Tagebuch über einen Verrückten

Mit dem estnischen Schriftsteller Jaan Kross war ich bislang nicht in Kontakt gekommen. Nun las ich seinen Roman „Der Verrückte des Zaren“.

Zunächst zum Inhalt. Ein Mann namens Jakob Mättik schreibt ein Tagebuch. Darin hält er die Geschichte seiner Schwester und ihres Ehemanns fest. Timo von Bock hat dem Zaren Alexander I. gelobt, immer die Wahrheit zu sagen. So schreibt er ihm ein Manifest, indem er den Zaren beschimpft und beleidigt. Er wird ins Gefängnis geworfen, nach neun Jahren, mit der Auflage seinen Hof und dessen Umgebung nicht zu verlassen, entlassen.

Das Tagebuch zeichnet die Geschichte auf, immer reflektierend, nie distanziert, aber um Objektivität bemüht. Timo ist sicherlich nicht verrückt, sondern vielmehr einfach ehrlich! Er glaubte an das Gute in den Herrschern dieser Welt, aber natürlich ist das Traumtänzerei. Es gibt nun einmal nicht den guten Herrscher, jeder will nur das hören, was seinem Eigenbild entspricht.

Kross hat auch eine Metapher auf die Zeit der Sowjetunion verfasst. Er kennt die Menschen, die im Gulag gelandet sind, nur weil sie es wagten, die Wahrheit auszusprechen. Ein Buch, so aktuell, wie die Welt jung ist.

Dieser Roman ist ein Juwel! Er enthält jede Menge Lebensweisheiten! Er ist mehr als lesenswert. Ich möchte von diesem Autor noch mehr lesen!

Ein Jahrhundert wird nacherzählt

Auf Seite 584 der Taschenbuchausgabe des Romans „Abendland“ von Michael Köhlmeier findet man den Satz „Das Kreuz des Abendlandes ist das schlechte Gewissen.“

Das ist die einzige Stelle in diesem 775 Seiten zählenden Werk, an dem der Titel erscheint. Ja, dieser Roman beschäftigt sich mit unserem Kulturkreis. Mit wichtigen Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts, das für die Erwachsenen ihr Jahrhundert bildet – bis jetzt!

Vordergründig erzählt der Schriftsteller Sebastian Lukasser das Leben seines Vaters, seiner Mutter und des mit seinen Eltern befreundeten Ehepaares nach. Eigentlich erzählt er die Geschichte des Mannes dieses Paares. Carl Jacob Candoris ist ein Zeuge seines Jahrhunderts; er will, dass Sebastian sein Leben aufschreibt. Carl ist Mathematiker und Jazz – Liebhaber. Er ist der gute Geist, der immer wieder den Eltern Sebastians beisteht. Vater Georg Lukasser ist Musiker, ein wahrlich guter Jazzmusiker. Carl tut alles, um ihm den ihm gebührenden Platz zukommen zu lassen. Candoris scheint an allen wichtigen Begebnissen des letzten Jahrhunderts teilgenommen zu haben. Er war an dem Bau der amerikanischen Atombombe beteiligt, er kennt alle großen Musiker der Jazzszene, er hat noch Erinnerungen an den ersten Weltkrieg, an KuK Österreich, an das alte Wien, an das Lissabon zwischen den Kriegen. Edith Stein hat er als Junge kennen und lieben gelernt. An die USA und an so viele andere Orte knüpft er Erinnerungen, dass man an Woody Allens Filmfigur denken muss, die überall und immer dabei gewesen sein will. Sebastians Leben ist nicht weniger bunt, er sucht nach seinem Weg und will sich von Carl, seinem Mentor abnabeln. Aber am Ende ist er dann doch wieder seinem Mentor ganz nah.

Da dieser Roman viel mit Musik und insbesondere mit Jazz zu tun hat, wird sich niemand wundern, dass dieses Werk geradezu komponiert wurde. Eine Einleitung, ein kurzer Schluss und vier große Teile, die jeweils nochmals in vier Kapitel mit zumeist acht Unterkapiteln untergliedert sind.

Köhlmeiers Roman schreckt vielleicht durch seine Länge den einen oder anderen ab, aber tatsächlich liest man immer wieder sofort los, ist sofort mittendrin in dem Kosmos der Gedanken und Begebenheiten.

Gespickt mit wundervollen Gedanken und amüsanten Sentenzen ist dieser Roman ein literarisches Wunder. Eine Besichtigung des Abendlandes lohnt!

Einige Gedankensplitter gefällig?

„Auf die lindernde Distanz des Präteritums vertrauen.

Die Kreisform der Wiederholung ist das einzig mögliche Gleichnis, das wir uns von der Ewigkeit machen können.

Die Guerillas der Depression lauerten in jeder Falte des Tages.

Nicht auf dem Wendepunkt unseres Lebens haben wir uns kennengelernt, sondern knapp danach. Als frisch Resignierte, frisch Verzagte, als junge Verräter, als gerade erst Desillusionierte, als beinahe Ausgeträumte. Unsere Beziehung versprach nicht eine neue Chance, aber einen erträglichen Umgang mit der Niederlage. Und das nenne ich die Grundlage für eine ideale Partnerschaft.

In der Einsamkeit ist nicht ein Korn vom Glück des Alleinseins enthalten.“

Brunetti Nr. 17

Jedes Mal schwöre ich mir, den nächsten Roman der Donna Leon über ihren Kommissar Brunetti, nicht zu lesen. Ich tue es dann doch, vor allem, weil das Englisch leicht zu lesen ist und ich so in Übung bleibe.

Wie immer geht es um viel Familienkolorit der Brunettis; seine Mutter wird zu Grabe getragen. Der Priester bittet um Hilfe und schließlich entwickelt sich ein Fall, in dessen Mittelpunkt der Tod eines „Zigeunermädchens“ steht. Ertrunken, abgerutscht an einer Dachschräge, auf der Flucht vielleicht, weil sie bei einem Einbruch ertappt wurde.

War es Mord? War es nur ein Unfall mit Todesfolge? Wir tauchen ein in das Milieu der Roma, in die Vorurteile der Sesshaften über das fahrende Volk. Man kann sich so schön mit den Figuren, die dem Leser nun schon so lange vertraut sind, identifizieren oder auch nicht. Man ist gern zu Gast bei den Brunettis, deren gepflegter Tischkonversation und nebenbei wird so ein Fall auch noch gelöst.

Ich verordnete der Frau Leon eine Schreibpause; in meiner Taschenbuchausgabe ist schon das erste Kapitel des nächsten Romans (Nr. 18!) abgedruckt. Na ja, ich werde den sicherlich auch lesen.

Begegnung mit Thoma

Die Münchnerinnen sind eher ein schmaler Band. Sicherlich nicht die ganz große Literatur, aber ein prächtiges Zeitzeugnis aus einer Welt, die noch gar nicht so fern ist. Wie die Mannsbilder unter sich sind, ihre Geschäfte machen, wie sie die Frauen eher als lästiges Anhängsel begreifen, die zwar notwendig sind, weil sie zum guten Ton gehören, aber eigentlich herzlich überflüssig sind. Und dann die Damen; unbefriedigt in jeder Hinsicht, meist noch ausgestattet mit einer wenig liebevollen Schwiegermutter, sehnen sie sich nach Anerkennung, nach Zuwendung. Sie wollen Aufgaben übernehmen, nicht nur Begleitperson sein. Und so kommt es wie es kommen muss, ein fescher Student ist zur Stelle und füllt die Lücken, stillt die Sehnsüchte. Allerdings ist das natürlich nichts dauerhaftes, weil diese Studenten auch nur Männer sind, die nach einiger Zeit aufbrechen, um sich eine Frau „zuzulegen“. Dann muss Schluss sein mit den Amouren. Und zurück bleibt ein untröstliches Frauenzimmer.

Gern hätte man noch länger in dieses Münchner Leben hineingeschaut, das natürlich nicht nur für München gültig ist. Aber Thoma blendet irgendwann einfach ab. Der Film ist aus, sonst wäre aus dem schmalen Band schnell ein Sittenroman geworden (Münchnerinnen). Schade eigentlich, dass Ludwig Thoma nicht weitergeschrieben hat.

Vorsicht Satire

Der Nazi und der Friseur ist Max Schulz. Der Mann wird fast genau zum gleichen Zeitpunkt geboren wie sein Freund Itzig Finkelstein. Schulz lernt beim Vater Finkelstein das Friseurhandwerk. Dann wird Max Nazi und SS-Scherge. Er ermordet Juden und entkommt nur knapp als der schreckliche braune Spuk endlich vorbei ist. Max geht nun als Itzig Finkelstein, den er im KZ wahrscheinlich selbst ermordet hatte, nach Israel, er nimmt die jüdische Identität an. Er ist ein anderer geworden. Aus dem Täter wurde ein Opfer und man staunt über diese Chuzpe.

Was diesen Roman auf eine Stufe mit ganz anderen großen Auseinandersetzungen von Autoren mit der Nazizeit stellt, ist der ironische Ton. Vorsicht Satire möchte man den Leserinnen und Lesern zurufen. Ein solcher Roman durfte nur von einem Autor jüdischen Glaubens geschrieben werden. Dieser hintergründige Humor, man behält das Lachen im Hals, es bleibt einem in diesem stecken.

Edgar Hilsenrath hat einen ganz großen Roman abgeliefert. Max Schulz steht neben Oskar Matzerath. Mehr muss man nicht sagen!

Der Feigenbaum

Francos faschistische Falangisten treiben im Baskenland ihr Unwesen. Sie holen jede Nacht Männer von ihren Frauen, Väter von den Kindern fort und ermorden sie. Die Leichen bleiben am Straßenrand oder wo auch immer sonst liegen. Dieser Terror führte zum Sieg der Faschisten im spanischen Bürgerkrieg. Und nun kommt ein kleiner Junge ins Spiel, dessen Vater und dessen großer Bruder werden auf die beschriebene Weise ermordet. Einen der Täter aber lässt der Blick des Jungen nicht mehr los. Ein Blick voller Hass und der Ankündigung späterer Rache. Die Leiche der Angehörigen des Jungen werden vergraben. Und auf dem Grab soll ein Feigenbaum wachsen. Und der Mittäter, der in den vom Blick des Jungen in den Bann geschlagene junge Faschist, kann nicht anders als bei diesem Grab und dem Schössling zu bleiben, das Bäumchen zu pflegen und dafür Sorge zu tragen, dass es wächst und nicht vernichtet wird. So wird er zum Eremiten, zum Anziehungspunkt für viele Menschen und natürlich zur Anklage, zur lebenden Klageschrift für seine Kameraden. Ein Feigenbaum als Memento Mori, als Mahnung an die Lebenden, als Zeichen gegen Faschisten und Faschismus.

Damit mir nicht vorgeworfen wird, ich verrate die Geschichte und lasse somit möglicherweise jemand das Werk erst gar nicht lesen, verrate ich nicht, was weiter passiert.

Der Roman liest sich leicht, obwohl sein Thema so unendlich grauenhaft ist. Der Roman ist ein Muss für Menschen, die spanische Gegenwartsliteratur lesen möchten. Der Autor Ramiro Pinilla gehört für mich zu den Anwärtern auf den Literaturnobelpreis und der „Der Feigenbaum“ sollte weiter gehegt und gepflegt werden – im Gedächtnis möglichst vieler Menschen.

Ausgeflippte Lektüre

Dieser Roman – „Philip und die anderen“, der erste, des von mir sehr geschätzten Holländers Cees Nooteboom, der ein wahrer Europäer ist, ließ mich fasziniert, aber auch ratlos zurück.

Da erzählt Philip von seiner Suche nach einem chinesischen Mädchen. Er trifft auf seiner Suche nach ihr durch Westeuropa viele andere, am Ende auch die Gesuchte, um sie bald wieder zu verlieren. Philip erzählt, was ja schon bedeutet, dass sein Autor jemanden erzählen lässt. Philip erzählt von Menschen, die ihm Geschichten erzählten. Wir befinden uns also in einer mehrfach gebrochenen „Wirklichkeit“. Wir haben nicht viel, woran wir uns festhalten können. Und das Tempo der Erzählung ist enorm. Man könnte daraus wunderbar ein Hörspiel einrichten oder ein Theaterstück bauen. Der Text will nicht mehr und nicht weniger als uns den Sinn des Lebens zu erklären. Und das geht so: „Es gibt eine alte Geschichte vom Paradies. Wir kennen sie alle sehr gut, und das ist nicht verwunderlich, denn der einzige Grund unseres Daseins besteht darin, wieder ins Paradies zu gelangen, obwohl das nicht möglich ist. … Wir sind geboren, um Götter zu werden, und zugleich, um zu sterben; das ist verrückt. Das zweite ist für uns nur schrecklich, weil wir dadurch das erste nie erreichen können.“

Und an anderer Stelle kommt dann der Satz, der früher das Buch in seiner deutschen Übersetzung anbot: „…Dies ist nicht die Welt, es gibt ein Paradies nebenan.“

Was für ein Buch!

Immer auf diese Gegensätze setzend, hier der Mönch, der aus dem Kloster flieht, dort der junge Mann, der in die Kirchendienste treten will, aber als Epileptiker abgewiesen wird. Alle Erzählebenen geben Dir, liebe Leserin, lieber Leser, nur einen Rat: „Dass man nicht am Ende lebt, sondern jetzt!“

Meiner Taschenbuchausgabe ist ein sehr lesenswertes Nachwort von Rüdiger Safranski angefügt, ein kluges Nachwort, das man auch lesen sollte.

Die Kleinbürger – ein großes Märchenbuch

Meine bisherigen Begegnungen mit Balzac verliefen nicht so sonderlich vorteilhaft, wie es zwischen Leser und Autor doch der Fall sein sollte. Alles war schwerfällig und zumeist so ausführlich beschrieben, dass der Funken Spannung, der irgendwann einmal aus jedem Buch auf den Leser überspringen sollte, nicht zündete. Ich wollte aber nach längerer Zeit einen neuen Versuch mit der Lektüre eines seiner Werke unternehmen. Die Kleinbürger ist eine groß angelegte Studie über so unterschiedliche Charaktere, die zumindest deren Mehrzahl nur eines verbindet: Hinter Geld her zu sein.

Natürlich gibt es auch die guten Menschen und da dieser Roman irgendwie ein Märchen ist, wird auch alles gut zum Schluss. Aber zunächst braucht der Leser wiederum einen längeren Atem. Denn es werden Wohnhäuser, Wohnungen und Menschen in einer Genauigkeit beschrieben, die hier und da nicht nur ermüdend wirkt, sondern dazu führen könnte, den Roman aus der Hand zu legen. Wer es nicht tut, wird reichlich belohnt.

