, die Schutzgelder erpressen, wahrgenommen. Den Dollar als Zahlungsmittel gibt es nicht mehr, Konzerne wittern Chancen.

Ben Turnball, also John Updike, reicht dies alles noch nicht. Er bricht in Phantasien auf, ob es die Abschweifungen einer Erzählung über das Leben des Petrus und des Paulus ist oder diejenige vom Märtyrertod der Mönche um 800 n. Chr.

Ob es immer wieder ausführliche „Naturbeschreibungen“ über den jeweiligen jahreszeitlichen Entwicklungsstand von Flora und Fauna sind: erste Taglilien, erster Löwenzahn, erster Schmetterling (ein Trauermantel). Die Lesenden könnten in dieser opulenten Bilderflut ertrinken.

Schließlich der „kosmische Blick“: Galaxien, die Betrachtungen über das Ende des Kosmos führen ihn zu folgendem Schlusssatz: „Solche Zahlen betäuben uns, wäre es anders, würden wir ununterbrochen schreien.“

Eine eindrucksvolle Lektüre!

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Vier „Rentner“ und ein Todesfall

Der Dumont Buchverlag bringt seit einiger Zeit die Romane der britischen Autorin Barbara Pym in neuer Übersetzung heraus. So auch den 1977 erschienenen „Quartett im Herbst“ (Übersetzung Sabine Roth).

Vier Menschen teilen sich ein Büro, was genau sie zu tun haben, bleibt unbekannt. Die vier stehen allesamt vor der Rente. Die zwei Frauen, Letty und Marcia, gehen zuerst, die beiden Männer, Edwin und Norman, werden folgen. Sie waren nicht befreundet, aber das gemeinsame Arbeiten in einem Büro bringt die Menschen natürlich dennoch in eine gewisse Nähe. Die Autorin zeichnet dies mit feiner Hand, sie hat ein Auge für die kleinen Veränderungen, für die nicht ausgesprochenen Gedanken.

Es sind die knappen Sätze, die ihr Personal kennzeichnen: „Die Liebe war ein Mysterium, dessen sie selbst nie teilhaftig geworden war.“

Lange führt die Autorin die Lesenden auf die Spur, zumindest zwei der vier Personen könnten zusammenziehen. Aber, ob sich das bewahrheiten wird?

Und hier höre ich auf, die Geschichte weiter nachzuerzählen.

Selbst lesen!

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Hopper

Ein von mir sehr geschätzter Podcast der Zeitung „Die Zeit“ beschäftigt sich mit der bildenden Kunst, genauer mit den Künstlerinnen und Künstlern. Giovanni di Lorenzo und Florian Illies unterhalten sich über das Leben und die Werke einer kunstschaffenden Persönlichkeit. Der Podcast beginnt immer damit, dass di Lorenzo Illies fragt: „Wenn du die Augen schließt und an … denkst, was siehst du dann?“

Wenn ich an Edward Hopper denke, dann hatte ich bislang sein wohl bekanntestes Werk „Nighthawks“ vor meinen inneren Augen. Jene vier Menschen an der Bar eines Diners, drei Gäste und der Barmann. Ein Paar und ein einzelner Gast, der uns den Rücken zudreht. Wir sehen durch das große Schaufenster in den Raum. Es ist Nacht und irgendwie muss ich immer an Humphrey Bogart denken, der entweder dort schon an der Bar sitzt oder jeden Moment den Diner betreten wird.

Aber: Edward Hopper auf dieses eine Gemälde zu reduzieren, wird ihm und seinem Werk nicht gerecht.

Diese Erkenntnis verdanke ich einem schmalen jedoch sehr informativen Buch von Didier Ottinger Edward Hopper Amerika – Licht und Schatten eines Mythos“. Um die Hoppers Werke im Original zu sehen, müsste man in die USA reisen, in Europa hängt so gut wie kein Gemälde des Meisters.

Der schmale Band bringt das Werk dieses großen amerikanischen Malers nun doch auch den europäischen Kunstinteressierten näher. Ein großes Verdienst des Verlags Schirmer/Mosel!

Senioren-Krimi

Auf dem Umschlag meiner Ausgabe des Romans „Der Donnerstagsmordclub“ von Richard Osman (Übersetzung Sabine Roth) prangt ein Aufkleber. Der Union Jack und in dessen Mitte der Satz: „Über 1000000 verkaufte Bücher in Großbritannien“. Nun käme ich nicht auf die Idee zu einem Buch zu greifen, nur weil eine Million Briten dies getan haben. Denn in Sachen Geschmack, man denke an das komische Getränk, das sie Bier nennen oder ihre doch sehr begrenzten kulinarischen Höhepunkte, sind sie nicht in der ersten Liga angesiedelt.

Jedoch ist dieser Kriminalroman sehr lesenswert!

Er spielt in einer luxuriösen Wohnanlage für betuchte britische Senioren und Seniorinnen. Dort hat sich der titelgebende Club gebildet, der eigentlich alte Fälle aufklären will, sich nun aber mit realen Morden quasi vor der Haustür beschäftigen muss. Man trifft sich donnerstags, weil da der Belegungsplan des Mehrzweckraums noch eine Lücke aufwies. Die vier Mitglieder „reservierten sie unter ‚Diskussionsveranstaltung zur japanischen Oper‘, und unter dem Namen firmieren sie heute noch, weshalb sie nie jemand stört.“

Der Club arbeitet nolens volens mit der Polizei zusammen. Der Roman zeichnet sich auch dadurch aus, dass niemand als inkompetent oder blöd dargestellt wird. Die Kriminalbeamten machen einen guten Job, die vier fröhlichen Alten sowieso und da nimmt es nicht Wunder, dass die Aufklärung der verschiedenen Fälle, die in diesem Roman kunstvoll zusammengesetzt sind, gelingt.

Eine vergnügliche Lektüre, genau das richtige Mittel gegen den Corona-Blues.

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Die Frage nach dem Recht und dem ganzen Rest

Am 25. 3. 1955 erschießt der angesehene Kantonsrat Isaak Kohler den angesehenen Professor Adolf Winkler in einem rappelvollen Restaurant. Es kommt zum Prozess und zur Verurteilung des Herrn Kantonsrat. Dieser bittet den jungen Anwalt Felix Spät im Zuchthaus, einem Ort, wo „diese Welt in Ordnung ist, nicht die unsrige“, er möge den „Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen“. Bedenken seitens Spät, es handle sich dabei um eine sinnlose Fiktion, räumt Kohler aus: „Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.“

Spät wird, so viel sei hier verraten, an dieser Aufgabenstellung scheitern. „Ich bin von der Gerechtigkeit wie betrunken. Das Gefühl, im Recht zu sein, vernichtet mich“.

Für Kohler geht das Leben nach einem erneuten Prozess, der mit einem Freispruch endet, glänzend weiter. Das liegt unter anderem auch daran, dass er ein glänzender Billard-Spieler ist, er spielt gern „à la bande“.

Spät vermag sich nicht mit dem Gedanken zufrieden zu geben, dass er „als Rechtsanwalt zu untersuchen habe, ob ein von der Justiz erfasstes Subjekt von ihr als schuldig oder unschuldig betrachtet werden dürfe, gleichgültig, ob es schuldig oder unschuldig sei“. Getreu der alten Spruchweisheit, dass es Gerechtigkeit im Jenseits gebe, hier auf Erden gibt es das Recht.

Am Ende des Romans „Justiz“ von Friedrich Dürrenmatt kommt der großartige Schweizer Autor auf sein Lieblingsthema zu sprechen. Auf das große Universum und uns winzige Menschen auf dieser Erde.

