Der umfangreiche Roman „November 1918“ von Alfred Döblin steht in einem Schuber, es sind vier Taschenbuchbände, seit sicherlich dreißig Jahren ungelesen in meinem Regal.

„Alexanderplatz“ war Schullektüre, gern gelesene Prosa. Ich wollte von diesem Autor mehr lesen und so ruhen noch einige Werke auf meine Entdeckung.

November 1918 ist in vier Bände unterteilt, den ersten Band „Bürger und Soldaten“ las ich gern. Es ist die Chronik der Ereignisse von der deutschen Kapitulation bis zur Übernahme von Elsass-Lothringen durch französische Soldaten. Wir Lesenden sind in einer Provinzstadt und erleben den Abzug der Soldaten, die Übernahme der „Macht“ durch Räte, die Konzentration der abziehenden Menschen in Straßburg, weil sie dort über die Rheinbrücke nach Kehl gelangen. Wir sind im Lazarett bei verwundeten Offizieren, bei einfachen Menschen, die die Gelegenheit des Abzugs zum Plündern nutzen, wir begleiten viele verschiedene Personen jeweils für kurze Momente.

Das Buch ist mit einem zeitlichen Abstand geschrieben, es ist nicht kurz nach den Ereignissen entstanden, sondern entstand erst in Döblins Exil, als die Nazis schon an der Macht waren. Kluge Sätze, die in dem Band reichlich zu finden sind, entstanden also erst, als klar war, was aus der „Deutschen Revolution“ geworden war. Sätze, die Döblin seinem Personal in den Mund legt, kluge Sätze, vorausschauende Sätze, verlieren dadurch an Wert.

Das Personaltableau ist sehr umfangreich, das erschwert die Zuordnung verschiedener Menschen, weil sie für viele, viele Seiten nicht auftauchen und ich Leser mich erst wieder erinnern muss, wer nun Hanna war oder Jacob oder …

Dennoch lohnte sich für mich die Lektüre dieses ersten Bandes. Es sind auch die Eindrücke eines Zeitzeugen, Döblin war Lazarettarzt.

Der Stil Döblins ist bestechend.

Beispiel eins: „In der stillen Villa, in der Kammer, Tränen, Hingabe, Wonne, Verzweiflung.“

Beispiel zwei: „Völlig stumm liegt unter dem ewigen Regen, von der Nacht eingehüllt, die Stadt.“

Beispiel drei: „Der Nebel liegt über Berlin. Eine lange Straße zieht von den Linden bis zum Halleschen Tor, annährend parallel der lärmenden und zweifelhaften Friedrichstraße: die Wilhelmstraße. Sie hat vornehme Gebäude, in ihrem nördlichen Teil lässt sie sehr nach, und wenn man sich dem Halleschen Tor nähert, so treten ärmliche und kleinbürgerliche Figuren aus den Häusern und stehen in dunklen Fluren. Die Frauen und Männer, die vor den schmutzigen Häusern herumstreichen, woran erinnern sie doch, nicht an die Friedrichstraße, dazu sind sie nicht geputzt genug, mehr an Spekulanten, Schiebertum, an Leute, die Grund haben sich zu verstecken.“

Und kann man jemand kürzer charakterisieren als mit dem nachfolgenden Satz? „Er ist ein Prometheus, der zu seinem eigenen Geier wird.“

Im zweiten Band werden die Ereignisse zwischen dem 22. November und dem 7. Dezember geschildert. Da findet sich eine lakonische Beschreibung eines Soldaten über seine Zeit im Krieg: „Da ist gar nichts zu sagen. Man schläft, frisst, schießt, muss raus, bleibt leben oder wird totgeschossen…“

Dass die Revolution sich in Deutschland nicht Bahn brach, beschreibt Döblin auch mit einem einzigen Satz: „Ja, in diesem weiten, vom Krieg nicht verwüsteten Lande irrt die Revolution, die sich in anderen Ländern als Furie benahm.!

Und wer das Momentum versäumt, kann es nicht ändern; „Man kann keinen Elan und keine Situation konservieren, morgen ist nicht mehr heute.“

Im dritten Band scheint alles so chronologisch weiterzulaufen. Die Lesenden folgen Woodrow Wilson auf seiner Reise über den Atlantik nach Europa. Es gilt für den Mann, seine Idee von einem „Völkerrat“ in die Tat umzusetzen, auch will er einen echten, einen dauerhaften Frieden auf dem alten Kontinent etablieren. In diesem dritten Band wird der Geschichte von seinen Verhandlungen, der Ablehnung der Pläne durch die Franzosen, dem italienischen Schachern um mehr Einfluss im Mittelmeerraum, der Absage jeglicher  Unterstützung im eigenen Lande von Seiten der dortigen Opposition, bis zum Tode des amerikanischen Präsidenten im Februar 1924, breiter Raum gewidmet.

Die Geschichten um den Autor Lauffer wird weiter erzählt, sie hat keinen Bezug zum November 1919. Die Wahnvorstellungen des ehemaligen Offiziers Becker erreichen einen Höhepunkt, die Freundschaft zu seinem ehemaligen Kriegskameraden Maus zerbricht.

Und dennoch bleibt der Stil Döblins in Erinnerung: „Diese Gesellen, deren Worte der am Tischende aufschrieb, fingen an zu reden. Was sie tranken, war Bier, was sie redeten, Jauche.“

Eine Kapitelüberschrift: „Der Tag, die Lichtbrücke zwischen zwei Finsternissen“!

Eine große Weisheit: „Wer fremde Länder entdeckt, entdeckt dabei auch etwas von sich.“

„Ich bitte Sie, um Deutschland zu verstehen, auch unsere sehr schöne Nationalgalerie zu besuchen, wo Sie Bilder von Richter und Blechen finden werden, wunderbare kleine Gemälde, meist Miniaturen, Stillleben, allerechteste deutsche Malerei. Stillleben ist die deutsche Daseinsform.“

„Es gibt überhaupt nur drei Internationalen: die der Verbohrtheit, der Dummheit und der Bequemlichkeit.“

Joseph Roth wird noch die Internationale der Trinker hinzufügen, aber das ist eine andere Geschichte.

Am Ende des dritten Bandes stelle ich fest, dass der Autor sich verhoben hat und noch liegen weitere 700 Seiten vor mir.

Der vierte Band schließlich schildert die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Erzählung verliert sich allerdings in die ausufernde Beschreibung der Gefängniszeit von Rosa Luxemburg, ihre Phantasien, mit ihrem gefallenen Geliebten zusammen zu sein. Sie zeichnet ein sehr einseitiges Bild von Friedrich Ebert, wieder tauchen Figuren aus den ersten Bänden auf. Der Dramatiker Staufer, dessen Geschichte bis in die zwanziger Jahre hinein erzählt wird. Oberleutnant a. D. Beckers Schicksal wird berichtet. Dieser Band ist überfrachtet, zerfasert und ich gestehe es ein, diesen Band nicht bis zur letzten Seite gelesen zu haben. Es war meine ganz persönliche Kapitulation.

Unfähig, ein Gesamturteil über dieses Werk fällen zu können, wende ich mich anderen Werken zu. Auf andere Werke von Alfred Döblin werde ich auch zurückkommen.

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