Die Geschichte, deren Hauptcharakter, oder einer der Hauptcharaktere von Balzac selbst häufiger mit dem Tartuffe oder sogar mit Mephisto verglichen wird, nimmt immer neue Wendungen. Man fürchtet Schlimmstes für die zarten Seelen und dann dreht sich die Schicksalsschraube noch ein wenig weiter in das Holz der Erzählung hinein und es geht irgendwie weiter.

Die Figuren dieses Stücks sind Karikaturen, wie viele Zeichnungen Daumiers. Sie bleiben im Gedächtnis haften, weil sie so wunderschön überzogen dargestellt sind. Und in Gottes Zoo gibt es nun einmal diese große Sammlung verschiedener Typen der Gattung Mensch. Dieser Roman ist auch eine Sammlung herrlicher Zitate, geistreicher Metaphern und die Dialoge, die der Roman enthält sind so spritzig und witzig, wie nur wenige von mir bisher gelesene Unterhaltungen, die doch häufig etwas sehr gezwungenes besitzen.

Der Roman kommt dann irgendwann einmal zu seinem Ende und wenn sie nicht gestorben sind, dann …

Abgehoben

Thomas Pynchon hat vor vielen Jahren einen Roman mit dem Titel „Die Versteigerung von Nr. 49“ geschrieben. Er gilt als einer derjenigen Romane des Meisters, die gut zugänglich sein sollen. Nun dann, dachte ich mir, das ist die richtige Einstiegslektüre für diesen hochgehandelten Autor, von dem es keine neueren Fotos gibt und der um sein Leben ein Geheimnis macht und sich damit noch interessanter.

Der Roman handelt von dem Versuch für einen verstorbenen Geliebten als Nachlassverwalterin tätig zu sein. Nun legt sich aber ein Geheimnis über diese Aufgabe und die gute Frau namens Oedipa versucht, die sich vor ihr auftürmenden Geheimnisse zu lüften. Die Namen der Akteure sind schauerlich, die Figuren sind es auch. Ein Posthorn mit Dämpfer spielt eine wichtige Rolle und eine alternative Post und ein alter Schinken von Theaterstück, von dem man nicht mehr weiß, was denn nun die richtige Fassung gewesen sein könnte. Das Ganze muss im Vollrausch, in der LSD Phantasie, im total bekifften Zustand oder wie auch immer entstanden sein. Man kann es wahrscheinlich auch nur so lesen und eventuell sogar genießen. Ansonsten sollte man die Finger von dieser Lektüre lassen. Ich hatte keine „Hilfsmittel“ zur Verfügung und so tröstete ich mich damit, dass sich zweihundert Seiten schnell lesen lassen.

Nicht wundern muss man sich darüber, dass dieser Roman auch keinen rechten Schluss hat.

Ich klappte das Buch erleichtert zu und will so schnell von dem Mann nichts mehr lesen!

Ein Krimi der dritten Kategorie

Ulf Miehe hat einen Kriminalroman vor vielen Jahren geschrieben, der im alten beschaulichen Westberlin spielte. „Ich hab noch einen Toten in Berlin“ heißt er und ist eine einzige Enttäuschung.

Ein Regisseur und sein Drehbuchautor recherchieren für einen neuen Film und langsam entwickelt sich bei den beiden die Idee, das „Ding“ selbst zu drehen. Eine Million Dollar sind der Preis und man schafft den Coup. Aber warum dennoch ein Toter zurückbleibt, das sage ich nicht und ich sage auch nicht, wie der Coup verläuft. Was ich aber sage: Dieser Roman ist spannungs- und ereignisarm.

Dieses Buch muss man nicht lesen.

Schnell weiter zur nächsten Lektüre!

Ein Bestseller – kritisch betrachtet

Der Publizist Richard David Precht hat mit dem Sachbuch „Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Eine Philosophische Reise“ einen Bestseller geschrieben. Warum haben dieses Buch so viele Kritiker empfohlen?

Das Buch ist gefällig geschrieben, es besteht aus 34 Kapiteln, die alle im Stile des Spiegel Journalismus verfasst sind. Man beschreibt Szenen an denen der Autor, weil sie viele Jahrhunderte zurückliegen, nicht teilgenommen hat, aber man beschreibt sie, als ob man dabei gewesen wäre. Man schreibt gefällig, als ob man an einem Kurs über kreatives Schreiben teilgenommen hätte. Nur eine Reise ist es nicht, auch wenn die Kapitelüberschriften dies vorzugaukeln versuchen. Wird von einem Philosophen berichtet, dann wird auch eine Kurzbiographie eingeflochten, die aber auch so ein wenig nach bunte Blätter Lektüre „schmecken“. Ein sachliches Buch ist anders. Und noch nicht genug gemäkelt: Viele Kapitel könnten auch für andere Zwecke geschrieben worden sein. Für einen Zeitungsartikel oder einem Beitrag für einen Radiosender. So häufen sich einige Kapitel über moralische Fragen (Abtreibung, Klonierung, Stammzellenuntersuchungen). Da reist man nicht mehr, sondern breitet sich zu Themen aus, die man fertig im Rechner hatte (das ist eine böswillige Unterstellung, aber ich werde diesen Verdacht nicht los). Dann bricht das ganze Buch wieder auseinander und wir reden über das Glück, die Suche nach ihm und letztlich nach der Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Also noch ein Buch, das uns Glück nach seiner Lektüre verheißt.

Nun gibt es aber auch einiges, was dieses Buch dennoch durchaus empfehlenswert macht. Man bekommt Eindrücke von dem Stand der Hirnforschung, von dem was heute die Biologie beschäftigt. Und Precht versteht, schwierige Sachverhalte sehr einfach und anschaulich darzustellen.

Aber dann enthält dieses Buch eine Reihe von Sätzen, die meine oben geschilderte Aversion gegen diese Schrift wieder bestätigen: „Füllen Sie Ihre Tage mit Leben und nicht Ihr Leben mit Tagen“.

Da fällt mir nichts mehr ein, denn so etwas oder so ähnlich hat uns Menschen schon Epikur geraten.

Nordwind

Da hat ein Schriftsteller eine blendende Idee. Eine Frau hat beim Abbestellen eines Abonnements einen Buchstabendreher und landet bei einem Mann. Beide wohnen in der gleichen Stadt, kennen sich aber nicht. Es beginnt ein heftiger E-Mail-Wechsel. Man kann – ja durchaus auch im erotischen Sinne – von E-Mail-Verkehr reden. Der Wechsel weitet sich aus und der Wunsch den anonymen Partner kennenzulernen, wird immer stärker.

Ob man sich trifft oder nicht, darf ich nicht verraten. Aber ich darf den Einfallsreichtum des Autors rühmen, sein Geschick in dieser modernen Kommunikationsform eine sehr romantische und anrührende Liebesgeschichte zu verstecken.

Dieser Roman zieht den Leser und die Leserin so in seinen Bann, dass man gar nicht aufhören kann mit dem Lesen und sich ganz sehnsüchtig eine Fortsetzung wünscht (der Autor hat diesen Wunsch zwischenzeitlich erfüllt!). Emmi schreibt ihrem Leo einmal, dass er gut gegen Nordwind sei. Da kann Emmi nämlich nicht gut einschlafen. Das Buch „Gut gegen Nordwind“ ist genauso! Der Autor heißt Daniel Glattauer und man kann ihn nur rühmen.

Ein Kriminalkommissar aus Sizilien

Lange habe ich gebraucht, den ersten Band und damit den ersten Fall des Commissario Montalbano des sizilianischen Schriftstellers Andrea Camilleri zu lesen. „Die Form des Wassers“ heißt er und er liest sich leicht und locker, wie eine süße sizilianische Nachspeise.

Ein Politiker wird tot in einer Gegend gefunden, in der man sich Liebe, oder was man dafürhalten kann, kaufen kann. Dass die Spekulationen über den Tod des Mannes (er starb an Herzversagen) in die Höhe schießen, liegt vor allem daran, dass nur kurze Zeit später ein Politiker der innerparteilichen Opposition zum neuen Chef gewählt wird. Wie sich das alles löst und mit einander zusammenhängt, erfährt der Leser des Romans. Montalbano führt die Fäden zusammen, mit viel Geschick und vor allem sehr viel Feingefühl.

Angst

Hätte man eine elektronische Version des Romans „Die Ängstlichen“ von Peter Henning zur Hand, dann könnte man zählen, wie oft in diesem Roman das Wort „Angst“ vorkommt. Die Zahl muss sehr hoch sein. Auch das Wort „Sehnsucht“ wird eine hohe Trefferzahl aufweisen.

Der Roman soll ein Familienroman sein; er stellt uns die Personen vor, springt von einem zum anderen und so langsam entsteht ein Bild dieser Familie, die nicht mehr viel miteinander zu schaffen hat. Eigentlich fliegt gerade allen alles um die Ohren. Mutter will ins Heim, ihr Lebensgefährte versteckt sich vor der Polizei und vor Kriminellen, denen er Geld schuldet. Ein Sohn versucht, zum wiederholten Male aus der Irrenanstalt zu fliehen. Der andere Sohn durchlebt einige schlimme Tage, weil er eine Krebserkrankung bei sich vermutet, die sich dann doch als bloße Befürchtung herausstellt. Dessen Sohn schwimmen die beruflichen Felle und die Freundin gerade davon. Die Tochter versucht verzweifelt, ihre in die Brüche gehende Ehe zu retten. So ist das Tableau. Der Roman enthält Ungenauigkeiten, die dem Lektor, wenn nicht schon dem Autor, hätte auffallen müssen. Nein, dieser Roman ist nicht der große Wurf. Er lässt mich ratlos zurück, weil ich mich frage, was der Autor mir nun sagen möchte.

Mich beschleicht das Gefühl, er weiß es auch nicht. Und der Plan, einen großen Familienroman zu schreiben, der am Beispiel einer Familie, den Weltengang spiegelt, ist gescheitert. Nicht jeder Autor heißt Thomas Mann und nicht jeder Roman hat die Qualität der Buddenbrooks.

Hungerlektüre

Hoffmanns Hunger. Na schön. Irgendwo wird erklärt, warum dieser Roman so heißt. Aber wieso fand der sich vor einigen Jahren einmal auf der Bestsellerliste?

Drei Figuren im Wesentlichen, die zusammenspielen, die Leon de Winter zusammenführt. Was sie aber nicht tun. Hoffmann, der holländische Botschafter in Prag kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks. Der Mann frisst nachts alles, was ihm vor den Mund kommt. Er kann nicht schlafen, seit vielen Jahren nicht. Seit dem Tod seiner beiden Töchter, die eine als Mädchen an Krebs, die andere an einer Überdosis Rauschgift einige Jahre später Der Mann ist gebrochen, seine Ehe nicht mehr existent. Seine Frau hatte einige Jahre eine Affäre mit einem CIA Agenten, der verhört gerade einen völlig übergewichtigen amerikanischen Staatsbürger, weil er wegen seiner nächtlichen Fressattacke Zeuge einer Entführung eines CIA Mitarbeiters in Prag wurde. Später wird dieser Fettsack sich wichtigtuend an die Tschechen zu wenden versuchen, damit sie ihm seine Ehefrau ermorden. Hoffmanns Hunger kontrastiert mit seinem Wissensdurst, Er liest Spinoza, er will mit einer jungen Tschechin ein Verhältnis beginnen, nach seinem ersten Geschlechtsverkehr mit ihr kann er sogar wieder einmal schlafen. Er wird zum Verräter in einer Zeit des Zerfalls, vom CIA benutzt, von seinen Trieben gezwungen und von seinem Leben längst zerstört. Der Mann ist fertig auf der Bereifung. Der Mann ist schon tot. Warum dieser Roman, warum mutet man mir zu, die Verdauung des Herrn Hoffmanns detailliert erläutert zu bekommen und sein Erbrechen nach der Völlerei.

Nein, das ist kein Roman, den man gelesen haben muss. Weg damit und schnell etwas anderes angepackt!

Dreizehn Monate im Leben des Jason Taylor

Black Swan Green, so heißt der Roman von David Mitchell übrigens im Original – in der Übersetzung auch nicht unzutreffend „Der dreizehnte Monat“ – , ist eine kleine Gemeinde mitten in England. Da ist nicht viel los und für einen heranwachsenden Jugendlichen bestehen die Aufregungen in dem täglichen Kampf mit den anderen Jungen der Umgebung. Man ist in der Skala der Kids eingereiht. Nicht ganz oben, nicht ganz unten. Aber an dieser Stellung kann sich jederzeit etwas ändern. Alles ist fragil. Hinzukommt, dass das andere Geschlecht entdeckt werden will und dann gibt es in der Familie Umwälzungen.

Die beginnen im ersten Satz des Romans sind aber nicht sogleich als solche erkennbar. Wir leben 13 Monate mit Jason, er verändert sich in dieser Zeit. Alle haben sich verändert. Nichts ist so, wie es am Anfang war.

Selbst ein Ereignis, wie der Falklandkrieg, bleibt nicht ohne Folgen in der tiefsten englischen Provinz.

Besonders beeindruckend ist der Stil Mitchells, der sich bemüht, wie ein dreizehnjähriger zu schreiben und zu denken. Eine schöne Geschichte, die uns da präsentiert wird. Jason stottert sich durch sein Leben, wie jeder von uns, mit mehr oder weniger Erfolg.

Ein schöner Roman, eine angenehme Lektüre, die mir noch immer ein Lächeln auf das Gesicht zurückbringt.

Weihnachtserinnerung

Eine Weihnachtserinnerung ist eine kurze Geschichte von Truman Capote.

Dieser Mann hat eine ganz klare Sprache, eine perfekte Art, Dinge mit knappen Sätzen zu beschreiben und auf den Punkt zu bringen.

Er erzählt auf knapp 50 Seiten von einem Jungen, der bei einer älteren Frau aufwächst. Arm sind sie beide und doch reich, weil sie sich auf Weihnachten vorbereiten. Das ganze Jahr über sparen und von dem Ersparten alles kaufen, was man zum Backen von Früchtekuchen benötigt. Diese Kuchen verschicken diese beiden dann in alle Richtungen an Menschen, die sie nur kurz einmal kennengelernt hatten. Als der Junge dann von der alten Dame getrennt wird, bekommt er noch viele Jahre diese Kuchen selbst als Zeichen zugesandt. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Dame stirbt und Gott gegenübersteht. Diesen – so hatte sie früher schon festgestellt – sieht man in allen Dingen, die um einen herum sind. Das ist in wenigen Sätzen geschildert und so eindringlich, so wundervoll auf den Punkt gebracht.

Capote lesen, ist ein großes Vergnügen.

Jimmy geht zum Regenbogen

Im Jahre 2009 starb Johannes Mario Simmel.

Der Mann war ein „Vielschreiber“ und alle lasen ihn, aber das Feuilleton rümpfte immer wieder die Nase über ihn und so stand er in dem Bann der eigentlich nicht lesbaren Schriftsteller. Ich hatte in einer Bahnhofsbuchhandlung den Roman „Und Jimmy ging zum Regenbogen” gekauft und nun auch gelesen.