„Wer ist der Schuldige? Jener, der den Auftrag gibt, oder jener, der ihn annimmt? Jener, der verbietet, oder jener, der das Verbot missachtet? Jener, der die Gesetze erlässt, oder jener, der sie bricht? Jener, der die Freiheit zulässt, oder jener, der sie wahrnimmt? Wir gehen an der Freiheit zugrunde, die wir gestatten und die wir uns gestatten. Ich verlasse mein Arbeitszimmer, das nun leer geworden ist, befreit von meinen Geschöpfen. Halb fünf. Am Himmel seh ich zum ersten Mal den Orion. Wen jagt er?“

Dürrenmatt ist mit diesem Roman, trotz einiger erkennbarer Schwächen, die wohl vor allem darauf zurückzuführen sind, dass für dessen Fertigstellung fast 30 Jahre ins Land gegangen waren, ein Meisterwerk gelungen.

Sehr, sehr lesenswert.

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Ein israelischer Dorfroman

Der Roman „Ein anderer Ort“ von Amos Oz spielt in einem Kibbuz. Also in einer „genossenschaftlichen Siedlung gleichberechtigter Mitglieder, in der es kein Privateigentum gibt und das tägliche Leben kollektiv organisiert wird“, wie uns Wikipedia erläutert.

Diese Siedlung liegt dicht an der Grenze zu Syrien, der Roman spielt etwa zu Beginn der 70iger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wir Lesende bekommen viele Mitglieder der Siedlung vorgestellt. Unser Erzähler lässt sich viel Zeit, beschreibt die Lage der Siedlung, die einzelnen Einrichtungen und die Tagesabläufe der Bewohner sehr ausführlich. Er mahnt sich mehrfach: „Es ist also keinesfalls berechtigt, dass unsere Geschichte weiter träge dahinschleicht.“ Oder noch wenige Seiten vor dem Ende des Romans: „Die Erzählung verlangt ein anderes Tempo.“

Ohne anderen Figuren des Romans zu nahe treten zu wollen, befinden sich im Zentrum der Erzählung zwei Familien. Da ist der Lehrer und Dorfpoet Ruven mit seinen zwei Kindern, einer fast erwachsenen Tochter Noga und einem noch jüngeren Sohn Gai. Die andere Familie besteht aus dem Lastwagenfahrer Esra, seiner Frau Bronka, die mit Ruven ein Verhältnis hat, sowie seinen zwei Söhnen Tomer und Oren. Der erste schon verheiratet, der zweite eine Art Schrecken des Kibbuz. Ruvens Frau Eva hat die Familie schon vor einiger Zeit verlassen und ist mit einem Freund und Geschäftspartner von Esras Bruder Sacharja nach Deutschland ausgewandert.

Noga wird sich mit Esra einlassen und von ihm geschwängert. Sacharja, der reiche Bruder, quartiert sich im Kibbuz ein. Er will Noga nach Deutschland zu ihrer Mutter bringen, damit sie dort niederkommen kann.

Ich merke gerade, dass meine Nacherzählung den Eindruck vermitteln könnte, dass diese Erzählung erotisch aufgeladen wäre, dass sie vor sexueller Leidenschaft nur so sprühen könnte. Aber: In dem Roman spielt Erotik eine sehr geringe Rolle.

„Wenden wir unsere Augen von dem Liebesakt. Er ist nicht sensationell. Wort- und lautlos läuft er hier ab, ohne wallendes Blut. Sanftes Streicheln, sparsames Vorspiel, angestrengte Stille. Stöhnen. Ruhige Stille.“ Oder: „Eines Morgens nahmen die beiden wortlos die längst abgebrochenen geschlechtlichen Beziehungen wieder auf.“

Der Titel des Romans lässt mehrere Deutungen zu. Da ist Sacharja, der Noga an einen anderen Ort bringen möchte. Da ist aber auch Ruven, der sich an die Rückfahrt einer Gruppe von Genossen aus dem Kibbuz nach einer Kulturveranstaltung befindet. Und „Eva legte Ruven eine blasse Hand aufs Knie. ‚Wie an einem anderen Ort‘, flüsterte sie.“ Noga, später, die mit Esra flirtet, will mit seinem Lastwagen mitfahren. Es entwickelt sich ein kurzes Gespräch, in dem Esra das Mädchen auffordert auszusteigen. Sie will nicht sogleich und antwortet zweimal. „Vielleicht an einem anderen Ort.“

Dieser Autor spielt mit der Langsamkeit, mit den wenigen Ereignissen, er lächelt die Lesenden an, die auf Ereignisse, auf Handlung warten und sagt zu ihnen: „Oh, könnten wir doch den turbulenten Zeitenlauf anhalten, dieses Bild so belassen, wie es ist, und unsere Geschichte achselzuckend mit dem Satz beenden: So stehen die Dinge seither bis zu diesem Tage, und wer verschlungene Handlungen erwartet hat, verrät nur sein eigenes krummes Wesen.“

Natürlich spielt sich mehr ab in diesem Roman. Ein Kampf zwischen Gut und Böse. Zwischen Ruven und Sacharja. Esras Bruder sät Zwietracht und gibt sich als guter Mensch, der doch nur helfen will. Es ist ein „Krieg zwischen Ordnung und Chaos“, den uns der Autor als Gesetz des Lebens darstellt.

Es wird auch Tote geben in dieser Erzählung und vielleicht sehnt sich so mancher Lesende danach, ein Kibbuz eines Tages zu besuchen, um die Menschen, die uns hier nähergebracht wurden, mit eigenen Augen kennenzulernen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Über die Kürze des Lebens

Bei einem Museumsbesuch vor einigen Wochen sah ich mir das Literaturangebot an. Natürlich viele Bücher zur Kunst, dann aber zu meinem Erstaunen auch einige Bücher von berühmten Philosophen.

Ich wählte den schmalen Band „Von der Kürze des Lebens“ von Lucius Annaeus Seneca aus. Wilhelm Schmid hatte schon aus diesem Traktat zitiert.

Es gibt in unserer Zeit eine riesige Auswahl an Lebensberatungsliteratur. Auf einer Website eines deutschen Verlags, und dieser steht nur als Beispiel für viele andere, finde ich den folgenden Werbetext:

„Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und nach Glück

Es gilt, das Leben ganzheitlich zu gestalten. Der Glaube an Liebe und Hoffnung sind Quellen der inneren Kraft. So gestärkt geht man leichter durch Lebenskrisen. Unsere Bücher geben zusätzlich Unterstützung und Lebensberatung bei:

Nach der Lektüre des Seneca Traktats kann ich Lesenden auf der Suche nach hilfreicher Literatur diesen fast zweitausend Jahre alten Text wärmstens empfehlen.

Dieser Stoiker, von Nero zum Suizid getrieben, gibt uns Heutigen die Ratschläge, die auch noch in vielen späteren Jahrhunderten von größter Relevanz sein werden. Hier nur einige Zitate:

„Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen.

… aber leben zu lernen, dazu gehört das ganze Leben, und was du vielleicht noch wunderbarer finden wirst, sein Leben lang muss man sterben lernen.

Es überstürzt ein jeder sein Leben, leidet an Sehnsucht nach der Zukunft und an Überdruss an der Gegenwart.

Mit dem aller kostbarsten Besitz geht man um wie mit einem Spielzeug. Die Täuschung kommt daher, dass die Zeit etwas Unkörperliches ist und nicht mit den Augen wahrgenommen wird; …

… der größte Verlust für das Leben ist die Verzögerung: sie entzieht uns immer gleich den ersten Tag, sie raubt uns die Gegenwart, während sie Fernliegendes in Aussicht stellt.

