Mir ließ die Lektüre der wenig geglückten Erinnerungen von Christoph Hein keine Ruhe. Ich erinnerte mich, ein nicht gelesenes Buch von ihm im Regal zu haben: „Drachenblut“ – in der DDR war es zwei Jahre früher unter dem Titel „Der fremde Freund“ erschienen. Ich hatte es 1984 gekauft, aber mein Leben war da gerade sehr turbulent und ich kam nicht zu seiner Lektüre. Vielleicht schreckte mich auch der Beginn. Die Schilderung eines kruden Alptraums der Ich-Erzählerin, einer Krankenhausärztin, deren Vornamen wir auf Seite 58 erfahren: Claudia.
Nach dem Alptraum zu Beginn erfahren die Lesenden, dass Claudias Freund, Henry, gestorben ist und sie zu seinem Begräbnis fahren wird. Sie wird im Rahmen der Handlung vierzig Jahre alt, war verheiratet, hatte zwei Abtreibungen hinter sich. Sie hatte ihren Freund, der ihr bis zu seinem Tode fremd blieb, in ihrem Wohnhaus, einem Hochhaus mit ein Zimmerapartments, kennengelernt. Henry war Architekt für Atomkraftwerke, „er baue immerfort kleine, genormte, unnütze Atomkraftwerke, bei denen der Fluss einmal rechts und einmal links vorbeifließe“. Er nimmt sein Leben hin: „Etwas sollte doch passieren. Ich lebe, aber wozu. Der ungeheuerliche Witz, dass ich auf der Welt bin, wird doch eine Pointe haben. Also warte ich.“
Meist mit einem Filzhut auf dem Kopf fährt er zu schnell, zu riskant mit seinem Auto. „Ich fürchte mich nicht zu sterben. Schlimmer ist es für mich, nicht zu leben.“
Claudia hält Abstand, zu ihrem Freund ebenso wie zu ihren Eltern und ihrer Schwester. Den Abstand zu Henry beschreibt sie folgendermaßen: „Unsere Distanz gab unserem Verhältnis eine spröde und mir angenehme Vertraulichkeit.“
Claudia hat eine Passion, sie fotografiert Landschaften, Gegenstände, nur Menschen kommen in ihren Aufnahmen nicht vor. Sie entwickelt die Filme selbst und hebt die Fotografien in Kartons auf. Sie nehmen einigen Raum in ihrer kleinen Wohnung ein. „Mich stören die unnatürlichen Positionen, die Leute auf Fotos haben. Bäume bleiben bei sich, sie versuchen nicht, ein günstiges Bild von sich zu lügen.“
Sie ist keine von ihrem Beruf begeisterte Ärztin: „Ich kann Tabletten verschreiben und Spritzen geben. Der Rest ist nicht Sache der Medizin. Ich bin kein Beichtpriester, ich verabreiche nicht Trost…Zu lösen sind wirkliche Probleme ohnehin nicht. Man schleppt sie sein Leben lang mit sich herum, sie sind das Leben, und irgendwie stirbt man auch an ihnen.“
An mehreren Stellen in dieser Geschichte begegnen Claudia und Henry Jugendlichen. Sie werden als lautstark, zur Gewalt bereit und ohne Perspektive beschrieben: „Sie warten, dass irgendetwas passiert. Sie hoffen, dass etwas geschieht. Irgendetwas, vielleicht ihr Leben.
Claudia beschließt, die Provinzstadt G. aufzusuchen, in der sie die ersten 14 Jahre ihres Lebens verbrachte. Sie fährt mit Henry, der diese Reise in die Vergangenheit für keine gute Idee hält. Claudia erinnert sich an ihre beste Freundin, Katharina, deren drei Brüder in die Bundesrepublik Deutschland aus der DDR geflohen waren. Katharina wird die Möglichkeit auf die Erweiterte Oberschule zu gehen verwehrt, obwohl sie und Claudia die besten Schülerinnen ihres Jahrgangs sind. Als Katharina sich weigert, in die FDJ einzutreten und deshalb die ganze Klasse „nachsitzen“ muss, kommt es zum Eklat. Claudia stellt sich offen gegen ihre Freundin. Sie werden sich nicht wiedersehen.
In dem Hotelzimmer der kleinen Stadt G. wird ihr klar, dass sie Katharina „so rückhaltlos geliebt hatte, wie ich nie wieder einen Menschen sollte lieben können“.
Sie sieht Henry zwei-, dreimal in der Woche. „Unser Verhältnis hatte sich sehr normalisiert. Es war erträglich, und langsam wuchs es in die Gewohnheit.“
Hinner, ihr Exmann, wird ihre Schwester heiraten. Henry war tot und nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen, wie die Lesenden vermuten konnten.
Sie lebte ihr Leben in der kleinen Wohnung weiter. Sie konnte nichts mehr verletzen. „Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzlichen Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina.“
Die letzten Sätze dieser Novelle lauten: „Ich bin gesund. Alles, was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüsste nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut.“
Die Lesenden glauben ihr kein Wort.
Diese Novelle hat mich mit dem Autor Christoph Hein wieder versöhnt.
Ich empfehle diese Lektüre sehr.