Ein spannender, wenn auch manchmal etwas langatmiger Roman. Er führt uns zurück in die Nazizeit und in die Zeit der Aktionen der verschiedenen Geheimdienste in Wien um 1968. Er soll auf wahren Begebenheiten beruhen und liest sich – nach anfänglichen Startschwierigkeiten – doch sehr gut. Man will – gemeinsam mit dem Romanhelden – endlich wissen, was das Geheimnis ist, um das sich das Buch rankt. Er führt nicht die Charaktere aller seiner Figuren gleichmäßig aus und streut geschickt neben der „Crimeader“ auch die „Sexader“ in die Geschichte ein. Es gibt dann aber auch einige gute, tiefere Gedanken:

„Ich liebe Dich! Die drei von gemeinem Missbrauch am meisten entleerten Worte der Welt:”

„Der Zufall wird von statistischer Gesetzmäßigkeit regiert.“

„Zwar ist der Atomzerfall ebenso wie das Sterben kausal bedingt, aber nicht determiniert, sondern fassbar nur nach den statistischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit.“

„Der menschliche Wille ist in der Tat frei. In dem gleichen Augenblick aber, in dem eine Willensentscheidung so und nicht anders ausgefallen ist, kann ich wiederum eine Kausalkette nach rückwärts aufdröseln – und es stellt sich heraus, warum ich mich so und nicht anders entschieden habe.“”

Außergewöhnlich ist auch der Schluss dieses Romans, man kehrt an den Anfang zurück und es glückt, was anfänglich scheiterte.

Schifffahrt mit Tiger

Eine verrückte Geschichte.

Da geht ein Schiff unter mit einem ganzen Zoo an Bord. Eine moderne Arche Noah sozusagen. Es gibt nur ein Rettungsboot und zu Beginn der Reise auf dem Pazifik befinden sich eine Hyäne, ein Zebra, ein Tiger und ein junger Inder an Bord. Der Mann ist Christ, Moslem und Buddhist. Er glaubt an die Religion der Liebe. Es ist eine unglaubliche Geschichte. Aber nett geschrieben und man liest sich durch die Geschichte und freut sich über die Phantasie des Autors Yann Martel und seiner Geschichte von Pi.

Schiffbruch mit Tiger darf man getrost lesen.

Füchse im Weinberg

Lange habe ich mich – zumindest zu Beginn – mit einem Buch nicht so abgemüht, wie mit diesem Roman Feuchtwangers (Lion Feuchtwanger, Die Füchse im Weinberg).

Schon wenige Seiten ermüdeten mich und ich dämmerte über dem Gelesenen ein. Irgendwann, vielleicht auf Seite 300 oder 400 hat sich dann ein Schalter umgelegt und ich las interessiert, amüsiert und animiert weiter. Was die Seitenzahlen betrifft übertreibe ich gewiss nicht, denn dieser Roman hat fast 1000 Seiten in meiner Taschenbuchausgabe und es dauerte wirklich lange, bis der eben geschilderte Effekt eintrat. Aber er trat ein und der Roman sprach zu mir, wie Figaro, die Hauptfigur des Theaterstücks von Beaumarchais: „Eh, parbleu, j’y suis!“

Wir befinden uns in den Jahren 1776 bis 1778 in Paris, wo die Amerikaner, allen voran Benjamin Franklin, versuchen, die Franzosen zur Allianz im Unabhängigkeitskrieg gegen England zu bewegen. Die Handlung wechselt zwischen dem französischen Hof, der Residenz des Doktor Franklin und verschiedenen Wohnorten des oben bereits erwähnten Schriftstellers und Unternehmers Beaumarchais. Er besorgt als Geheimagent der französischen Regierung Waffen für die Amerikaner, er droht, ständig Pleite zu gehen und er ist einer der zentralen Figuren dieses historischen Romans. Dieser bringt einem Ludwig XVI. näher und man ist beklommen, bei dem Wissen um dessen Schicksal. Marie-Antoinette bringt ihre erste Tochter quasi in unserem Beisein zur Welt und wir diskutieren mit dem Kaiser Joseph II. von Österreich die Geschicke der Welt. Wir begleiten Voltaire in seinen letzten Lebenswochen und wir nehmen ärgerlich die Ungeschicklichen des mit Franklin um die Meinungsführerschaft konkurrierenden Arthur Lee zur Kenntnis. Am Ende sind wir enttäuscht, dass dieser Roman nicht noch weiter erzählt von all dem prallen Leben. Und er regt mich an, die Geschichtsbücher zu Rate zu ziehen, um zu erfahren, welches Ende der Monsieur Beaumarchais nahm und viele andere der Figuren dieses sehr bemerkenswerten Romans.

Der Roman steckt voller schlauer Sätze, von denen einige es wert sind, hier zusammengefasst zu werden:

Montalbanos Fall Numero zwei

Der sizilianische Autor Andrea Camilleri schreibt wirklich spannende Kriminalromane. Sein Band „Der Hund aus Terracotta“ greift in italienische Kriegszeiten zurück. Natürlich ist auch irgendwie die Mafia in den aktuellen Fall verstrickt. Der Fall, der auf die Kriegszeit zurückgeht, ist aber der spannendere und menschlichere.

Transit

Wenn man Anna Seghers Roman das siebte Kreuz vor vielen Jahren verschlungen hat, dann hat man eine natürliche Scheu, sich anderen Werken dieser Autorin zuzuwenden. Und ich sage nunmehr mit Recht.

Transit ist ein Roman, der mich streckenweise an den wundervollen Film „Casablanca“ erinnerte. Nur im Film wird der Liebe gehuldigt, da wird am Ende nicht unser Barbesitzer mit seiner Ex-Geliebten in das Flugzeug nach Lissabon steigen, aber wir haben auch keinen Grund zu der Annahme, dass der Flieger abstürzen wird.

Hier im Transitroman wird die geliebte Frau mit einem Schiff untergehen. Unser Mann bleibt in Marseille zurück, er überlebt und kann seine Geschichte und diejenige vieler anderer Flüchtlinge erzählen. Diese Erzählung ist nicht immer spannend und ich hätte nicht ständig erzählt bekommen müssen, dass man sich wieder auf der Hauptstraße von Marseille befindet und wieder in einem Café und so weiter. Ich fragte mich einige Male, wie der Mann sich finanziell eigentlich über Wasser hält. Aber das scheint nicht so wichtig zu sein. Mich störte es und das war nicht alles. Ich habe mich durch den Roman ein wenig gequält, bin an seiner Oberfläche geblieben und war froh, dass ich irgendwann die letzte Seite erreicht hatte.

Ein historischer Roman

Ich gebe es zu und schäme mich. Ich kannte den Autor Leo Perutz nicht bevor ich den Roman „Der schwedische Reiter“ gelesen hatte. Perutz lebte von 1882 bis 1957, natürlich verboten die Nazis seine Bücher, aber das entschuldigt nicht meine Unkenntnis.

Und auf dem Umschlagrücken des Buches steht ein schlauer Satz von Daniel Kehlmann über den Autor: „Perutz ist der größte magische Realist unserer Sprache.“

Nach der Lektüre des Romans kann ich mich der Bezeichnung des magischen Realisten sehr wohl anschließen. Nicht beurteilen kann ich die Zuordnung des Herrn Kehlmann, da ich nicht alle deutschsprachigen Autoren kenne.

Dieser Roman kommt in einer historischen Szenerie daher. Ein Mann lernt die Frau seines Lebens kennen, nimmt die Identität eines adligen Weggenossen an, den er in eine Art Hölle schickt, um das Leben dieses anderen führen zu können. Geschickt führt Perutz gleich am Anfang die Geschichte aus der Sicht der Tochter uns vor. Dann wird sie uns im Detail erzählt. Wir leben für kurze Zeit im 17. Jahrhundert und können gar nicht aufhören, diese Geschichte zu Ende zu lesen. Müdigkeit verfliegt und ich freue mich, diesen Autor kennen gelernt zu haben.

Ein großer magischer Realist der deutschen Sprache!

Der brutalst mögliche Roman

Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Brasilien eine sich ständig vergrößernde Bewegung von Menschen, die von einem Mann begeistert wurden, der das baldige Ende der Welt voraussagte. Ihm schlossen sich immer mehr derjenigen an, die früher Sklaven waren, die ausgestoßen waren. Elende, am Rande der Gesellschaft dahin vegetierende Gestalten. Auch gesetzlose Menschen, Mörder und Vergewaltiger. Sie alle sammeln sich in einem Ort in Brasilien und leben friedlich zusammen. Diese sich ständig vergrößernde Gemeinschaft bedroht den Staat, jedenfalls fühlt dieser sich bedroht und reagiert mit Gewalt. Er schickt Soldaten zu dem Ort, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Die Expedition scheitert kläglich. Die Truppe wird aufgerieben. Der Zustrom an Menschen hält an. Eine zweite Expedition scheitert ebenso und eine große Armee muss anrücken, um den Ort einzuebnen. Am Ende können sich die Geier an den Resten delektieren. Viele Tausende, der Ratgeber, wie er von seinen Anhängern genannt wurde, ist schon vorher an Schwäche gestorben. Am Ende sind alle durch den Krieg, durch die Gewalt verändert. Die Gesetzlosen und die Reichen, die Armeeangehörigen und die Priester. Niemand bleibt von diesem Krieg unbeeinflusst.

Das in diesem Roman von Mario Vargas Llosa aufgeführte Personal wird ausführlich vorgestellt. Der Berufsrevolutionär ebenso wie der Großgrundbesitzer. Die Frau des Fährtenlesers genauso wie der kurzsichtige Journalist. Nur der Ratgeber bleibt sehr wenig entwickelt im Hintergrund. Die Geschichte vom Krieg am Ende der Welt ist eine Aneinanderreihung von Gräueltaten des Krieges, die Leichen kann niemand zählen. Aber alles was uns erzählt wird, ergibt einen Sinn. Man kann sich die Geschichte auch nach Vietnam oder an das Ende der Schlacht um Stalingrad denken. Es gibt diese Ungeheuerlichkeiten in jedem Krieg, diese Sinnlosigkeiten des Mordens.

Diese Geschichte ist ein Meisterwerk.

Eine Freundin schenkte mir vor einigen Jahren den Roman und schrieb auf die erste Seite „Simply because it’s a brilliant book“. Sie hatte so recht!

Donna Leon und der nächste Brunetti Krimi

Das ist der 18. Roman von Donna Leon. Zum 18. Male lebt man mit dem Kommissar Brunetti und dessen Familie zusammen. Man liest mehr von dem Familienleben und den Gedanken der Protagonisten als von den spannenden Fällen des gebildeten Mannes in Venedigs Mauern.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass ein gestraftes Gesicht nicht immer auf eine Schönheitsoperation zurückzuführen ist und dass die Dinge im Allgemeinen nicht so sind, wie sie scheinen.

Ein Umweltskandal macht die Sache aktuell, aber, wie schon in anderen Romanen der Autorin, tritt der Fall immer mehr in den Hintergrund und ganz vorn philosophiert man über andere Dinge. Der Roman heißt im Original „About Face“, ich bin gespannt, wie man ihn ins Deutsche übersetzen wird.

Nachtrag: Der Titel ist schöner Schein.

Ein italienischer Krimi von höchster Qualität

Es ist des Commissarios Montalbanos dritter Fall. Und jetzt, während ich dies schreibe, fällt mir ein, dass ich über den Titel nicht so recht nachgedacht habe. Wieso eigentlich heißt dieser Roman von Andrea Camilleri „Der Dieb der süßen Dinge“? Ich habe keine Ahnung.

Aber das ist sekundär. Ein Kriminalroman, der den folgenden gekürzten Absatz enthält, kann nicht schlecht sein.

Nein, er ist verdammt gut.

„Es kommt der Augenblick, dachte er, in dem man merkt, dass sich das Leben geändert hat. Aber wann ist das geschehen? Fragt man sich. Und man findet keine Antwort, Geschehnisse, die man nicht wahrnehmen konnte, haben sich gehäuft und irgendwann die Wende eingeleitet. Vielleicht auch wahrnehmbare Geschehnisse, deren Tragweite und Folgen man nicht bedacht hat. Man fragt und hakt nach, aber die Antwort auf dieses „Wann“ findet man nicht. Als ob das wichtig wäre! Bei ihm, Montalbano, war das anders, er hätte diese Frage sofort beantworten können.“

Die Geschichte ist kompliziert, zwei Fälle, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, gehören natürlich doch zusammen. Der Kommissar isst für sein Leben gern. Er hat eine Freundin in Genua, also weit genug weg und er will nicht befördert werden, weil dies unweigerlich mit einem Umzug verbunden wäre. Ein Unding für ihn. Die Stadt Vigatà ist eine erfundene sizilianische Siedlung. Aber alle Personen, die in dem Roman auftauchen sind voller Leben. Das ist das pralle Leben. Es macht Spaß, diesen Krimi zu lesen. Es ist ein Vergnügen.

Aber warum nur dieser Titel?

Weil er falsch übersetzt ist! Im Original heißt es der Dieb der Zwischenmahlzeiten, damit ist ein kleiner Junge, Francois, gemeint, der in dem Roman eine wichtige Rolle spielt.

Aber zugegeben, das hätte mir auch eher auffallen können. Der Roman ist sehr lesenswert!

Der Roman ROT

Thomas Linde ist Grabredner. Seine Lieblingsfarbe ist rot. Bei rot geht er über die Ampel und wird überfahren. Sein Leben, ein Teil seines Lebens zieht an ihn vorbei. Und so erzählt er eine Begebenheit nach der anderen. Reiht Geschichten aneinander, wie andere Perlen auf eine Schnur. Er erzählt besonders ausführlich über seinen letzten „Fall“. Einen alten Kumpel aus den Tagen der Studentenunruhen in der Zeit um 1968. Der Mann, dessen Grabrede er vorbereitet, plante die Siegessäule in Berlin in die Luft zu sprengen. Wie bei Uwe Timm auch in anderen Romanen, so setzt sich die Hauptfigur mit der deutschen Vergangenheit auseinander. Was wurde aus den 68’ern? Wo sind deren Ideale? Wo sind deren Zielvorstellungen abgeblieben?

Wunderbare Sätze durchziehen diesen Roman. Einen Roman, den man gebannt weiter und weiter liest von Geschichte zu Geschichte. Immer weiter und weiter. Auch wenn der Autor immer wieder selbst sagt: „Ich verliere mich“.

Nein wir finden uns wieder. Das ist unser Leben und es gibt viele, die wie ein weiterer Freund unseres Helden feststellt: „Das kann doch nicht alles gewesen sein“.

Zitate aus diesem wundervollen Roman „Rot“:

Montalbanos vierter Fall

Ich las einen weiteren Kriminalroman aus Sizilien.