Wir pflegen zu sagen, die Wahl unserer Eltern stehe nicht in unserer Macht, der Zufall sei es, der sie den Menschen gebe. Nein! Die Verfügung über unser Dasein liegt in unserer eigenen Hand.

Dagegen ist das Leben derer sehr kurz und sorgenvoll, die das Vergangene vergessen, die Gegenwart verträumen und vor der Zukunft Angst haben; sie sind ans Ende gekommen, so sehen sie, diese Bedauernswerten, zu spät ein, dass sie so lange beschäftigt gewesen sind, ohne doch etwas zu tun.“

Ein wundervoller schmaler Ratgeber, mit einem intelligenten Nachwort von Christoph Horn versehen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Herman und die Frauen

Im Roman „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ von Isaac Bashevis Singer geht es um Herman Broder und seinem Verhältnis zu den Frauen. Wir werden in die Geschichte einer ménage à quatre hineingezogen.

„Im Anfang war die Lust“, lesen wir. Und diese Geschichte in Kürze: der Mann ist davon überzeugt, dass seine Gattin und die gemeinsamen Kinder getötet wurden, er von der früheren Magd seiner Eltern gerettet wird, er diese Magd heiratet und schließlich eine Geliebte hat. Die totgeglaubte Gattin taucht wieder auf und dem „armen Herman“ wächst alles über den Kopf. Geldsorgen, eine Scheinschwangerschaft der Geliebten, eine Schwangerschaft der ehemaligen Magd. Eine richtig wundervolle Geschichte.

Nun spielt dieser Roman nicht irgendwann oder irgendwo, sondern Hermans Gattin überlebt im Gegensatz zu den Kindern den Holocaust. Yadwiga, die Magd, versteckte Herman in einer Scheune und er überlebte die Nazizeit, die Besetzung Polens und die Geliebte Mascha überlebte ebenfalls gemeinsam mit ihrer Mutter im Konzentrationslager diese Zeit.

Vor diesem Hintergrund erst verstehen die Lesenden Aussagen wie die folgende: „Herman hütete sich, Yadwiga zu schwängern. In einer Welt, in der man einer Mutter die Kinder entreißen und erschießen konnte, hatte man kein Recht, nochmals Kinder zu zeugen.“ Dennoch wird Yadwiga später ein Mädchen zur Welt bringen.

Herman liebt Yadwiga nicht, er ist ihr aber dankbar für alles, was sie für ihn getan hatte. „So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt.“

Die Mutter seiner Geliebten Mascha konnte ihre Vergangenheit nicht loswerden. „Im Geist lebte sie weiter mit denen, die vergast und zu Tode gemartert worden waren.“

Herman fürchtet zwar auch ständig, dass die Nazis zurückkommen könnten, aber er macht sich auch Gedanken über die amerikanische Umwelt (Abgase der Autos beispielsweise). „Wie lange können die Lungen das aushalten? … Wie lange kann eine so selbstmörderische Zivilisation dauern? Keiner wird mehr Luft kriegen – zuerst werden sie wahnsinnig werden und dann ersticken.“

Sein Schicksal erklärt er sich folgendermaßen: „Solange die Mächte mit ihm spielten, würden sie bestimmt noch so manches andere für ihn bereithalten. Hatten sie nicht schon einen Hitler hervorgebracht und einen Stalin? Man war nie sicher vor ihrem Erfindergeist.“

Kann er aus der ménage à quatre heraus? „Obgleich er die Konsequenzen seines Handelns fürchtete und den Skandal, der folgen würde, gab es irgendetwas in ihm, das den Kitzel genoss, mit der ständig drohenden Katastrophe konfrontiert zu sein.“

Und schließlich musste er an die jiddische Redewendung denken, „dass zehn Feinde einem Menschen nicht so viel Schaden zufügen können wie er sich selber.“

Wie diese Geschichte ausgeht, verrate ich nicht.

Singer schrieb seine Romane auf Jiddisch, danach wurden sie ins Englische übersetzt. Dieser Roman erschien in den USA 1972, die deutsche Übersetzung von Wulf Teichmann 1974.

1978 erhielt er den Literaturnobelpreis.

Es lohnt sich, diesen Roman zu lesen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Aus dem Leben eines Chemikers

„Wir sind Chemiker, das heißt Jäger: unser sind ‚die beiden Erfahrungen des Erwachsenseins‘, von denen Pavese sprach, Erfolg und Scheitern.“

Diesen Satz finden die Lesenden im Kapitel „Nickel“ der Lebenserinnerungen des Chemikers und Schriftstellers Primo Levi, „Das periodische System“.

Es sind Kurzgeschichten, Schlaglichter aus dem Leben eines Menschen, der die Hölle von Auschwitz überlebte. Er berichtete darüber in einem anderen Werk, „Ist das ein Mensch?“.

In 21 Geschichten, jeweils einem chemischen Element zugeordnet, blättert er sein Leben insbesondere nach 1945 auf. Man könnte das Buch auch eine Sammlung von Kurzgeschichten nennen, aber sie schmiegen sich doch eng an seine Biographie an.

Es bricht mir das Herz, wenn ich Sätze lese, die sich auch in diesem Buch mit Auschwitz auseinandersetzen: „Ich war seit drei Monaten aus der Gefangenschaft zurück und es ging mir schlecht. Was ich gesehen und erlitten hatte, brannte in mir; ich fühlte mich den Toten näher als den Lebenden und schuldig, dass ich ein Mensch war, denn Menschen hatten Auschwitz errichtet, und Auschwitz hatte Millionen menschlicher Wesen verschlungen, darunter viele meiner Freunde und eine Frau, die meinem Herzen sehr nahestand.“

In einem anderen Kapitel kommt es zu einer Wiederbegegnung mit einem deutschen Chemiker, der in Auschwitz „tätig“ war. Als dieser ihn treffen möchte, will Levi dies nicht und feilt an einer Antwort. Er bringt dann die folgenden Zeilen zu Papier, die auch heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben: „In der wirklichen Welt gibt es Wehrhafte, sie bauen Auschwitz, und die Ehrlichen und Wehrlosen ebnen ihnen den Weg; deshalb muss sich jeder Deutsche, ja jeder Mensch für Auschwitz verantworten, und nach Auschwitz ist Wehrlosigkeit nicht mehr zulässig.“

Die letzte Geschichte, „Kohlenstoff“, ist ein kleines Wunderwerk. Sie erzählt vom ewigen Kreislauf der Natur hier dargestellt an einem Kohlenstoffatom. Allein diese Geschichte lohnt die Lektüre dieses Buches.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Reiselektüre

Ich bin zurück von einem besonders vergnüglichen Lektüreerlebnis. Der Roman „Der Hypnotiseur“ von Jakob Hein brachte mir die DDR, die ich von innen nicht kannte und deren dort lebende Menschen mir bis zum heutigen Tage viele Rätsel aufgeben, näher.

Ich lernte so die „essentielle Kunst sozialistischer Materialbeschaffung“ kennen. Mir wurde das Funktionieren eines Dorfes erklärt, allerdings stimmt die folgende Beschreibung für wahrscheinlich jedes Dorf auf dieser Welt.