Diesmal steht der Kommissar Montalbano vor einem schwierigen Problem, ihm wird in der Folge der Fall sogar kurzzeitig entzogen und ich habe für ihn gehofft, dass er seine Freundin in den Wind schießt und zu der schönen und nahen Anna flüchtet. Aber es scheint am Ende alles beim alten zu bleiben. Der Fall wird geklärt, die Stimme der Violine hat ihm den rechten Weg gewiesen und der Leser bleibt zurück und freut sich schon auf den nächsten Fall.

Diese Romane haben ein nicht geringes Suchtpotential: Denn sie sind so schön!

1002. Nacht

Joseph Roth hat eine Geschichte vom Besuch des Schahs in Wien der KuK – Zeit geschrieben.

Wie dieser einer Frau begegnet, die er begehrt, die man ihm zuführen solle. Wie man ihm statt dieser eine Dirne zuführt, die der Frau ähnelt; wie er dieser eine Halskette schenken lässt, mit der diese Dirne nicht glücklich werden wird. Die Dirne ist die Geliebte des österreichischen Rittmeisters, der sie dem Schah zuführen ließ. Sie haben einen gemeinsamen Sohn. Der Rittmeister wird nach dem Besuch zurück in sein Regiment versetzt. Die Halskette verkauft die Frau und kommt mit dem Reichtum nicht klar. Das Geld rinnt ihr durch die Finger, sie wird von einem neuen Geliebten ausgenutzt und landet im Gefängnis. Ihr Sohn missrät. Alle Hoffnungen – auch jene des Rittmeisters – zerschlagen sich, zerfallen zu Staub, wie das große Österreich auch.

Die Geschichte von der 1002. Nacht ist ein leicht zu lesender Roman des großen Romanciers Joseph Roth.

Reisen nach Sizilien

Das Spiel des Patriarchen ist der fünfte Fall des Kommissars aus Sizilien, den der großartige Literat Andrea Camilleri erfunden hat.

Den Namen des Commissario Montalbano hat er von dem spanischen Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán abgeleitet und natürlich greift unser belesener Kriminalist zu seinem Namenspaten, um sich zu entspannen. Montalbano isst für sein Leben gern, er liebt die fischreiche Küche und man möchte am liebsten neben ihn in der Trattoria sitzen und mit ihm die frischen Seebarben verspeisen. Der Kommissar bewohnt ein Haus direkt am Meer in einer fiktiven sizilianischen Stadt und geht gern schwimmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er sitzt auch gern auf oder an einem großen, alten Olivenbaum, um seine Gedanken zu ordnen, was ihm erstaunlich gut gelingt. Er ist mit einer Italienerin aus dem Norden liiert, obwohl ihm Frauen in seiner unmittelbaren Umgebung gern näherkämen.

Er löst gegen einen modernistischen Vorgesetzten und gegen viele Widrigkeiten seine Fälle. Diese Fälle sind sehr gut komponiert und nicht konstruiert. Am Ende freut man sich auf den nächsten Roman. Man liest diese Romane sowieso in einem Zug, wie ein Verdurstender Wasser trinken würde. Diese Romane besitzen eine nicht unerhebliche Suchtgefahr und man fühlt sich wie im Urlaub auf Sizilien. Man isst und trinkt und hat Unterhaltung und Spannung pur.

Was für eine Lektüre!

Ein Sohn Fontanes

Es gilt von einer Entdeckung zu berichten, die zu loben ich nicht müde werden möchte. Mein Literaturführer, der unnachahmliche Rolf Vollmann, lobte den Autor sehr und ich kann mich dem nur anschließen.

Georg Hermann heißt der Autor. Er, ein deutscher Jude, schrieb diesen Roman im Jahre 1906. Jettchen Gebert, eigentlich Henriette, ist eine Frauengestalt, wie sie vielleicht in seinen besten Romanen Theodor Fontane zu entwickeln in der Lage gewesen wäre.

Diese junge Frau lebt bei ihrem Onkel und dessen Frau, weil ihre eigenen Eltern früh gestorben waren. Sie lebt dort in der Familie wie die eigene Tochter und lernt durch einen weiteren Onkel, der Jason heißt und einer der Hauptfiguren dieses wundervollen Romans ist, einen jungen Gelehrten kennen. Es kommt, wie es kommen muss. Die beiden jungen Leute verlieben sich in einander, aber die Familie will die Verbindung nicht. Schließlich ist er kein Jude und passt schon deshalb nicht in die Familie und außerdem ist er nicht liquide genug. Hinzu kommt, dass die Tanten lieber einen Verwandten aus ihrer Familie versorgen möchten und so muss Jettchen diesen viel zu klein geratenen Herrn Jacoby heiraten. Sie fügt sich in dieses Schicksal, jedenfalls scheint es so.

Wie es weiter geht, verrät ein Fortsetzungsroman, den ich bestimmt bald auch gelesen haben werde. Allerdings ist dieser Autor so schlau uns bereits im Vorwort wissen zu lassen, dass Jettchen nicht mehr lange leben wird, denn wir besichtigen zu Beginn des Romans ihr Grab und lesen ihren Grabstein. So wie jeder Mensch weiß, dass er nur eine begrenzte Zeit auf dieser Erde zur Verfügung hat, so wissen wir dies über unsere Romanfiguren und doch vergessen wir es während der Lektüre, die uns anzieht, wie der Blütenduft die Bienen. Dieser Roman ist ein Muss, wenn man über das alte Berlin, über jüdische Familien in Deutschland und überhaupt einen Liebesroman der gehobenen Art lesen möchte.

Zum Tode von Harry Mulisch

Heute erreichte die Nachricht vom Tode des großen Holländers die Welt. Ich muss ihm einfach einige wenige Abschiedszeilen widmen.

Der Mann hat mich mit seiner Literatur sehr bewegt und beeindruckt. Ähnlich wie Kundera hat auch Mulisch einen bestimmten Sound gefunden. Er nahm den Leser von der ersten Seite an gefangen. Ich hätte es gern gesehen, wenn er den Nobelpreis erhalten hätte. Aber man ehrte ja eher Menschen, wie Frau Müller im vergangenen Jahr und nicht diesen großen Romancier, diesen elegant Formulierenden und Fabulierenden Europäer. Ihm ein ehernes Andenken zu bewahren, ist mir eine Verpflichtung. Und da kann es nichts schaden, weitere Werke von ihm zu lesen und sicherlich auch einmal wieder seinen himmlischen Roman von der Entdeckung des Himmels erneut zu genießen.

Was davor geschah

Der Roman wurde viel gerühmt, was für mich Grund genug war, ihn zu kaufen und zu lesen. Genauer: Zu lesen versuchen. Nach einem Drittel des Romans brach ich ab und legte das Buch zur Seite. Der Autor Martin Mosebach versteht es nicht einmal, seinen Figuren vernünftige Namen zu geben. Wer will schon Hopsten heißen? Und dann kommt der Roman zu keinem Thema und nach einem Drittel darf man doch verlangen, dass man schon ein wenig weiß, wohin die Geschichte sich entwickelt. Aber nichts ist klar. Spielt der Kakadu eine Rolle? Wird der Erzähler etwas mit einer weiblichen Person anfangen? Man weiß es nicht. Und ich werde es nie erfahren, denn ich kann jedem versichern, dass ich eher auf die Zweitlektüre vieler großartiger Romane zurückgreifen werde, als diesen ein zweites Mal in die Hand zu nehmen.

Was davor geschah wird eine der unvollendeten Lektüren meines Lebens sein und ich steh dazu.

Sizilianische Feste

Ich schätze die Romane des Andrea Camilleri sehr.

Im sechsten Fall denken alle daran, dass die Mafia ihre Hände im Spiel haben könnte. Einer natürlich nicht. Und der Commissario hat zwei große Lieben, denen ich ebenfalls nachhänge. Die Liebe zum Essen und diejenige zu den Frauen. Diese Romane sind leidlich spannend und entspannen. Ich spüre die sizilianische Sonne auf meinem Gesicht und fühle, wie es lächelt, weil ich mich freue. Es gibt noch weitere Romane von ihm zu lesen und ich werde sie mit großem Appetit verspeisen.

Der sechste Fall heißt „Der Kavalier der späten Stunde“.

Stille Zeilen

Dank der Süddeutschen Zeitung habe ich jetzt den schmalen Band der Schriftstellerin Monika Maron mit dem Titel „Stille Zeile Sechs“ gelesen.

Es ist der Versuch einer Abrechnung einer Frau mit ostdeutschem Hintergrund. Eine Abrechnung mit ihrer Kindheit und Jugend. Eine Abrechnung mit ihrem Vater, der ihr in einer ehemaligen DDR-Größe wieder neu zu erstehen scheint. Dieser alte Apparatschik will mit der Hilfe der jungen Frau seine Biographie zu Papier bringen. Der Mann wohnt in Pankow, dort wo die alten Bonzen wohnten, in einer schmalen Straße, der dem Bändchen den Namen gab. Diese Erzählung nahm mich mit, ich hatte einen larmoyanten Ton erwartet und traf auf eine präzise Sprache. Eher beschreibend als emotional involviert. Insofern beeindruckend. Allerdings kein großer Wurf, nicht der erste gemeinsame deutsch-deutsche Roman. Nichts weiter als ein schmales Bändchen gehobener deutscher Prosa.

Frau Jacoby

Georg Hermann hat seinem Jettchen Gebert die Henriette Jacoby folgen lassen.

Schließlich war er uns Antworten schuldig. Wieso diese schöne junge Frau so früh von uns gehen sollte. Und wir erfahren es. Wir erfahren aber vor allem viel über das Leben. Über unser Leben! Denn zwischen 1840 und heute hat sich alles verändert, was das Umfeld anbelangt. Nichts aber änderte sich, was das menschliche Miteinander betrifft. Zwei Menschen haben sich in einander verliebt, dieses Gefühl währt aber nicht lange und was dann folgt ist ein schnelles sich voneinander entfernen. Und in Wahrheit liebt sie einen anderen. Man macht sich so etwas nicht immer sofort klar, man will es nicht wahr haben, man wehrt sich dagegen und doch ist so ein Gefühl stärker. Dies schildert der wunderbare Schriftsteller Georg Hermann, den ich nicht genug loben und ehren kann. Dessen Werk wieder gelesen werden sollte. Er ist ein hervorragender Erzähler. Ein Maler mit Worten, ein Fabulierer vor dem Herrn. Er liebt seine Figuren, vor allen anderen natürlich seine Henriette und seinen Jason. Dieser Mann ist die interessanteste Gestalt in dieser Erzählung. Ein ganz starker Charakter, ein Rebell gegen die politischen Verhältnisse, gegen Ungerechtigkeiten und ein Streiter für die Liebe. So ein Kerl, ein Preuße, wie er im Buche – in diesem Buche – steht. In der Silvesternacht auf das Jahr 1840 sagt Jason, der weise und ach so verliebte Onkel, zu Henriette:

„‘Ja,’ sagte er und berührte Jettchen an der Schulter, ‘ja, Jettchen, eigentlich ist das doch nur ein Tag wie alle Tage, und doch gibt er uns fast greifbar zwei Dinge, die wir oft im Lärm des Seins nicht mehr spüren: die Empfindungen von Zeit und Ewigkeit. Diese Sterne da oben im Nebel über uns, die weiße Decke ringsum, alles tief und weit, nichts, was uns ein Zeichen gibt, feierlich unerbittlich und unentrinnbar – das ist die Ewigkeit. Und diese tobenden Menschen da, die sich nicht genug tun können im Prosit-Neujahr-Brüllen, dieser Hund da unten, der bellt, diese Kinder, die in ihre Weihnachtstrompeten blasen, die zärtlichen Blicke deines Nachbarn -das ist die Zeit, das Lebende und Taumelnde und Vergängliche. Und, Kößling, Doktor Kößling, wenn es Ihnen auch jetzt scheinen mag, als ob das oben mehr bedeute als das hier unten – es ist nicht wahr! Nur hier sind wir zu Hause; nur hier ist unser Glück und unser Elend, das endlich auch noch Glück ist, weil es Leben sein darf. ’”

Und Sizilien hat mich wieder

Nun ist es schon der siebte Fall des Commissarios Montalbano, dem ich mich zur Jahreswende zugewandt hatte. Während draußen der Winter regiert, die Bahn unpünktlich, die Flüge gar nicht stattfinden, lese ich von Sizilien, gehe mit dem Kommissar zum Essen und kläre einen schlimmen Fall von Kindeshandel auf. Die Welt ist schlecht, man wusste es schon lange, aber nun ist sie noch ein wenig schrecklicher. Und doch macht die Lektüre einfach Spaß. „Das kalte Lächeln des Meeres“ heißt dieser Fall, den Andrea Camilleri uns präsentiert. Der Mann schildert seine Insel und die italienischen Verhältnisse, wie sie sich in unserer Zeit darstellen. Man liest mehr als nur einen spannenden Kriminalroman, man liest sehr wohl ein Stück Gesellschaftskritik und das bei Sonnenschein und manchmal mit einer schönen Schwedin, die wie die meisten Figuren dieser Geschichten einfach wundervoll geraten sind.

Wissenswertes über Pluto

Hinter dem Planeten Pluto, dem wir Menschen vor einigen Jahren den Planetenstatus abgesprochen haben, gibt es einen anderen Planeten auf dem Lebewesen zu Hause sind, die viele hundert Jahre alt werden, aber sonst uns Erdenbürgern sehr ähnlich sind. Sie haben ein großes Problem: Vögel. Aus irgendeinem Grunde wäre es daher schön, den Archaeopteryx, jene Versteinerung eines Urvogels, der in Solnhofen ausgestellt ist, auf den Planeten X zu bekommen. Also muss ein Agent dieses Planeten an die Arbeit. Er benötigt eine Kopie, die er sich von einem Wiener Bäckermeister, der nicht mehr in der Backstube steht, herstellen lässt. Als der Mann mehr verlangt, ermordet der Agent, ein feinsinniger und gebildeter beinahe Mensch, der es sich in Stuttgart mit seiner Menschenfrau richtig gemütlich gemacht hat, diesen und legt ihn unter ein Bett auf dem ein Mann selig schlummert. Dieser Mann hat gerade die ehemalige Bäckerei gemietet, um daraus ein Wollgeschäft zu machen. Früher war er als Darsteller in Pornofilmen unterwegs, nun soll sein Wollgeschäft Plutos Liebe heißen und er hat sich einen Kredit besorgt, um den Laden überhaupt finanzieren zu können. Seine Kreditgeberin wird auf die Rückzahlung verzichten, wenn er an einem bestimmten Tag im Jahre 2015 ein Leben retten wird.

Nun könnte ich weiter erzählen und die ganze Geschichte ausbreiten, aber ich kann es nicht annähernd so gut wie der Schriftsteller Heinrich Steinfest in seinem Roman „Gewitter über Pluto“.

Es ist ein reines Lesevergnügen!

Der Autor fabuliert. Er schweift ab, gibt seine Meinungen zu allem und jedem zum Besten. Er fängt sich manchmal selbst ein und zwei Sätze später ist er schon wieder am Fabulieren. Er hat dann sogar noch ein Nachwort, wo er Erklärungen für einige Dinge gibt, die er in seinem Roman verarbeitet hat. Man sollte diesen Roman einfach genießen. Ich bin gespannt, was die Sonde, die wir in Richtung Pluto losgeschickt haben im Jahre 2015 für Bilder bringen wird. Vielleicht werden wir ja überrascht sein und Schrödingers Katze muss ich auch noch füttern.

Stopfkuchen erneut gelesen

Ich hatte lange gezögert, wieder einen Roman von Wilhelm Raabe in die Hand zu nehmen. Ich hatte noch zu gut in Erinnerung, wie sehr mich sein Odfeld gelangweilt hatte. Nun wollte ich aber doch mal wieder ein weiteres Werk eines doch immerhin sehr geschätzten deutschen Romanciers mir zu Gemüte führen.

Stopfkuchen wurde der Junge genannt, weil er zu viel fraß, sich zu wenig bewegte und lieber unter einer Hecke liegen blieb, während seine Freunde Fangen spielten. So kam er in Kontakt mit dem Mädchen eines Bauern, dessen Hof außerhalb der Kleinstadt gelegen war und der unter Mordverdacht stand. Ein geächteter Mann also und die Tochter wurde in Sippenhaft genommen. Der Hof liegt auf einer Anhöhe, die im Siebenjährigen Krieg angelegt und die Rote Schanze genannt wurde. Hier bekommt nun Stopfkuchen inzwischen mit dem Mädchen verheiratet und Eigentümer der Roten Schanze Besuch von unserem Ich-Erzähler, einem früheren Freund, der sein Glück in Afrika gemacht hat und – warum auch immer – zu Besuch in seiner alten Heimat weilt. Unser Erzähler berichtet von diesem Besuch während seiner Überfahrt zurück nach Afrika. Raabe nennt seinen Roman daher nicht nur eine Mord- sondern auch eine Seegeschichte. Na ja, der Mord, dessen man den Schwiegervater einst verdächtigte, klärte Stopfkuchen auf und das alles schaukelt sich über zweihundert Seiten meiner Reclamausgabe. Und ich war immer nach wenigen Seiten Lektüre so ermüdet, dass mir die Augen zufielen und ich Wochen für diesen sich ständig im Kreis drehenden Roman brauchte. Das Wort Stopfkuchen und der Begriff der Roten Schanze fallen hundertfach und die Handlung kommt nicht in Gang. Mit anderen Worten, diese Lektüre ist so stinklangweilig und ich bedauere, wieder einmal einen Roman von Herrn Raabe in die Hand genommen zu haben.

Nun stelle ich fest, dass ich diesen Roman schon einmal gelesen habe, mich nicht an ihn erinnern konnte und o weh ihn damals gar nicht so schlecht fand!

Und wieder mal Herr Camilleri

Im achten Fall des sizilianischen Kommissars Montalbano ist dieser noch außer Gefecht gesetzt, schließlich war er angeschossen worden und seine Freundin, aus Genua angereist, pflegt ihn nun. Den Fall einer Entführung übernimmt ein Kollege von ihm, aber dann löst letztlich der Commissario den Fall doch wirklich, aber nur für sich, ganz still. Für die Öffentlichkeit und seinem dämlichen Vorgesetzten ist alles anders und einfach gelöst. Der Mann aus Sizilien schaut aber gern ein wenig weiter und genauer hin. Die Lösung ist ganz anders. Mehr sage ich nicht, außer das eine: Ich will mehr von diesem wundervollen Commissario lesen und hoffe, dass Andrea Camilleri noch viele Bücher schreiben kann.

Alles hat seine Zeit

Die Geschichte ist so einfach nicht. Ein italienischer Oberleutnant im Abessinienkrieg erschießt eine junge Eingeborene, mit der er geschlafen hat. Er wollte ein wildes Tier vertreiben, ein Querschläger trifft die Frau und sie verblutet. Er gibt ihr den Gnadenschuss und nunmehr fangen seine Probleme an. Er vermutet, die Frau könne Lepra gehabt haben und er verwahrlost; versucht einen Stabsarzt zu erschießen; bestiehlt einen Major, der in krumme Geschäfte verwickelt ist und schlägt sich mit dem Vater des getöteten Mädchens. Am Ende kann er Afrika verlassen und alles wird sich in Luft aufgelöst haben. Das tote Mädchen bleibt als „Kolateralschaden“ zurück.

Der Roman ist faszinierend aus der Ich – Erzähler Perspektive geschrieben; besonders schön sind jene Stellen, wo er immer wieder aufzubrechen versucht, aber seine Abreise mit komischen Ausflüchten wieder und wieder verschiebt. Das hat Züge von großer Qualität und man merkt dem Autor an, dass er Drehbücher geschrieben hat für Fellini und andere. Der Film läuft im Kopf ab. Dennoch muss man, so finde ich, diesen Roman nicht unbedingt gelesen haben. Interessantes im Nachwort von Frau Heidenreich; der Autor hat den Namen Paparazzo für einen aufdringlichen Fotografen erfunden. Der Roman zitiert die Bibel: Alles hat seine Zeit (im Original Zeit zum Töten) und der Autor heißt Ennio Flaiano.

Was bedeutet Freiheit?

Man ist schon einige hundert Seiten mit diesem Roman von Jonathan Franzen unterwegs, man hat schon an vielen Stellen in ihm den Begriff „Freiheit“ gelesen, aber dann kommt der Autor doch noch einmal mit einer vollen Breitseite: „Die Leute sind entweder wegen des Geldes oder der Freiheit in dieses Land gekommen. Hat man kein Geld, klammert man sich desto grimmiger an seine Freiheiten. Selbst wenn das Rauchen einen umbringt, selbst wenn man es sich nicht leisten kann, seine Kinder zu ernähren, selbst wenn diese Kinder von Irren mit Sturmgewehren erschossen werden. Man mag arm sein, aber das eine, das einem keiner nehmen will. Das hat Bill Clinton erkannt, dass sich keine Wahl gewinnen lässt, wenn man gegen persönliche Freiheiten vorgeht. Oder gar gegen Waffen“.

Und nur wenige Zeilen später: “Und Wachstum ist in der Ideologie des freien Marktes schließlich kein Nebenthema. Es ist die Essenz schlechthin. In der Wirtschaftstheorie des freien Marktes muss man Sachen wie die Umwelt aus der Gleichung rauslassen.“

Und in diesen wenigen Sätzen steckt viel von dem Hintergrund dieses amerikanischen Familienromans. In seinem Mittelpunkt steht die Familie Berglund, insbesondere die Eltern sowie der Sohn Joey. Schon die Tochter rückt ein wenig in den Hintergrund. Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht den verzweigten Lebensweg dieser Familie nacherzählen. Ich beschränke mich darauf zu sagen, dass es ein tief in der amerikanischen Lebenswelt verankerte Geschichte ist. Manche Passagen lassen einen Europäer ziemlich ratlos zurück. Der 11. September spielt eine Rolle, Bush und der fragwürdige Kreuzzug gegen den Irak ebenso. Aber es ist auch die Auseinandersetzung mit unserem fatalen Umgang mit der Umwelt. Dem Verbrauch unserer Ressourcen und der Verringerung der Biodiversität. Es ist natürlich auch der Umgang mit Sex, die Freiheit, mit anderen Menschen zu schlafen oder eben gerade nicht untreu zu werden. Es ist die Analyse was passiert, wenn die Untreue dann doch in das Leben hineinbricht. Wenn man das amerikanische in diesem Roman akzeptiert, dann ist es ein fesselnder Lesestoff, der einen nicht so ohne weiteres wieder loslässt. Irgendwann im Verlauf der Lektüre fragte ich mich, was in einem Drama Tschechows eine seiner Figuren fragt, was bleibt von uns in hundert oder zweihundert Jahren übrig? Ich fürchte, es ist nicht dieser Roman: ich nehme mir die Freiheit, dies zu glauben.

Stiller, der Roman

Was habe ich mich gequält; wie hat die Lektüre mich ermüdet. Ich hätte noch vor wenigen Jahren, das Buch zur Seite gelegt, es nicht weiter, schon gar nicht zu Ende gelesen. Dabei ist es doch sehr schön geschrieben. Dabei sind die eingeflochtenen Erzählungen spannend. Es ist auch ein Spannungsbogen in dem gesamten Roman vorhanden. Ist er nun Stiller oder ist er, wie er es im ersten Satz sofort behauptet, es nicht? Und warum wird der Mann denn aus dem Zug geholt? Warum sitzt er wochenlang in Untersuchungshaft, warum darf er aber gewisse Vergünstigungen genießen? Das alles wird nicht klar. Natürlich steckt da ein Spionageverdacht hinter; der spielt aber keine Rolle, der erledigt sich mit zwei Nebensätzen. Natürlich steckt da eine Liebesgeschichte hinter oder eigentlich zwei. Aber die sind ermüdend, das ist keine die Menschen in den Wahnsinn treibende Liebe, das ist ein Ausbruchsversuch aus dem alltäglichen Leben, das man oder besser die Frau nicht die nächsten dreißig oder mehr Jahre so ertragen will.

Das wundervolle an diesem langweiligen Buch ist die Philosophie, ist die Betrachtung der Unbedeutendheit des Menschen. Es ist auch die detailgetreue Beschreibung von Fehlkommunikation; man verkehrt auf verschiedenen Frequenzen, da kann man noch so viel senden, da kommt nichts an. Da spielen die verschiedenen menschlichen Ohren eine Rolle (das Gesagte, der versteckte Appell, die Selbstbeschreibung und die Beziehung zwischen den Kommunizierenden). Da ist viel drin, in diesem Roman, der ja immerhin Max Frisch weltberühmt machte, und doch vermochte er mich nicht zu fesseln, nicht mitzureißen. Da ist es denn schon völlig unerheblich, dass sich die Erzählperspektive, der Erzähler, wechselt. Da ist es auch egal, dass Stiller Stiller ist. Ich habe die Lektüre – völlig ermattet – geschafft.

Natürlich gibt es auch großartige Fundstellen in diesem Buch, die nachwirken: Beispielsweise das Leben in Plagiaten!

„Dass ich meine Mordinstinkte nicht durch C. G. Jung kenne, die Eifersucht nicht durch Marcel Proust, Spanien nicht durch Hemingway, Paris nicht durch Ernst Jünger, die Schweiz nicht durch Mark Twain, Mexiko nicht durch Graham Greene, meine Todesangst nicht durch Bernanos und mein Nie-Ankommen nicht durch Kafka und allerlei Sonstiges nicht durch Thomas Mann, zum Teufel, wie soll ich es meinem Verteidiger beweisen? Es ist ja wahr, man braucht diese Herrschaften nie gelesen zu haben, man hat sie in sich schon durch seine Bekannten, die ihrerseits auch bereits in lauter Plagiaten leben. Was für ein Zeitalter! Es heißt überhaupt nichts mehr, Schwertfische gesehen zu haben, eine Mulattin geliebt zu haben, all dies kann auch in einer Kultfilm – Matinee geschehen sein, und Gedanken zu haben, ach Gott, es ist in diesem Zeitalter schon eine Rarität, einen Kopf zu treffen, der auf ein bestimmtes Plagiatprofil gebracht werden kann, es zeugt von Persönlichkeit, wenn einer die Welt mit Heidegger sieht und nur mit Heidegger, wir anderen schwimmen in einem Cocktail, der ungefähr alles enthält, in nobelster Art von Eliot gemixt, und überall wissen wir ein und wieder aus, und nicht einmal unsere Erzählungen von der sichtbaren Welt, wie gesagt, heißen etwas; es gibt für uns heutzutage (ausgenommen Russland) keine terra incognita mehr. Wozu also die Erzählerei?“

„…in dem Augenblick, wo zwei Partner glauben, einander sicher zu sein, haben sie sich meistens schon verloren.“

„Wie wollt ihr, ohne einen neuen Weg zu gehen, ihr selber bleiben? Die Zukunft ist unvermeidlich. Wie also wollt ihr sie gestalten? Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.“

„Und dann müssen ja die Männer stets wieder an die Arbeit, jaja, es war schon zehn Minuten nach zwei; Sitzung, diese Bastion ihrer Unabkömmlichkeit…“

Empfehlungen, mir nachzueifern, diesen Roman zu lesen, spreche ich an dieser Stelle bewusst jedoch nicht aus.

Der nächste Fall für Commissario Montalbano

Den nächsten Kriminalroman der Montalbano Reihe gelesen (Die dunkle Wahrheit des Mondes).

Nein nicht verschlungen, sondern genossen, wie ein wirklich gutes Essen in einer der Lieblingstrattorien des Commissiarios. Der Roman ist wieder eine wundervoll runde Geschichte. Und ich bin beruhigt, dass der großartige Andrea Camilleri noch immer weiter schreibt und es noch eine Zeit weiter so gehen wird, dass ich schnell mal nach Sizilien mich verabschieden kann. Da freut sich das Leserherz und hüpft, wie nach dem Genuss von zu viel starkem Espresso.

Der Pullover

Der Roman „Die Woll-Lust der Maria Dolors“ von Blanca Busquets ist nicht die ganz große Literatur, aber ein unterhaltsames Buch ist es allemal.

Die alte Maria, durch einen Schlaganfall der Sprache beraubt, aber von hellem Verstand und gutem Gehör, beobachtet die Familie ihrer jüngeren Tochter, die sie, den Pflegefall, aufnahm. Sie strickt für ihre magersüchtige Enkelin einen Pullover, so auch der Titel des Originals. Am Ende wird sie sterben, sie hat uns eine Lebensbeichte hinterlassen und ihre Familie analysiert. Ja, das ist unterhaltsame Literatur und ich empfehle die Lektüre vielleicht am Strand oder im Liegestuhl. Ein schönes Lesevergnügen!

Von Vätern und Muscheln

Man kennt diesen Stil. Er erzählt in Redundanzen. Der Text fließt nicht, sondern staut. Man erzählt davon, dass ein Muschelessen immer ein besonderes Fest war. Man wiederholt, dass es eigentlich niemanden gab, der Muscheln besonders gern mag, aber dennoch wäre die Vorbereitung immer ein besonderer Spaß gewesen. Dieser Inhalt wird wiederholt und damit niemand vergisst, was es mit dem Muschelessen so auf sich hat, erzählt man das Ganze auch gern ein drittes Mal. So kann man große Erzählungen über viele Seiten ausdehnen, um zu zeigen, eine was für gewiefte Schriftstellerin man doch ist.