„So ein Dorf besteht aus lauter Widersprüchen. Keiner will was sagen, aber alle wollen alles wissen. Niemand gönnte dem Nachbarn den Dreck unter den Fingernägeln, aber wenn jemand Fremdes auftaucht, halten alle zusammen. Jeder möchte die Dinge so machen, wie er das schön findet, mischt sich aber gleichzeitig in die kleinsten Angelegenheiten der Nachbarn ein. Niemand sagt was, aber trotzdem wissen alle, was gemeint ist. Und angeblich interessiert sich keiner für irgendwas, und doch sind alle unendlich neugierig.“

Aber hier liegt kein neuer Dorfroman vor, sondern wir lesen die Geschichte von Michael, der auf dem Hof seiner verstorbenen Großeltern lebt, nachdem er, Psychologie studierend, von der Universität Rostock exmatrikuliert worden war. Nun hilft Michael einigen Menschen, Reisen zu unternehmen. Zu diesem Zweck besuchen sie den Hof im unteren Odertal an der polnischen Grenze. Natürlich kann Michael die Menschen nicht wirklich an ihre Wunschziele bringen. Er kann sie aber durch Hypnose auf Traumreisen schicken.

So kommt auch Anika zu ihm, die es mit aller Macht nach Paris treibt. Sie wird bleiben und den Hof zu einem Zentrum für Sehnsüchtige umbauen. Da sie in einem Betrieb in Ost-Berlin für den Einkauf verantwortlich war, weiß sie, wie Material beschafft wird (siehe oben). „Das Zeitgefühl war ihr abhandengekommen, das Nebeneinander der Reise nach Paris und des vermüllten Hofs, zwei Welten, die sich jede auf ihre Art nicht real anfühlten und doch existierten, hatten sie aus der Normalzeit gerissen.“

Zwar fährt sie nach dem ersten „Urlaub“ noch einmal zurück nach Hause, aber nur um schnell zu erkennen, dass sie wiederkommen muss: „Sie verließ einen der fraglos trostlosesten Orte, an dem sie sich jemals aufgehalten hatte, und beendete damit fraglos den schönsten Urlaub ihres Lebens.“

Der Hof wird umgebaut, immer mehr Menschen kommen an diesen Ort, um ihre „Traumreisen“ anzutreten. Natürlich bleibt das nicht lange unbemerkt, wie auch in einem Dorf, in dem sowieso alles jeder weiß (siehe oben).

Die Stasi macht dem „Treiben“ ein Ende, die Mitarbeitenden werden verhaftet und eine von ihnen berichtet uns über ihre Erlebnisse. Doch der 9. November ist nicht mehr fern und so können nun bald die Menschen ihre Traumziele „tatsächlich“ besuchen.

 Aber: „Als ich dieselben Orte in London und Paris besuchte, stellte sich nichts ein, es waren nichts als Orte, die so aussahen, wie es mir schon vorher bekannt gewesen war. Dabei ist es dieses transformative Erleben, was ich weiterhin auf Reisen suche.“

Und: „Ich möchte auch nicht für andere reisen, all das unternehmen, um mich als erfolgreiche Teilnehmerin im Wettbewerb des Reisens ausweisen zu können.“

Der Untertitel des Romans lautet folgerichtig, ein Schopenhauer-Zitat aufgreifend: „Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“.

Ein großartiges Lesevergnügen, ein kluges Buch, dem ich viele Lesende wünsche!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Eine Reise in die Goethezeit

Der Autor Bruno Preisendörfer legte 2015 das Sachbuch „Als Deutschland noch nicht Deutschland war“ vor. Darin lädt er die Lesenden zu einer Zeitreise ein. Wir nehmen für die damaligen Protagonisten unsichtbar an deren Leben teil. Ob auf dem Lande oder in der Stadt, wir sehen, was sie aßen, tranken und wie sie sich kleideten, wie sie schliefen und liebten, wie sie an Krankheiten litten und wie sie starben und begraben wurden. So bleibt den Lesenden nicht verborgen, dass Goethe ohne Unterhose herumlief.

Der Autor hat sich die „Goethezeit“ ausgesucht, also von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts. Wir Lesenden folgen nicht nur dem Großdichter aus Weimar, sondern vielen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.

Und jetzt zitiere ich ausnahmsweise den Klappentext, der sich mit einer Aussage aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ schmückt: „Preisendörfers Buch ist eine Fundgrube, aus der man unentwegt zitieren möchte.“

Wir erfahren unter anderem, was die Kartoffel und das Porzellan gemeinsam haben.

Wir lesen, dass sich Menschen zu dieser Zeit Gedanken über die Arbeit von Sklaven gemacht haben: „Zucker bedeutete Zuckerrohr, Zuckerrohr bedeutete Plantagenwirtschaft, Plantagenwirtschaft bedeutete Sklavenarbeit, Sklavenarbeit bedeutete Sklavenhandel, Sklavenhandel bedeutete Sklavenraub.“

Wir lesen über den Beginn der „Impfung gegen Pocken“ und die Diskussionen, die über das Impfen geführt wurden, erinnern fatal an diejenigen, die heute wieder geführt werden.

Die Lesenden erfahren in einem großen Anhang, beispielsweise was die Menschen damals für Einkommen hatten und welche Maßeinheiten es gab.

Für uns heute Lebende ist diese Zeitreise auch gänzlich ungefährlich, denn: „Dem Zeitreisenden kann im Unterschied zu den Zeitgenossen nichts passieren, was immer auch – geschehen ist. … zum Unglück ist die Geschichte ein Geschehen, in das niemand mehr eingreifen kann. Nichts ist wiedergutzumachen, alles nur besser zu verstehen.“

Zu diesem besseren Verständnis trägt dieses grandiose Buch bei.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein weiteres „Berlin-Buch“

Der Brite Paul Scraton, der seit 2001 in Berlin lebt, kommt 2019 auf die Idee rund um Berlin zu wandern: „Am Rand entlang um ganz Berlin“.

Er beginnt seine Spaziergänge in Tegel an einem unfreundlichen Januartag und wird dort Ende März wieder anlangen. In zehn Etappen (Walk 1 – 10) erkundet er die „edgelands“. Er trifft dabei auf ganz viel Vergangenheit, auf die geteilte Geschichte von Berlin, auf die Nazizeit, die gerade am Rande Spuren hinterlassen hat. Wo baute man ein Lager für Sinti und Roma, um diese 1936 zu den Olympischen Spielen aus dem Stadtbild zu verbannen? Wo steht das erste Haus, das nach dem zweiten Weltkrieg befreit wurde? Wo gibt es stillgelegte Bahnhöfe? Wo liegt „Schloss Langeweile“?

Und er öffnet den Lesenden die Augen: „Und so zeigte sich auch bei den Krankenhausgebäuden in Biesdorf, dass es oft die Randbezirke der Stadt sind, in die wir Dinge verfrachten, über die wir nicht nachdenken wollen. Die Rieselfelder und Lagerhallen. Die Schrottplätze und Gefängnisse. Die psychiatrischen Kliniken und Internierungslager. Aus den Augen und – vermutlich – auch aus dem Sinn. Doch es gibt oder gab sie, und ihre Geschichten, diese Geschichten der Randbezirke, sind für die Geschichte der Stadt ebenso wichtig wie die bekannteren Geschichten über das Stadtzentrum.“

Dieses Buch ist auch ein deutlicher Hinweis, sich mit der Geschichte seines Ortes zu beschäftigen. „Das Wissen um vergangene Ereignisse hat zwangsläufig Einfluss auf unsere Wahrnehmung von Orten, ob wir uns nun in Berlin oder Santiago de Chile, in Kapstadt oder London befinden.“

Im Gegenteil zu Scraton ist der Verfasser dieser Zeilen in Berlin geboren und aufgewachsen, aber Diepensee kannte ich bislang nicht. Bei Räumungsarbeiten fand man „Grabsteine und den Nachweis, dass die gesamte Bevölkerung von Diepensee im Mittelalter ausgelöscht worden war, höchstwahrscheinlich aufgrund der Pest. Sie fanden Bierflaschen lange stillgelegter Brauereien und Tassen aus der Sowjetunion. Pfeilspitzen aus der Steinzeit und preußisches Porzellan. So erfuhr man durch die Zerstörung eines Dorfes mehr über seine Geschichte als möglich gewesen wäre, würde der Ort heute noch existieren.“

„Unser Urteil über Orte, die wir besuchen, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die größtenteils wenig oder nichts mit dem Ort selbst zu tun haben: vom Wetter, davon, wie wir geschlafen haben, von unserer Stimmung.“

Unser Urteil über ein Buch hängt von anderen Faktoren ab, hat es mich unterhalten, hat es mich zum Nachdenken gebracht, hat es meinen geistigen Horizont erweitert.

Ja, antworte ich nach der Lektüre dieses Buches und empfehle die Lektüre.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Das Leben ist eine Trennungsmaschine

„Reading without a pencil is like daydreaming.“ Diesem Satz folge ich seit Jahrzehnten, inzwischen habe ich mir ein System von Unterstreichungen zurechtgelegt. Bei der Lektüre des Buches „Yoga“ von Emmanuel Carrère merkte ich nach wenigen Seiten, dass ich ganz viel zu unterstreichen hatte. Ich versuchte, mich dann zu zügeln, nicht jedem Satz ein zusätzliches Gewicht zu verleihen. Leicht viel es mir nicht.

Der französische Autor berichtet, zumindest war das sein Plan, von seinen Erfahrungen mit Yoga. Zu diesem Zweck hat er sich für ein zehntägiges Yoga Retreat angemeldet. Er will meditieren: „Die Gedanken sehen, wie sie sind. Die Dinge sehen, wie sie sind.“

Er wird nach vier Tagen seine Meditationen beenden müssen, weil er von einer Freundin gebeten wird, eine Grabrede zu halten. Deren Partner war mit ihm befreundet und der Mann wurde Opfer des Anschlags auf die Zeitschrift Charlie Hebdo.

Einige Zeit später wird er die Meditation nachholen, allerdings erfahren wir Lesenden hierüber fast nichts mehr.

Der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo ist erst der Beginn einer Schussfahrt unseres Autors. Und er schreibt das auf. Aus dem heiteren Buch über Yoga wird der Bericht über eine Höllenfahrt. Er schreibe keine Fiktion, sondern autobiografische Texte; „man muss es ertragen, dass Autoren solche Dinge erzählen und sie beim Wiederlesen nicht, wie es vernünftig wäre, streichen. Weil sie ihnen wichtig sind und man eben auch deswegen schreibt: um sie aufzubewahren“.

Seine zweite Ehe scheitert. Ihm wird klar, „ein labiler Narzisst, der besessen davon ist, ein großer Schriftsteller zu sein“. Er will in diesem Buch nichts verschweigen, wird es dennoch tun müssen, weil seine Gattin, mit der er im Scheidungsstreit liegt, das Manuskript vorher zu lesen verlangt und Streichungen erzwingt. Seine Überzeugung bleibt dennoch, seine Literatur ist „der Ort, an dem man nicht lügt“.

Wir lesen über seinen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Sainte-Anne, der vier Monate dauerte.

Wir lesen von seinem Aufenthalt auf der griechischen Insel Leros. Seinen Bemühungen einer amerikanischen Professorin bei einer Schreibwerkstatt für junge Flüchtlinge zu unterstützen.

Wir lesen vom Tod seines Freundes und Verlegers und wie er es irgendwie schafft, sein Yoga-Buchprojekt abzuschließen.

Am Ende des Buches bindet er lose Enden zusammen. Ich hatte das Gefühl, er wollte nun auch zum Ende kommen. „Sobald die letzte Seite umgeschlagen sein wird, was nicht mehr lange dauern kann, könnten wir uns eine Minute lang miteinander hinsetzen. Die Augen schließen, schweigen, ein Weilchen still sein. Vergesst beim Rausgehen nicht, das Licht auszumachen.“

Carrère schreibt nach einem Drittel seines Buches: „Das Ende für ein Buch zu finden ist nicht einfach.“ Das gilt auch für eine Buchbesprechung, zumindest für diese. Lange nicht mehr fesselte mich ein Text wie dieser und gleichwohl ist die autobiografische Literatur nicht mein favorisierter Zweig. Letztendlich schreiben alle Autorinnen und Autoren über sich, über ihr Leben, über die Wünsche und die durchlebten Nöte. Dennoch ist mir hier mehr Verpackung lieber. Doch noch einmal betone ich, dass ich den Text sehr gern gelesen habe und die Lektüre nicht missen möchte.

Ich bleibe jetzt einen Moment stillsitzen und mache dann das Licht aus.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Brenner Romane des Wolf Haas

Also liebe Lesende, den Stil des Wolf Haas zu beschreiben, also so wie der die Romane schreibt, ist gar nicht so einfach. Das liest sich so einfach, Du bist da gleich im Film, aber das ist natürlich alles sehr kunstvoll komponiert. Vielleicht nicht wie eine Beethoven Sinfonie, aber schon wie ein großer Walzer von Johann Strauß, da hörst Du ja auch nach den ersten Takten, dass das Stück vom Strauß sein muss.

Angefangen hat das alles mit dem Roman, „Auferstehung der Toten“. Da erzählt uns ein Erzähler im Plauderton vom Simon Brenner, der schon gar nicht mehr Kommissar ist als der Roman beginnt, sondern Detektiv. Weil der Brenner hat es mit seinem Vorgesetzten nicht ausgehalten und da hat er gekündigt, also der Brenner, nicht der Vorgesetzte. Und wir befinden uns in Zell am See, da hat es vor Monaten zwei Tote gegeben und schließlich hat die Polizei, also der Vorgesetzte vom Brenner, keinen Täter präsentieren können. Der Brenner aber konnte an dem Fall als Angestellter einer Detektei weiter ermitteln.

Es wird dann noch ein weiterer Mord geschehen und ein Selbstmord obendrein und dann kann der Brenner den Fall doch noch lösen.

Und mehr will ich zu diesem Fall hier gar nicht schreiben, weil das die Lesenden alles besser selbst machen sollten.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Auf der Suche nach einem Lebensweg

Schon lange raunte mir der Roman „Die Abenteuer des Augie March“ von Saul Bellow zu, den ich im Nachlass meines Vaters fand, dass er gelesen werden wolle.

Jetzt liegen 700 Seiten hinter mir und ich bin froh, mich dieser Lektüre endlich zugewandt zu haben.

Augie, der Icherzähler, ist einer von drei Söhnen, der mittlere, einer alleinerziehenden Mutter, die in einer Wohnung zusammen mit einer alten aus Odessa stammenden Witwe eines Kaufmanns lebt. Die Kinder nennen sie Oma Lausch. Neben Simon, dem älteren Bruder, lebt noch George, der demente Bruder, in deren Haushalt. Oma Lausch führt ein straffes Regime, versucht den beiden älteren Jungen Ordnung und Disziplin beizubringen, kümmert sich darum, dass die Familie „Sozialhilfe“ erhält und die Mutter immer wieder neue Brillengläser verschrieben bekommt, um das langsame Erblinden zu verzögern. Wir befinden uns in Chicago in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Die beiden älteren Brüder machen ordentliche Schulabschlüsse, Augie ist kurzzeitig auf dem College, weil es zu der Zeit der tiefen Rezession, der hohen Arbeitslosigkeit keine freien Stellen auf dem Arbeitsmarkt gibt.