Die Erzählung von Birgit Vanderbeke umfasst etwa 100 Seiten und wenn man etwas zu sagen hat, sollte man nicht die Hälfte mit Wiederholungen füllen. Was man zu sagen hat, ist einfach. Die Autorin setzt sich mit dem abwesenden Vater einer Familie auseinander. Einem sehr autoritären Vater, glaubt man der Erzählerin. Es geht streng zu in der Familie und das alles so unter dem Motto „Wir sind alle eine Familie und wir sind anders als die anderen Familien“. Es ist eine scheinheilige Familie. Und alle sind froh, dass der Vater sich heute verspätet. Die Fassade bröckelt und es ist klar, dass wir Zeugen einer Implosion sind. Gut so. Und die Muscheln werden nicht gegessen, denn niemand mochte eigentlich gern Muscheln essen.

Sommer auf Sizilien

Ich weiß jetzt, warum ich so gern die Romane des Andrea Camilleri lese. Sein Kommissar ist 55 Jahre alt; also nicht viel jünger als ich jetzt bin. Und der Mann kämpft mit dem Alter. Es funktioniert nicht mehr alles so, wie es einst funktionierte. Er spürt seine Vergesslichkeit, seine kleinen körperlichen Beschwerden und die jungen Mädchen lasten auf ihm. Natürlich normalerweise nicht physisch, sondern im übertragenden Sinne. Denn man nimmt in diesem Alter, sein Alter, sein Aussehen noch nicht an. Man hält sich für unverschämt jung und zugleich erfahren, man will nicht glauben, dass so ein Mädchen in einem den Vater oder gar den Großvater sehen könnte. Nur sie tun es und wenn man dann dies nicht sehen will, dann kann man ganz fürchterlich verarscht werden.

Das geschieht hier in seinem zehnten Fall meinen geschätzten Commissario Montalbano. Und es ist heiß auf Sizilien und die Flamme des August versengt alles. So lernen wir die schwarze Seele des Sommers kennen.

Mehr davon!

Aufzeichnungen

Auf unsere letzte Radtour nahm ich als Lektüre die „Aufzeichnungen eines Jägers“ von Iwan Turgenjew mit.

Das ist wundervolle Prosa. Das ist eine präzise Beschreibung des russischen Landlebens. Man sieht vor seinem geistigen Auge die ganze Armut, das ganze Elend der unfreien Bauern und den wahrscheinlich auch nur äußerlichen Glanz des russischen Landadels. Die Aufzeichnungen sind wundervoll gestaltete kleiner Bilder. Ein russischer Bilderbogen. Und der Mann, der das alles protokollierte ist ein so begnadeter Schriftsteller, der mit einem weichen Ton die Mücken surren und die Grillen zirpen lässt. Ich kann die Lektüre dieser Aufzeichnungen nur insofern empfehlen als die schriftstellerische Meisterschaft des Dichters klar zum Ausdruck kommt. Ich würde aber jedem sonst raten, der neu mit Turgenjew in Berührung kommt, mit den großen Romanen zu beginnen, weil die noch mehr enthalten. Da ist das hier geschilderte Leben zu einem ganzen Kosmos ausgemalt.

Der Abschied von den vier Musketieren

Der Mann in der eisernen Maske“ ist ein höchst lesenswerter, weil spannender Roman.

Er handelt von der Geschichte des Zwillingsbruders des vierzehnten Ludwigs, der weggesperrt wurde, weil der Vater der beiden Unruhen voraussah, die dem Königreich Frankreich geschadet hätten. Er ist der Roman einer großen Liebe des Königs zu einem Mädchen, das ihren Freundinnen erklärt, sie liebe den König, der dies zufällig belauscht. Und schon nach wenigen hundert Seiten kommt man zu dem Streich, dass die Könige ausgetauscht werden sollen. Der sonst so schlaue Aramis, einer der vier großen Helden früherer Romane des Alexandre Dumas, täuscht sich in der Denkart des Oberintendanten und der Staatsstreich scheitert. Am Ende sind drei der vier Freunde von einst tot. Der Absolutismus hat Einzug gehalten in Frankreich. Der Sonnenkönig regiert. Das ist ein schöner Zeitvertreib in Urlaubszeiten.

Was bleibt?

Ich las den Roman der amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox „Was am Ende bleibt“ sehr schnell durch.

Das lag nicht so sehr daran, dass mich dieses Buch so über alle Maßen gefesselt hätte, es war mehr der Wunsch, schnell aus dieser Geschichte wieder auszusteigen. Ähnlich wie Ian McEwan geht die Autorin vor. Sie nimmt ein besonderes Ereignis zum Ausgangspunkt für die weitere Handlung. Hier der Biss einer streunenden Katze. Ich las das schon deshalb weiter, weil mich ein Hund vor einigen Monaten gebissen hatte und ich mit ähnlichen Gefühlen beladen war, wie die Person dieser Geschichte Sophie. Ihr Mann Otto, ein Anwalt, durchlebt gerade die Trennung von seinem Kanzleikompagnon und in Sophie kehren Gedanken an einen früheren Liebhaber zurück. Der Ausflug ins Wochenendhaus geht auch daneben, weil man dort feststellen muss, dass das Häuschen Vandalen zum Opfer gefallen ist und überhaupt wird das New York als ein ziemlich verpisster und unwohnlicher Raum dargestellt. Ein Horrorszenario eigentlich. Was bleibt am Ende ist ein merkwürdiger Titel, man wäre lieber bei dem Original geblieben, der verzweifelten Charaktere. Das sind diese Menschen nämlich alle miteinander. Verzweifelt und wahrscheinlich auch verloren.

Kommissar Raths zweiter Fall

Also zur Erinnerung. Vor einigen Jahren schenkte mein Sohn Fabian mir einen Kriminalroman mit einem Kommissar Rath als Helden, der in Berlin in den „Goldenen Zwanziger Jahren“ ermittelt. Ich verschlang den Roman gleich nach dem Fest und kaufte mir dann einige Zeit später die Taschenbuchausgabe des zweiten Romans.

Der stumme Tod“ von Volker Kutscher ist ein ungemein spannender Krimi. Da werden mehrere Fäden nebeneinander gesponnen und alle werden nett miteinander verbunden. Der Held ist ein ziemlich schwieriger Charakter, nicht besonders teamfähig, nicht ganz in der Legalität arbeitend und ziemlich häufig stark alkoholisiert. Aber das macht alles nichts, weil dieser Roman einfach so spannend ist, dass man weiterlesen muss. Und wenn am Ende sich alles gelöst hat, dann schaut man schnell ins Netz und stellt erfreut fest, dass bereits der dritte Fall dieses Kommissars auf dem Markt ist. Na dann kann man sich ja schon auf eine Fortsetzung freuen.

Kennen Sie Netsuke?

Ich kannte die Familie Ephrussi bisher nicht. Natürlich die Rothschilds, wer kennt sie nicht. Doch Ephrussi. Die Kenntnis erwirbt man sich spielend beim Lesen des Buches „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ des Engländers Edmund de Waal.

Der Mann, ein akademischer Töpfer, erbt von seinem Großonkel 254 kleine Kunstwerke aus Japan. Aus Holz oder Elfenbein geschnitzt zeigen sie Tiere oder Menschen. Kleine Wunderwerke der Schnitzerei, so wie der Hase mit den Bernsteinaugen etwa. Dieses Erbe weckt beim Autor die Fragen nach dem Leben seiner Vorfahren. Zunächst steht Charles Ephrussi im Mittelpunkt, der die Kunstwerke kauft und in seinem Pariser Palais in einer Vitrine ausstellt. Charles, erfährt man, ist ein Vorbild von Marcel Prousts Swann. Er ist Freund vieler Maler und wurde auf berühmten Bildern verewigt. Der Mann schenkt seine japanischen Kostbarkeiten seinem Wiener Cousin Viktor als dieser heiratet. Nun steht die Vitrine viele Jahrzehnte im Ankleidezimmer der lebenslustigen Gattin und die Kinder der beiden dürfen mit diesen Netsuke spielen. Dann kommen die Nazis und die jüdische Familie wird in alle Himmelsrichtungen verstreut. Dieses Buch beschreibt diese Zeit so analytisch und doch sehr emotional. Die Zofe der gnädigen Frau Baronin rettet die Figuren vor dem Zugriff der kunstgeilen, weil geldgeilen Nazis, und so werden sie nach Japan zurückkehren, weil ein Sohn des Paares dort sein Zuhause gefunden hatte. Von dort kommen sie zum Autor des Buches und stehen scheinbar im Mittelpunkt der Geschichte. In Wirklichkeit geht es um mehr als hundert Jahre europäische Geschichte.

Das ist eine lesenswerte Erzählung.

Die Lektüre kann ich gern empfehlen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Herbst

Auf dem Buchumschlag des mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge findet man Fragmente einiger Kritiken der großen deutschen Zeitungen. Die FAZ wird mit „Überragend“, die Zeit mit „Der große DDR Buddenbrooks Roman“ zitiert. Das soll potentielle Leser den letzten Grund liefern, dieses Buch zu kaufen und zu lesen.

Nun ja, kann ich nach Lektüre des Buches nur sagen. Da hat ein Autor seine eigene Familie porträtiert; die Schwierigkeiten beschrieben, die man in der DDR wohl hatte. Das Funktionärssystem und die beginnende Revolte. Ja, da sind gute Zeichnungen entstanden, da gibt es einige witzige Stellen. Aber im Prinzip ist alles sehr konstruiert. Die ständigen Zeitsprünge, die Wechsel der Betrachterperspektiven, das macht die Lektüre eher unruhig. Vielleicht ja als Drehbuch geeignet, aber als Roman in der Tradition des großen Werks von Thomas Mann? Da frage ich mich dann, ob die Rezensenten es nicht einige Nummern kleiner haben.

Man muss diesen Roman nicht lesen.

Man lese vielleicht lieber zum wiederholten Male die Buddenbrooks.

Aber wenn man es schon tut, dann kann man nicht zum Ergebnis kommen: „Großartig“ oder „Überragend“.

Mein Urteil: Zähe leicht modrige Lektüre, so wie wohl dieser Staat war; aber das interessiert nur noch die von gestern oder vorgestern.

Weg damit!

Ein Tag

Ein Paar verbringt nach dem Uni-Abschluss eine Nacht miteinander, was in diesem Fall heißt, nicht miteinander geschlafen zu haben. Und der Autor David Nichols verfolgt die beiden nun über die nächsten fast zwanzig Jahre immer genau an diesem Tag, an dem die beiden die Nacht miteinander verbrachten. Das klingt nach einem billigen Plot, aber man kann sicher sein, dass es viel tiefgründiger wird.

Der Autor beobachtet genau, er kennt sich aus in den Untiefen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Er bleibt dabei sehr neutral, er schildert die Ereignisse und tut dies so, dass man nach einiger Zeit das Buch kaum noch aus der Hand legen kann. Warum die deutsche Übersetzung des Romans „Zwei an einem Tag“ heißen muss, ist mit nicht klar. Es ist aber auch nicht wirklich schlimm.

Wirklich wichtig ist, dass dieser Roman sehr gut unterhält; und dies auf hohem Niveau.

Der dritte Krimi des Volker Kutscher

Ich muss den Autor loben. Kriminalromane zu schreiben, ist nicht einfach. Meist sind sie ziemlich geradlinig erzählt. Es kommt dann noch ein wenig privates hinzu, die Familie bei Donna Leon beispielsweise und nach 200 bis 300 Seiten ist der Mörder überführt und in der Familie geht auch alles wieder seinen normalen Gang. In den Kimis von Volker Kutscher aus dem Berlin der frühen dreißiger Jahre ist das anders. Die sind geradezu komplex. Und es gibt anfänglich so viele Handlungsstränge, die nicht miteinander zusammenhängen können. So denkt der Lesende, so irrt er. Denn der nächtliche Einbruch ins Kadewe hängt mit den späteren Morden im Unterweltmilieu sehr wohl zusammen. Man glaubt es nicht, aber am Ende, nach mehr als 500 Seiten guter Literatur, ist es offensichtlich. Und der Kommissar Rath wird auch in weiteren Folgen der Nicht Teamspieler bleiben, seine Freundin ist nach Paris zu einem Studienaufenthalt aufgebrochen und er bleibt mit seiner Hündin in einem Berlin, in dem die Nazis immer mehr das Heft des Handelns an sich reißen.

Ein wundervoller Krimi, dieser „Goldstein“! Lesen Leute!

Gegen ein Universum

Der Autor Jan Brandt hat seinen ersten Roman vorgelegt.

Der Mann hat gleich alles in diesen Roman hineingepackt, was man sich so vorstellen kann. Er siedelt seinen Roman in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einem kleinen Ort in Ostfriesland an, den er Jericho nennt und wahrscheinlich Leer meint. In Leer ist er selbst 1974 zur Welt gekommen, zur ungefähr gleichen Zeit wie sein Held Daniel Kuper in dem Roman „Gegen die Welt“.

Wenn man den Schutzumschlag von dem 1000 Seiten umfassenden Roman entfernt, findet man ganz viele Wörter auf dem gesamten Buchdeckel, die einem zum Teil erst nach der Lektüre etwas sagen und ich gestehe, manche blieben mir auch nach der Lektüre ein Rätsel. Im Buch gibt es weitere Besonderheiten. So einen auf vielen Seiten gebrochener Text. Zwei verschiedene Geschichten erzählend, die den Leser einiges abverlangen. Der Text wird unterbrochen von Abbildungen und einigen Briefen, die vor den bereits in Jericho eingedrungenen Plutoniern warnen.

Was blättert der Text auf?

Er schildert das Leben in der westdeutschen Provinz zur Zeit der Wende. Er schildert die Änderungen, die Brüche, die auch an der Provinz nicht vorbeigingen. Er schildert das Leben einiger Heranwachsender, die mit ihren Pubertätsproblemen allein gelassen werden. Besonders Daniel, der gegen andere Jungs ankämpfen muss, gegen seinen omnipotenten Vater, gegen seine Mutter und die ganze Welt. Bis er daran zu zerbrechen droht. Er scheint, es überlebt zu haben. Uns erschließt sich ein Panorama von so einer unglaublichen Fülle und Dichte, dass ich diesem Buch und seinem Autor den Deutschen Buchpreis gewünscht hätte, nicht diesem blutleeren DDR-Roman des Herrn Ruge. Ich bin gespannt, was uns Jan Brandt noch so liefern wird.