Währen Simon zielstrebig eine Karriere macht, er will reich werden, taumelt Augie auf der Suche nach einem geeigneten Beruf so vor sich hin. So trifft er sehr unterschiedliche Menschen, die ihn beeinflussen. Eine Zeit ist er bei einem reichen, kinderlosen Ehepaar „angestellt“. Er begleitet Mrs. Renling in den Urlaub. Verliebt sich dort in Esther Fenchel, die aber nichts von ihm wissen will. Deren Schwester, Thea, gesteht ihm ihre Liebe. Sie erzählt ihm auch, dass die beiden Schwestern davon ausgingen, dass er der Liebhaber der Mrs. Renling wäre. Darüber tief getroffen, verlässt er die Renlings.

Aus Geldnot wird er zum Einbrecher; er wird Bücherdieb, eigentlich mit dem Ziel die Bücher an Studenten zu verkaufen. Er wird aber auch zum Leser und liest sich eine gehörige Portion Bildung an.

Bruder Simon unterdessen heiratet eine reiche Tochter einer angesehenen Familie und will, dass Augie es ihm gleichtut. Augie ist nicht abgeneigt; allerdings hilft er einer Mitbewohnerin, die von ihrem Freund geschwängert worden ist, bei den Abtreibungsversuchen. Sie kommt dabei beinahe ums Leben und er gerät in den Verdacht, dass Mimi seine Geliebte sei. So verlangt die Familie seiner Verlobten die sofortige Trennung.

Mimi verschafft Augie einen Job bei einer Gewerkschaft, hier lernt er eine junge Griechin, Sophie, kennen, die kurz vor der Eheschließung mit einem Landsmann steht.

Es taucht Thea auf, die nach ihm hat fahnden lassen, und die beiden gehen nach Mexiko. Thea will einen Adler zur Leguanjagd ausbilden; Augie hilft ihr. Die Unternehmung scheitert, weil der Adler, sie haben ihm den Namen Caligula gegeben, Angst vor den sich wehrenden Eidechsen hat. Augie erleidet bei einer Jagd einen Reitunfall und erholt sich nur langsam davon. Es kommt zu Streitereien zwischen Thea und Augie. Als dieser Stella, einer jungen Schauspielerin, hilft, vor ihrem Freund zu fliehen, kommt es zum Bruch mit Thea. Sie unterstellt Augie, sie mit Stella betrogen zu haben, was tatsächlich zutrifft. Thea reist allein weiter und Augie erfährt von einer Affäre Theas mit einem jungen Mexikaner. Er reist ihr nach, doch die Aussprache führt zum endgültigen Bruch der beiden.

Er arbeitet einige Zeit, zurück in Chicago für einen überspannten Millionär. Dann meldet er sich freiwillig zur Marine, die USA befinden sich im 2. Weltkrieg. Er heiratet Stella, die er in New York wieder getroffen hatte. Er hat die Idee nach dem Krieg ein „Akademie-Kinderheim“ zu eröffnen und sich um die Erziehung von Kindern, auch seinen eigenen, zu kümmern.

Sein Schiff wird von einem Torpedo getroffen und geht unter. Er rettet sich mit einem Kameraden, der ebenfalls aus Chicago stammt, auf ein Schlauchboot und die beiden treiben Tage auf dem Meer umher. Kamerad Basteshaw stellt sich als Biochemiker heraus, der über die „Physiologie der Langeweile“ forscht. Ein britisches Schiff nimmt die beiden Schiffbrüchigen auf. Allein die Geschehnisse an Bord des Rettungsbootes lohnt die Lektüre dieses Romans.

Nach dem Krieg leben Augie und Stella in Paris. Er ist desillusioniert und weiter auf der Suche nach Liebe und einem Heim.

Dieser Roman ist voller Geschichten, voller Sex und dem sehr amerikanischen Streben nach Reichtum und Bedeutsamkeit. Er ist ganz große Literatur und ein Beispiel dafür, dass es immer wieder Überraschungen gibt.

Ich las die Erstübersetzung des 1954 in den USA erschienenen Romans von 1956 in der Übersetzung von Walter Hasenclever. Sie ist an einigen Stellen ein wenig angestaubt, zog mich aber dennoch hinein in dieses Leben des Augie March.

Ich kann eine Lektüre nur empfehlen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Auf der Suche nach verlorenen Erinnerungstrümmern

Jochen Schimmang stellt uns in seinem Roman „Laborschläfer“ wieder einmal ein Alter Ego vor. Dieses Mal Rainer Roloff, einen Soziologen, der sich als Privatgelehrter bezeichnet, was eindeutig besser klingt als Mann mit wechselnder Erwerbsbiografie. Er ist Proband einer Studie, die Aufschluss geben soll, „welche Erinnerungen aus ihrer Lebenszeit, persönlicher oder zeitgeschichtlicher, also kollektiver Art, in den ersten zwanzig Minuten nach dem Aufwachen zuerst kommen.“

Roloff ist 1948 geboren, er verfügt somit über viele Erinnerungen aus seiner Kindheit, die im frühen Nachkriegsdeutschland (West) entstanden sind. Eine Kindheit auf Trümmern, Erinnerungen aus Trümmern.

Zu Roloffs frühen Lektüren gehört die Recherche von Marcel Proust. Roloff spürt nicht der verlorenen Zeit nach, sondern nur einzelnen Erinnerungen. Neue Literatur liest er nicht mehr, sondern er gehört eher zu der Sorte der Wiederleser. Er bekommt einen Kater, den er Bartleby nennt, weil der offenbar auch bevorzugt, lieber nicht ….

Der Leiter der Studie, Dr. Meissner, wird im Laufe der Studie dement. Auch Roloff hat hier und da kleine Aussetzer, wird aber nach dem Ausscheiden von Dr. Meissner sogar in das Studien-Team als beratender Soziologe aufgenommen.

Ich bin ein bekennender Schimmang-Fan, komme aber nicht umhin, mich zu fragen, was der Autor mir mit diesem Roman (ist es eigentlich einer?) sagen will. Natürlich gibt es großartige Passagen, wenn er Roloff über politische Entwicklungen im Lande reden lässt. Da schreibt ein intellektueller Altlinker der früheren Bundesrepublik Deutschland über Geschehnisse, die heute nur noch wenige jüngere Menschen nachvollziehen können. Beispielsweise widmet er dem Geschehen um den früheren Ministerpräsidenten von Schleswig-Hollstein, Uwe Barschel, mehrere Seiten und am Ende kommt sogar noch der Kanzlerkandidat der CDU vor, der dann glücklicherweise nicht Kanzler wurde.

Am Ende des Buches bleibe ich, ein wenig verwirrt, vielleicht wie der Dr. Meissner, zurück und ich beneide Roloff auch dafür, dass er neue Literatur nicht mehr liest.

Die Brenner Romane des Wolf Haas II

Was ist ein besonderer Unterschied der Vorabendprogrammkrimis im Deutschen Fernsehen gegenüber dem ARD-Tatort? Im letzteren wird eine Geschichte entwickelt, die Handlung erklärt sich aus dieser Geschichte.

Warum stelle ich diese Frage dem Roman „Der Knochenmann“ von Wolf Haas voran? Die Brenner-Krimis von Haas, zumindest die ersten Bände, sind um die 150 Seiten lang. Sie fallen eher in die Kategorie der oben erwähnten Vorabendprogrammkrimis. Oberflächlich betrachtet. Da Haas aber seinen Erzähler einsetzt, der vom hundertsten ins tausendste kommt, so will es zumindest scheinen, bekommen die Lesenden den Eindruck, einen mehrere hundert Seiten umfassenden Roman konsumiert zu haben.