Abbruch auf dem Prager Friedhof

Ich habe den Roman von Umberto Eco „Der Friedhof in Prag“ bis zur Seite 359 gelesen. Dann brach ich ab. Ich gestehe, dass ich mit viel Disziplin auch die restlichen 150 Seiten noch durchgehalten hätte. Allerdings fragte ich mich unterwegs, weshalb ich das tun sollte. Der Roman, der nur mit historisch belegten Personen arbeitet, wenn man von seinem Protagonisten absieht, zeigt den Mechanismus von Verschwörungen. Die fiese miese Tätigkeit von Geheimagenten. Aber der Roman ist nicht spannend. Er ist so unerhört langweilig, dass mir beim Lesen immer wieder die Augen zufielen. Ich erlaube mir jetzt einmal ein Urteil, das vielleicht als anmaßend empfunden wird, weil sich so ein kleiner unbedeutender Geist, wie ich es bin, wagt, einen Autor vom Gewicht des Umberto Eco zu kritisieren. Offen gestanden war der Name der Rose ein spannendes Buch. Alles was dann von Eco kam, langweilte mich. Es ist allenfalls gefällig geschrieben, aber es bewegte mich nicht und ich vermag auch nicht zu erkennen, was der Autor mit diesem Roman bewegen will.

Ich habe kein schlechtes Gewissen, die Lektüre des Buches abgebrochen zu haben.

Siziliens ganze Weisheit

Die Flügel der Sphinx heißt der elfte Roman von Andrea Camilleri.

Sein Commissario Montalbano ist in Höchstform. Der Autor sowieso. Wie der Mann verschiedene Fäden spinnt, nichts verheddert, alles fein säuberlich getrennt serviert und das noch spannend und mit aller Zeit der Welt ausbreitet oder aber das Tempo so richtig schön anzieht, das ist so wunderbar entspannend und ich kann nur zur Lektüre raten. Und wenn er dann noch zwischendrin die eine oder andere Weisheit einstreut oder aber die Lobrede auf das eine oder andere Fischgericht oder aber sein Rezept für ‘mpanata di maiali (S. 191 meiner Taschenbuchausgabe).

Diese Romane sind so viel mehr wie einfache Krimis. Eine ganz herrliche Lektüre.

Abschied von Kafka

Michael Kumpfmüller hat ein ganz zartes Buch geschrieben. Eine leichte Liebesgeschichte mit dem ganz traurigen Hintergrund des Todes von Franz Kafka.

Er lernt im Jahre 1923 ein knappes Jahr vor seinem Tod die junge Dora Diamant kennen. Man kommt sich an der Ostsee, wo er mit seiner Schwester zu Kräften zu kommen versucht, näher. Für sie ist er der Mann, den sie immer wollte, bedingungslos so scheint es. Es ist eine hingebungsvolle Liebe, die nur wenige Monate dauerte, die sehr schnell von der galoppierenden Schwindsucht des geliebten Mannes überschattet wird. Kumpfmüller zeichnet in Pastelltönen diese Liebe, die Ängste und die Freuden. Er zeichnet die Herrlichkeit des Lebens und ganz nebenbei interessiert er den Leser, doch mal wieder einen Roman oder eine Geschichte von Kafka in die Hand zu nehmen. Er schreibt ganz wundervolle einfache Sätze und die ganz großen Wahrheiten: „Zum Glück ist niemand in der Nähe, es ist lange nach elf, und so sitzt sie nur da und blickt in eine ferne farblose Zukunft, wenn es ihn nicht mehr gibt, mein Gott, oder sie selbst, falls man das denken kann, mit dem unabweisbaren Gefühl, wie vergeblich alles ist.“

Doch es ist das Tröstliche dieser Geschichte, dass sie so schlicht erzählt wird.

Man könnte denken, dass Marc Aurel im Hintergrund die Feder führte, der einst schrieb: „Wer sehr lange lebt, verliert doch nur dasselbe wie jemand, der jung stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt.“

Kalte Lektüre

Ein Mann lebt in den Wälder Maines. Er lebt dort umgeben von vielen Büchern, die ihm sein Vater vermacht hat. Er lebt dort mit einem Hund. Dieser Hund wird eines Tages, kurz vor Einbruch des Winters erschossen. Der Mann ist außer sich. Er will den Mörder seines Hundes jagen und zur Strecke bringen. Er wird zum Mörder, zum Serienkiller. Er erzählt uns seine Geschichte, seine Morde ganz ruhig, aus den tiefen Wäldern seines Heimatlandes. Das Ende wird hier nicht verraten. Es ist eine kalte Geschichte, die uns erzählt wird. Dieser Winter in Maine von Gerard Donovan hat es in sich.

Nackt in München

Da habe ich doch einen famosen Schriftsteller deutscher Zunge entdeckt. Der Mann lebt in München und hat seine Schwimmbaderlebnisse aufgeschrieben. Er hat sich unter die Nacktbader begeben, die in einem öffentlichen Schwimmbad abgetrennt von der übrigen Welt alles zeigen können, was manche lieber versteckt halten sollten. Ernst Augustin berichtet darüber essayistisch und mit einem zwinkernden Auge. Er erlebt dann auch noch eine Liebesgeschichte; nein nicht er, aber seine Romanfigur, also doch er. Denn wenn er von dem Haus berichtet, in dem sein Held wohnt, dann wissen wir, dass es des Autors eigenes schönes Wohnhaus in der bayrischen Landeshauptstadt ist. Ein ganz wundervoll eigener Roman ist da entstanden und hebt den Autor in höhere Ränge der Schreiber in diesem Lande. Der Roman heißt „Die Schule der Nackten“.

Lesen!

Die Mittagsfrau

In den Wirren der ersten Wochen nach Ende des zweiten Weltkriegs lässt eine Mutter ihren siebenjährigen Sohn auf dem Bahnsteig zurück und flieht allein gen Westen. Sie ist gerade von russischen Soldaten vergewaltigt worden und man fragt sich dennoch, wie kann eine Mutter so etwas tun.

Der Roman „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck klärt uns darüber auf. Sie entblättert ein Panorama deutscher Geschichte angefangen mit dem Beginn des ersten Weltkriegs und endet etwa zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs. Ein Familienroman der besonderen Art. Eine unglaublich dichte Erzählung. Packende Bilder, wunderschön die Sprache, die nuancenreich und immer treffend die Momente schildert. Die Heldin dieses Romans ist die Frau, die am Beginn des Romans das Kind auf dem Bahnsteig zurücklässt. Wir gehen den Weg mit Helene oder Alice, wie sie später aus Gründen des Schutzes vor der Verfolgung durch die Nazis heißen wird. Das ist das Leben eines jungen Mädchens, ungeliebt von ihrer eigenen Mutter, die langsam geistig verwirrter wird, geliebt und mehr von ihrer neun Jahre älteren Schwester Martha. Der Titel des Romans mag Rätsel aufgeben; Julia Franck erklärt ihn wie folgt: „Martha und Helene kannten die Geschichte von der Mittagsfrau, solange sie denken konnten, es lag etwas Tröstliches in ihr, weil sie nahelegte, dass es sich bei der mütterlichen Verwirrung, um nichts anderes als einen leicht zu verscheuchenden Fluch handelte“. Diese Mittagsfrau will nämlich nichts anderes als eine Stunde von der Verarbeitung des Flachses erzählt zu bekommen, nichts sonst. Sie will also nur ein wenig Aufmerksamkeit. Und wer wollte dies nicht?

Dieser Roman wurde zu Recht 2007 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Bitte lesen!

Den Herzschlag hören

Ja, man kennt den Spruch aus dem Kleinen Prinzen, dass man nur mit dem Herzen gut sehen könnte. Der Stern – Journalist Jan-Philipp Sendker hat „Das Herzenhören“ geschrieben.

Ein schöner Urlaubsroman, ein wenig zu schmalzig, aber schön. Ich will über den Inhalt hier nicht viel sagen. Nur ist es schon ein ziemlicher Zufall, dass ich hintereinander zwei Romane gelesen habe, die davon handeln, wie eine Mutter ihr Kind allein zurücklässt. Zwar spielt dies in diesem Roman nicht die Hauptrolle, aber es prägt natürlich den Jungen, um den es hier geht. Wie er der Liebe begegnet, das ist schon tränenfördernd. Es ist ein lesenswerter Roman, keine große Literatur, aber lesen darf man dieses Buch ohne Reue. Ach ja, was den Titel anbelangt: Der Held erblindet und sein Gehör wird so ausgeprägt, dass er den Herzschlag von Menschen unterscheiden kann und somit mehr über sein Gegenüber erfährt, als wenn er diese Menschen mit den Augen sehen könnte.

Goethes Reise nach Italien

Ich habe vor Jahren die „Italienische Reise“ auszugsweise mit sehr viel Genuss gelesen. Ich bin ein bekennender Goethe „Fan“ und schon lange an seinem Leben, auch seinem Liebesleben interessiert. Ein wundervolles Buch, um da mehr Klarheit zu gewinnen und die vielleicht beste Biographie über einen besonders wichtigen Teil seines Lebens ist das Werk von Roberto Zapperi „Das Inkognito“. Da hat der Italiener in detektivischer Kleinarbeit sehr viel über die Zeit des Meisters in Italien herausbekommen. Und das Ganze liest sich einfach gut; sehr gut sogar.

Mir hat die Lektüre viel Vergnügen gemacht und ich empfehle diese Arbeit sehr.

Wieder ein Brunetti Krimi

Der Fall Nummer 19 heißt im Original „A Question of Belief“. Und ja es geht um Glaubensfragen und es geht um Liebe. Es ist ein guter Krimi. Ich hatte bei Donna Leon ja Abnutzungserscheinungen festgestellt. Aber Nr. 19 ist ein gelungener Roman. Da passt alles zusammen und das Ende ist überraschend und schlüssig zugleich. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass ich Nr 20 und 21 lesen werde, die schon im Regal auf mich warten.

Llosa abgebrochen

Es ist ja schwer zu erklären und ich gestehe, mich auch ein wenig zu schämen. Aber die Geschichte geht so: Ein Wiener Medienunternehmen beglückt die Stadt seit Jahren mit einem gratis verteilten Buch. Gute Lektüre garantiert. Nun hatte dieses Medienhaus auch eine Dependance in Berlin gegründet und wollte auch dieser Stadt ein Geschenk machen. Eine gute, eine löbliche Idee. Man entschied sich für den Roman „Der Geschichtenerzähler“ von Mario Vargas Llosa.

Ich bekam das Buch geschenkt und freute mich auf eine weitere Geschichte des von mir sehr geschätzten Autors. Der Anfang des Romans ist vielversprechend. Der Ich – Erzähler beschreibt eine schon zurückliegende Geschichte aus seiner Jugendzeit. Mich mutete der Stil ein wenig antiquiert an. Ich fühlte mich an Raabe erinnert, der Stopfkuchen kam mir in den Sinn, ich weiß nicht warum. Dann wechselt die Perspektive und es folgt eine Erzählung aus dem peruanischen Urwald und natürlich ist das eine Geschichte des Freundes über die der Erzähler berichtet. Die Geschichte will mich aber nicht erreichen, sie geht an mir vorbei und so quäle ich mich noch einige Seiten und Kapitel weiter, aber ich denke dann irgendwann, dass ich mich nicht länger mit einer Geschichte schlagen will, die mich offenbar nicht anspricht. Und so geschieht es: ich lege das Buch zur Seite, werde aber sicherlich nicht von dem grandiosen Schriftsteller lassen.

Jugendbuch verschlungen

Ich hörte von einem Buch für junge Menschen, das in Frankreich für Furore sorgt. Der erste Band ist in Deutschland erschienen und ich las den Band in einem Zuge durch, das ist durchaus in doppelter Bedeutung gemeint. Der Junge Méto lebt in einem Haus mit anderen Jungen zusammen. Die Jungs haben strengste Auflagen, werden dressiert, nicht erzogen und was mit ihnen passiert, wenn sie ein bestimmtes Körpermaß überschritten haben, ist ungewiss. Es beginnt ganz langsam ein Aufstand und das Haus ist dann in der Hand der Jungen. Aber sie müssen aus dem Haus fliehen, wenn sie eine Überlebenschance haben wollen. Der letzte Satz des Bandes eins lautet dann auch lakonisch „Fortsetzung folgt“. Ich freue mich darauf. Der Autor heißt übrigens Yves Grevet.

Currywurst

Uwe Timm gehört für mich zu den besten deutschen Gegenwartsautoren, leider vom Feuilleton nicht so wahrgenommen, wie es seinem Rang zustehen sollte. Seine Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ gehört zu den kleinen feinen Schätzen, die ich zu lesen empfehle.

Eine wunderbare Geschichte über die Liebe in den Tagen des Kriegsendes, über Lügen, über Schicksale. Eine Geschichte so viel- und auch feinmaschig erzählt, wie ein selbstgestrickter Pullover der Frau Brücker sein kann. Ja, die Frau erinnert sich an die Zeit unmittelbar vor und nach Kriegsende. Sie berichtet von ihrer Geschäftsidee und wie sie zufällig die Currywurst entdeckte.

Eine Geschichte, die man sofort geneigt ist, zu glauben und gern seinen Kindern weitergeben will.

Ein großartiges kleines Werk!

Vaterland

Das ist nun mittlerweile der vierte Band der Krimireihe des Autors Volker Kutscher, der uns seinen Kommissar Gideon Rath näherbringt.

Der Roman spielt im Sommer 1932, die Nazis sind überall mit ihren Visagen bereits sichtbar und die Regierung Papen putscht. Preußen wird unter Reichskuratel gestellt. Gideon verlobt sich endlich mit Charly und ermittelt im fernen Masuren. Und am Ende laufen alle Fäden zusammen und ein, nein zwei Fälle sind gelöst und ich freue sich schon auf Band fünf.

Schön auch die Doppelbödigkeit des Buchtitels „Die Akte Vaterland“. Vordergründig natürlich der Mord im Haus Vaterland, einem ganzen Restaurantkomplex am Potsdamer Platz. Hintergründig natürlich auch eine Momentaufnahme des Zustands Deutschlands am Vortag der Übernahme der Macht durch die Nazis.

Sorry Charly

Ich habe mich redlich bemüht, den Roman David Copperfield zu lesen. Auf Seite 252 meiner Ausgabe endete diese Bemühung. Ich kann nichts Kritisches über diesen Roman sagen. Er ist so herzlich naiv im Ton, er ist so grundehrlich. Aber er berührt mich nicht, er hat mich an keiner Stelle gepackt und mitgenommen. Ich weiß jetzt, woher die Band aus England namens Uriah Heep sich bedient hat. Aber ich wäre auch ohne diese Information glücklich gewesen. Ich fand die Lebensgeschichte so neben meiner Lebenswirklichkeit, so wenig unterhaltsam, dass ich nicht anders konnte als die Buchdeckel zuzuklappen.

Noch einmal: Sorry Charles Dickens!

Kapitaler Roman

Ein Episodenroman zusammengehalten von einer Londoner Straße, die den Namen des großen indiskreten Engländers Samuel Pepys trägt. Der Roman von John Lanchester heißt Kapital in der deutschen Übersetzung und im Original „Capital“.