Da schwadroniert der Erzähler von der Hendlstation in der Steiermark, wo man menschliche Knochen in den Mengen der tierischen Knochenabfälle gefunden hat. Da wir von einigen Personen berichtet, die wie von Zauberhand verschwinden, von Fußballspielen und dem Kunstmarkt. Der Brenner stolpert durch die Handlung und am Ende wird es ganz gefährlich für ihn, aber er entkommt dem Verbrecher. Schließlich warten noch viele neue Abenteuer auf ihn und diese Romane wollen ja auch noch gelesen werden.

Die Handschrift des Wittekind Tentronk

Vor vierzig Jahren erschien Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. Da lasen wir die Aufzeichnungen des Franziskaners Adson von Melk, wie dessen Meister William von Baskerville Morde in einem Kloster aufklärt. Nunmehr kehrt dieser William zurück, allerdings nicht als Hauptfigur, aber auch nicht als unwesentliche Randerscheinung.

Wittekind Tentronk schildert in dem Roman „Die schwarze Rose“ von Dirk Schümer wie er als Dominikaner Novize Meister Eckhart nach Avignon begleitete und wie sich sein Meister auf die Inquisition vorbereitete.

Avignon im Jahre 1328. Der Papst Johannes XXII. „regiert“ von dort aus, liegt im Streit mit Kaiser Ludwig, dem Bayer, und lässt seine Gegner mit Hilfe der Inquisition, als Häretiker gebrandmarkt aus dem Wege räumen. „Die schwarze Rose“

thematisiert in der Rahmenhandlung ebenso wie Ecos Roman den damals aktuellen Armutsstreit zwischen den Franziskanern und der Kurie.

Schümer würzt seinen Roman mit vielen anachronistischen Bezügen. So heißt ein holländischer Gastwirt Rik mit Vornamen und an einer Stelle liest man: „Rik öffnete die Tür und rief: Spiel es noch einmal!“ Der Rick aus dem Café in Casablanca lässt grüßen. Oder er lässt den Meister Eckhart schon mal den Luther machen: „Der Meister richtete sich aus seiner gebeugten Haltung auf und schaute mich ernst an. Hier stehe ich, sagte er, ich kann nicht anders.“

Einen einfachen, aber sehr sympathischen Menschen legt er über Thomas von Aquin den folgenden Satz in den Mund: „Er strebte keine Heiligsprechung an, er heiligte sein Dasein selber.“

Avignon wird als eine typische Stadt des Mittelalters beschrieben, in der ein Menschenleben nicht viel zählte: „Jede Stadt ist zwei Städte. Eine bei Tag mit Farben, Gerüchen und Geräuschen. Und eine bei Nacht mit grauen Schatten, die wie ein Alpdruck über die Mauern kriechen.“

Wittekind beschreibt den Eindruck, den William von Baskerville bei der ersten Begegnung machte mit einem Satz, der mich an viele meiner Begegnungen mit „Gelehrten“ denken ließ: „Ich fragte mich, ob Eitelkeit eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung für professorale Gelehrsamkeit war.“

Und später schreibt er: „Dieser Mönch wirkt auf mich ähnlich rätselhaft wie eine Figur aus einem Roman. Nur habe ich diesen Roman leider nicht geschrieben.“

Schümer nimmt seinen eigenen Roman nicht immer so wichtig, sicherlich mit einem Zwinkern schreibt er: „Ein normaler Novize hätte das nie und nimmer überlebt, denn normalen Novizen brachte man Beten und Singen bei, dazu noch Lesen und Gehorchen.“

Die Lehren Meister Eckharts fasst der Roman sehr konzise zusammen: „Mein Meister lehrte, dass Gott die Welt allzeit neu erschuf. Das bedeutete aber auch, dass er die bestehende Welt immer wieder zerstört. Wenn das wirklich so war, dann gab es nur einen Halt: die Gegenwart, die immer da war, obgleich sie schon vergangen und verweht war, wenn man nur an sie dachte.“

Es geschehen viele Morde in dieser Papststadt. So liegt es nahe, dass unser Wittekind (Herr Schümer hat die Aufzeichnungen ja nur durch Zufall auf La Palma in die Hände bekommen, wie er uns in einem Nachwort versichert) über den Tod nachdenkt: „Alle Trauer ist Selbstmitleid, dachte ich.“

Und: „Das Leben war eine Reise; jede Begegnung trug den Abschied bereits in sich. Und der Tod war der große Abschied unter den vielen kleinen Trennungen, die wir jeden Tag und jede Stunde erlebten.“

Und dann gibt es auch noch einen „erotischen Teil“, ebenso wie im Roman von Umberto Eco. Und Dirk Schümer beginnt die Schilderungen zu diesem Kapitel folgendermaßen: „Wörter sind für die Seligkeit, die ich in den wenigen Stunden mit dieser Frau erlebte, zu profan.“ Er belässt es dann doch nicht bei diesem Satz und auch diese erotischen Schilderungen sind ihm gelungen.

So wie der ganze Roman ein großes Lesevergnügen ist!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein typischer Sizilien Krimi von Andrea Camilleri

Ein Kriminalroman von Andrea Camilleri folgt immer dem gleichen Muster. Da ist der uns so sympathische Commissario Salvo Montalbano, langsam älter werdend und natürlich das Alter Ego seines Schöpfers. Sein Stellvertreter Augello, sein talentierter Mitarbeiter Fazio und der wundervolle Trottel des Reviers Catarella, der sehr liebenswert gezeichnet wird. Der ständige Streit mit seiner Dauerverlobten Livia im fernen Genua, von der sich jeder halbwegs normal tickende Mann längst getrennt hätte so wie umgekehrt jede Frau sich längst vom Commissario. Das gute Essen, egal ob von dem Koch Enzo oder von seiner Haushaltshilfe. Das Hadern mit den italienischen Verhältnissen, Stichwörter Berlusconi, Mafia und so weiter und so fort.

Trotz all dieser immer gleichen Zutaten gelingt es dem Meister auch in seinem 20. Kriminalroman der Montalbano Reihe einen spannenden Fall uns aufzutischen – „Eine Stimme in der Nacht“.

Es sind zwei Fälle, die nahezu parallel und gegen erhebliche Widerstände gelöst werden.

Ein sehr lesenswerter Kriminalroman.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Brenner Romane des Wolf Haas III

Der Brenner ist nunmehr 47 Jahre alt in diesem dritten Kriminalroman. Er hat eine Dienstwohnung als Rettungsfahrer, seinen Detektivjob hat er an den Nagel gehängt, und alles scheint in geordneten Bahnen zu laufen. Der dritte Roman hat den vielsagenden Titel „Komm, süßer Tod“.

Wolf Haas, lässt seinen Erzähler berichten, dass der Brenner im Laufe des Geschehens an eine Arie aus der Matthäus Passion denken muss. Diese heißt zwar „Komm, süßes Kreuz“, aber man darf sich doch wohl im Text irren, wenn man im Hintergrund einen Subtext hört, der etwas mit der Eigenschaft „süß“ zu tun hat.

Ja, so um die Ecke winden sich diese Brenner-Romane. Der Erzähler lullt Dich mit seinem Schmäh gehörig ein, die Gefahr den Handlungsfaden zu verlieren liegt bei über 50 %. Warum ich gerade von fünfzig Prozent schreibe, liegt auch daran, dass auch die 50% Regel eine Rolle in diesem Roman spielt.

Doch noch einmal zurück, zum Titel und dem Irrtum vom Brenner, sich den Titel des Liedes falsch gemerkt zu haben. Unser Erzähler kann uns den Irrtum leicht erklären: „Weil oft legt man sich im Leben gewisse Dinge ein bisschen zurecht, damit sie nicht so schmerzlich sind wie die ungeschminkte Wahrheit. Das ist eigentlich nur menschlich, einziges Problem: Man fängt mit der Zeit an, wirklich an die geschminkte Version zu glauben.“

Auch wieder wahr, könnte man jetzt sagen und sich vom Erzähler berichten lassen, wie es weitergeht.

Ein spannender, aktionsreicher Kriminalroman.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Gruppenbild, fast ohne Dame

Ich hatte den 1971 erschienenen Roman „Gruppenbild mit Dame“ von Heinrich Böll bisher nicht gelesen.

Der Erzähler, er nennt sich „der Verfasser“, was konsequent im Roman mit „der Verf.“ abgekürzt wird, kreist um die Hauptperson Leni Pfeiffer, geborene Gruyten. Alle mit Leni verbundenen Personen werden ausführlich dargestellt. Der Erzähler reist herum, um sie zu befragen, er proträtiert diese Personen, gibt ihnen breiten Raum und dabei bleibt Leni häufig im Verborgenen. Es entsteht ein Gruppenbild mit einer sehr abwesenden Dame.

Wir lesen bei Böll die Geschichte um Leni herum, die vor dem zweiten Weltkrieg ihren Anfang nimmt, deren Schwerpunkt die Kriegszeit und die frühe Nachkriegszeit bildet.

Wir lesen über die Schicksale vieler Menschen, über uneheliche Kinder, über Kriegsgewinnler und über die Verlierer. Über Leistungsverweigerung, was der Erzähler natürlich zu „Lvw.“ Abkürzt. So wie er auch andere Wörter (Weinen, Lachen, Leiden, Tränen, Seligkeit) abkürzt und damit die Lesbarkeit erheblich vermindert.

Der Roman enthält einige starke Frauenfiguren, die sehr facettenreich beschrieben wurden. Böll zeichnet auch ein Porträt der Edith Stein nach, die als Schwester Rahel, mit Leni befreundet, hier nicht von den Nazis im Konzentrationslager umgebracht wird, sondern in einem Kloster sich förmlich selbst auflöst.

Eine schöne Episode ist Böll auch in der Liebesgeschichte seines Erzählers mit Klementina, einer Nonne, gelungen, die er in Rom aufsucht, um mehr über Rahel zu erfahren. Dieser Roman ist erotisch, sinnlich aufgeladen (er schreibt an einer Stelle, „dass Leni ein verkanntes Genie der Sinnlichkeit“ sei.

Der Roman zeigt nur da Schwächen, wo er beispielsweise zu viele Informationen über die unterschiedliche Verpflegung von Kriegsgefangenen, die in der deutschen Rüstungsindustrie tätig sein mussten, mit Auszügen aus Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse geradezu überfrachtet. Und er zeigt auch dort Schwächen, wo er Politiker „der Stunde“ (Barzel, Kiesinger) erwähnt, die heutzutage keinerlei Bedeutung mehr besitzen.

An einer Stelle des Romans erfahren die Lesenden den Geburtstag Lenis: 17. August 1922. Wir können also demnächst ihren 100. Geburtstag feiern.

1972 erhielt Heinrich Böll den Nobelpreis für Literatur.

Meine Leseempfehlung richtet sich an die geübten Lesenden, ihnen erschließt sich eine Geschichte aus dem Böll Kosmos.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Tag im Leben einer Kommunalka

„Tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau …“, so könnte eine Erzählung von Tschechow oder Turgenjew oder Gorki beginnen. So beginnt jedoch vielmehr der Roman „Zukunftsmusik“ von Katerina Poladjan.

Wir erfahren auf Seite 36 das Datum, der 11. März 1985. Im Radio wurde der „dritte Satz aus Chopins zweiter Klaviersonate“, der Trauermarsch, gespielt. Auf Seite 118 erfahren die Lesenden, dass der Generalsekretär der KPdSU, Konstantin Tschernenko, verstorben ist. Wir wissen, dass auf diesen Mann Michail Gorbatschow folgen wird. Die Personen in der Geschichte wissen es noch nicht; es wird denen auch egal sein, haben sie doch ganz andere Sorgen.

Sie stehen an Geschäften an, ohne zu wissen, was diese heute im Angebot haben. Eine Frau, die sich auf der Straße eine Zigarette anzündet, muss sich von einem Milizionär den Satz: „Wie vulgär, auf der Straße zu rauchen, Bürgerin“, anhören. Ihre Gedanken: „Scher dich zum Teufel, siehst du denn nicht, wie ich leide bei der Vorstellung, dass man das Kind (sie hat gerade ihre Enkelin in die Kindertagesstätte gebracht) in einer Stunde zum kollektiven Scheißen zwingen wird? Gönnst du mir nicht die Zigarette, die mich ein wenig benebelt?“ Stattdessen wird sie antworten: „Sicher, Genosse Milizionär, ich habe mich selbst vergessen.“

Dann dringt wieder Tschechow oder Tolstoi in den Text ein, so klang es bei denen, wenn sich zwei Menschen einander nähern. „Ich will Ihre Zeit ja gar nicht vertreiben, ich will sie verbringen – eine kurze Spanne mit Ihnen.“

Und für viele könnte dieser Tag auch viel Hoffnung in sich bergen. „… denn es war ein Morgen, an dem zwar der Trauermarsch aus allen Lautsprechern drang, und doch lag Hoffnung auf etwas Neues in der Luft.“

Etwas später wird Maria Nikolajewna, eine der vier Frauen von vier Generationen, die ein Zimmer in einer Kommunalka gemeinsam bewohnen, sagen: „Wir hatten keine gute Jugend. Andererseits ist die Jugend immer schön. Wir haben geküsst, und wir haben getanzt, und alles schien möglich. Die Zukunft hatte keine Zeit.“

Die drei Frauen (und ein Kleinkind) stehen im Mittelpunkt der Geschichte dieses einen Tages. Die älteste ist schon Rentnerin, aber hilft als Hebamme immer noch aus. Ihre Tochter Maria arbeitet in einem Naturkundemuseum, deren Tochter Janka arbeitet in einer Glühlampenfabrik und würde gern als Sängerin entdeckt werden. Am Abend wird sie in der Küche der Kommunalka ein „Konzert“ geben. Kroschka ist ihre Tochter, die morgens zur Kindertagesstätte gebracht und am Nachmittag wieder von dort abgeholt werden muss.

Und so könnte dieser Tag, der ja etwas Neues verspricht, enden. So könnte der Lesende dieses Buch, in den höchsten Tönen lobend, hoch beglückt aus der Hand legen und sich einem neuen Lesestoff zuwenden. Wären da nicht auf den letzten zwanzig Seiten „magische Einsprengsel“, die sich langsam ausdehnen. Wäre die Autorin Südamerikanerin, spräche ich von „magischem Realismus“.

Ein Zimmer der Kommunalka weist ein Loch auf, der Bewohner ist wohl „davongeflogen“. Der kleinen Kroschka, reißt deren Mutter „versehentlich einen Arm aus“. Das ganze Haus, in dem die Kommunalka angesiedelt ist, scheint auseinander zu brechen, abgerissen zu werden. Ein anderer Mensch öffnet das Fenster und fliegt auch davon. Und der Lesende rauft sich die Haare und bleibt ratlos zurück.

Dem Roman scheint die Luft ausgegangen zu sein und er entpuppt sich als Erzählung. Dabei hätte er so viel mehr sein können, dabei wollte ich ihn feiern und preisen und gern viele hundert Seiten mehr mit diesen Menschen verbringen.

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