Letzterer schließt auch den Begriff der Hauptstadt ein. Und natürlich ist dieser Roman auch eine Hommage an die große Stadt London. Diesem Schmelztiegel ganz verschiedener Kulturen, zusammengedrängt in einem Häusermeer. Selbst wenn man London meint, verlassen zu haben, ist es immer noch Haus und Stadt und wenig grün. Dann irgendwann ändert sich die Landschaft und man hat das Gefühl auch in Ungarn oder Polen sein zu können. So empfinden die Menschen bei den wenigen Fahrten hinaus aus der Stadt. Die Menschen sind unterschiedlich, die sich in der Pepys Road zusammengefunden haben. Nicht alle wohnen hier. Manche arbeiten hier legal oder auch nicht. Sie kennen sich nicht oder vielleicht vom Sehen. Sie gehen ihren Geschäften nach. Sie wollen Kapital akkumulieren, denn sie sind alle Geschöpfe unseres gesellschaftlichen Supermodells: Wachstum. Alles muss wachsen. Nur wenn man einen höheren Bonus als im vergangenen Jahr erhält ist man auf der richtigen Seite. Sonst gehört man zu den Verlierern. Dann muss man sein Haus verkaufen und ein anderer Mensch wird einziehen in eins der Häuser in dieser Straße. Dass es auch noch eine merkwürdige Aktion gibt, die manchen Anwohner nicht ruhen lässt und die Polizei um Hilfe bittet, ist fast nur eine Randerscheinung. Na ja, ein Faden, der sich durch die Erzählung zieht. „Wir wollen, was ihr habt!“ steht auf Fotografien, die die Haustüren der Straße abbilden.

Alles löst sich auf und alles wird weitergehen.

Eine wunderbare Lektüre.

Ein gelungener, ein großer Roman.

1913

Florian Illies ist der Auffassung, dass „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ stattfand.

Ich will gar nicht darüber diskutieren, ob es nicht vielleicht 1924 gewesen sein könnte oder ein anderes Jahr.

Was der Mann in ein Sachbuch gepackt hat, ist in Wahrheit ein Roman. Mitwirkende sind viele Geistesgrößen des letzten Jahrhunderts. Schnitzler und Freud, Marc und Macke. Picasso und Matisse. Rilke, Trakl und Kafka. Und so könnte ich weitere Namen nennen. Er geht mit ihnen durch das Jahr. Ein synchronoptische Schau, wie es der 1913 geborene Werner Stein später mit seinem sogenannten Kulturfahrplan vormachen wird. Nur Illies kleidet es in Sätze. Er erfindet kleine Geschichten, er malt Gemälde. Es ist einfach eine große Lust, diesen Abschnitten zu folgen. Manchmal nur einzelnen Sätzen, manchmal doch ein oder sogar zwei Seiten zu einem Thema, einer Person, einer Ausstellung, einem Bild.

Es ist keine Kulturgeschichte, es sind Kulturgeschichten.

Es ist eine Ansammlung kluger Sätze und ebensolcher Einsichten.

Über das Bild von Marcel Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend“ etwa: „Eine Frau, die Raum und Zeit durchschreitet – eine geniale Kombination aus den großen Zeitphänomenen des Kubismus, Futurismus und der Relativitätstheorie“.

Über Thomas Manns Arbeitstage: „Weltliteratur ist also nur eine Frage der genauen Planung“.

Wir erfahren auch, dass man im Mai des Jahres 1913 die Geothermie „entdeckte“.

Wir lesen, dass der Bau des Stadions für die Olympischen Sommerspiel 1916, die in Berlin stattfinden sollten, im Juni 1913 bereits fertiggestellt worden war. Also ein Vergleich mit den heutigen Baustellen in Berlin ist nicht angezeigt.

Die Diagnose des Jahres 1913 lautete allerorten: „Neurasthenie unter Mitbeteiligung des Herzens (hier Diagnose für die Arbeitsunfähigkeit von Robert Musil!) – schöner lässt sich das Leiden an der Moderne nicht zusammenfassen“.

Oder das Zitat von Adolf Loos über den Unterschied von Kunstwerken zu Bauten: „Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ“.

Eduard von Keyserling, dem von mir sehr geschätzten und zu wenig gelesenen Autor, bezeichnet Illies als den größten und vergessensten Anti-Utopiker seiner Zeit.

Und alle seine Menschen stoßen am 31. Dezember auf das neue Jahr 1914 an.

Es ist ein wundervoller Band. Und nur zur Klarheit: Der Sommer des Jahres 1913 war sehr bescheiden. Es gab in Deutschland einen schönen Spätsommer, aber der Sommer fand nicht statt.

Versuch mit Pratchett

Ich habe vor einiger Zeit einen Band aus den Scheibenweltromanen des Terry Pratchett geschenkt bekommen und nun den Versuch unternommen, den Band Going Postal zu lesen. Allein, es sollte nicht sein. Ich konnte mit dem Humor, den der Autor ohne Zweifel hat, mit der Ironie der Erzählung und dem ganzen Plot nichts anfangen. Und inzwischen weiß ich, dass es besser ist, dann die Lektüre abzubrechen, als sich durch sie zu quälen. Nein, diesen Romanen werde ich nicht mehr nähertreten.

Austen

Dann griff ich zu einer Autorin, die mir einfach Ablenkung verspricht. Kein Tiefgang, aber eine so wunderschöne Art der Erzählung, dass man es einfach lesen muss.

Wie zum Beispiel den kleinen Roman Northanger Abbey. Es geht um nichts weiter als ein junges Mädchen, dass zum ersten Mal von seiner Familie getrennt Erfahrungen macht. Sie ist so wundervoll gutgläubig und unsere Autorin schafft es mit wenigen Sätzen, die sie den Personen in den Mund legt, diese so vollendet zu charakterisieren, dass sie sofort vor unseren Augen in ihrer ganzen Pracht entstehen. Am Ende wird alles gut, das bedeutet hier, wie bei allen Romanen dieser so liebenswerten Autorin, Heirat, Glück und sicherlich ein langes Leben.

Jane Austen, ich danke Dir.

Freitisch

Ich lese die Werke des Uwe Timm so gern. Es ist seine Sprache, seine Erzählart, die mich so sehr für ihn einnimmt. Nun habe ich die Novelle Freitisch gelesen. Da entsteht auf knappen 130 Seiten ein kurzer Abriss der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die Probleme des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten und ganz nebenbei ein Einblick in die Person des Arno Schmidt. Das ist alles so kunstvoll ineinander verschraubt, dass man es hier nicht nacherzählen kann, ohne die Seitenzahl des kleinen Werks zu übertreffen. Eine Kritik allerdings habe ich schon, Timm nennt sein Werk ja eine Novelle. Und das ist dieses Werk nicht, es ist eine Erzählung. Aber ich will ja nicht so pingelig sein.

Fürstinnen

Eduard von Keyserling ist ein ganz großer Romancier. Er hat einen ganz feinen Sinn, auch Kleinigkeiten zu erkennen und zu beschreiben. Sein kleiner 1915 erschienener Roman „Fürstinnen“ ist hierfür ein Beweis. Eine untergehende Zeit. Der Adel ein auslaufendes Modell. Die Welt ist eine andere geworden. Unglückliche Liebe, Menschen, die nach dem Sinn des Lebens fragen, die täuschen und enttäuscht werden.

„Und nun einfach ein paar Auszüge, einige Sätze, die zeigen, was für ein grandioser Schriftsteller dieser Mann gewesen ist.

…gaben den Gedanken eine müde Stetigkeit, wie wir sie vor dem Einschlafen empfinden, wenn die Gedanken sich anschicken, Träume zu werden.

Ja, das eigentliche Leben eines jeden sind seine Geheimnisse …

Gott, solange sie in uns verliebt sind, sind sie alle nett; aber sobald sie merken, dass auch wir schwach werden, dann sind sie lächerlich; dann spielen sie gleich den königlichen Löwen, der seine Mähne schüttelt, und wir sollen die kleinen, nackten Löwinnen sein.

… wir müssen unsere Gegenwart so stark machen, dass sie die Vergangenheit verdrängt.

Nun saßen sie, ganz überwölbt von dem grellen Grün der jungen Ahornblätter. Zu ihren Füßen auf dem Rasen zitterten die Blätterschatten, und ihnen gegenüber kam die Sonne die Allee hinab, eine Flut rotgoldenen Glanzes, und die vielen lautlosen, kleinen Flügel, welche die Luft erfüllten, schwammen alle in Gold.

Wenn ich so unsere Jugend ansehe oder an die eigene Jugend denke, so finde ich, wir gleichen in den Jahren unglücklichen Klavierschülern, die ein schweres Stück üben, sie legen all ihre Begeisterung und ihr Feuer hinein, aber in jedem Augenblick kommt ein falscher Ton oder ein unreiner Akkord.

Das wäre natürlich unedel, aber so war das Leben.

Nein, das Leben ist eben kein Tanzsaal.

Es gibt eben Zeiten, in denen unser Leben neben uns herzulaufen scheint wie etwas Fremdes, etwas Selbständiges, über das wir keine Macht haben.

Wir erleben eben niemals zweimal dasselbe.

Die Sonne ging sehr festlich unter.

Ich meine, wir können aus unserem Leben doch nicht das machen, was wir daraus machen wollen, es tut immer, was es selbst will.

Kinder sind doch das Beste, das wir der Welt geben können, sie sind doch sozusagen unsere Unsterblichkeit.“

Danke, Eduard von Keyserling!

Brunetti Nr. 20

Also schon der zwanzigste Roman der Donna Leon mit ihrem sanften Kommissar, seiner klugen Frau und den langsam älter werdenden Kindern. Der ewig ein wenig herum tapsende Vorgesetzte und die adligen Schwiegereltern. Und natürlich gibt es auch immer einen Fall, der aber meist nicht im Mittelpunkt des Interesses steht.

Und das habe ich seit dem zehnten Buch spätestens satt. Aber das Englisch der Autorin ist so schön einfach und es liest sich gut. So greife ich also immer wieder zu den Romanen. Aber sie ermüden mich immer mehr und vielleicht lese ich irgendwann diese Familienschmonzetten dann doch nicht mehr. Drawing Conclusions hieß dieses Mal der Band. Na ja, ich habe meine Schlussfolgerungen gerade gezogen.

Dupin Nr. 2

Vielleicht tritt dieser Kommissar in die Fußstapfen Brunettis. Bretonische Brandung heißt dieser Band mit reichlich Toten und einer durchaus gut aufgemachten, weil spannenden Geschichte. Der Autor, der sich einen bretonischen Namen (Jean-Luc Bannalec) gibt, ist tatsächlich ein Deutscher, aber ich verstehe den Mann schon. So kann er von der Bretagne und dem Essen schwärmen, wenn er am Schreibtisch im trüben Deutschland sitzt und seine Phantasien in den Rechner hackt.

Gelungener zweiter Fall. Obwohl ich jetzt nach zwei Monaten oder so, schon nicht mehr zu sagen vermag, wer eigentlich der Mörder war. Na ja, wer war es denn gleich? Also am besten gleich lesen!

Ein wirklich großes Buch

Ein Roman aus dem anderen Teil Deutschlands. Eine Geschichte aus der noch jungen DDR. Der erste Teil, eines mit drei Bänden geplanten Romans über die Geschichte von der Gründung der DDR bis zum Mauerbau. Nur der erste Band hat das Licht der Welt erblickt. Und die Genossen in dem Land, das der Autor spürbar liebt, ließen mehr nicht zu. Der Roman war zu starker Tobak für den Staat, der sich Selbstzweifel nicht leisten wollte.

Rummelplatz heißt der Roman, der dreißig Jahre nach dem Tod seines Autors, Werner Bräunig, veröffentlicht wurde. Auf dem Umschlagdeckel wird die Süddeutsche Zeitung zitiert. „Hätte Bräunig weitergearbeitet, wäre er ohne weiteres neben Günter Grass, Martin Walser und Heinrich Böll angekommen.“ Nach der Lektüre des Romans kann ich nur sagen, dass das falsch ist. Bräunig ist mit diesem Roman neben Grass, Böll und Lenz angekommen. Wer aber ist Walser?

Rummelplatz ist ein schwer zu beschreibender Roman, weil seine Figuren für eine weitaus größere Wegstrecke angelegt worden sind als nur für die läppischen 600 Seiten dieses ersten Teils.

Zunächst ist es ein Roman über die Arbeit im Bergwerk der Wismut AG, also dort wo radioaktives Gestein für die Atomkraftwerke der UdSSR abgebaut wird. Es ist ein Roman über junge Menschen, die aus unterschiedlichen Motiven ins Erzgebirge gekommen sind, und nun alle Pläne erfüllen sollen oder wollen. Es ist die Geschichte über zarte Beziehungen. Beziehungen zwischen Vater und Tochter (sogar in Ost und West), über sich langsam näherkommende Mädchen und Jungen. Männerfreundschaften und auch die Beziehungen zwischen Väter und Söhne. Es sind die Geschichten von Menschen, die zum Teil „kräftig danebengegriffen haben auf der Sitzbrille des Lebens“.

Rummelplatz als Metapher für einen Spielplatz, wo man in eine Schiffsschaukel steigen kann, die sich sogar selbst überschlagen kann. „Du steigst in die Schaukel und schwingst dich hoch über den toten Punkt, aber du kommst immer wieder herunter, und es ist alles so, wie es vorher war.“

Es sind Menschen, die ihr „Leben lang schuften in harter Mühle und sich für ein paar Stunden entschädigen auf den Rummelplätzen der Welt“.

Dieser Roman ist ein großer Roman, einer der viele Leser haben sollte und vielleicht hört Werner Bräunig dann im Himmel die Lobeshymnen über seinen Roman und er wird doch noch die Fortsetzungen schreiben und sich nicht entmutigen lassen, wie im irdischen Leben. Er hat so wundervolle Metaphern geschrieben, er hat so viel Eleganz in seiner Sprache. Nur, wie auch andere große Autoren, ich denke nur an Thomas Mann oder Theodor Fontane, Namen konnte er seinen Figuren nicht geben, die sind teilweise absurd und teilweise einfach blöd. Aber die Methapern wiegen alles auf. So eine wie diese hier zum Schluss:

„Früher waren die Bahnhofsuhren Knotenpunkte der Zeit gewesen, die Bahnsteige Schnittpunkte der Hoffnung.“

Lesen und weitersagen!

Sakrileg

Ich wollte einen dieser Romane von Dan Brown lesen. Der Mann ist mit dem neuesten Roman, seinem Inferno, in aller Munde. Der Roman „Sakrileg“ gab mir Denkanstöße bezüglich des Leben Jesu und seiner Vermählung mit Maria Magdalena. Der Roman ist spannend, aber auch wieder nicht so, dass man sich die Nacht um die Ohren schlagen möchte, um zur Auflösung zu gelangen. Alles löst sich am Ende auf, aber es ist teilweise sehr aufgesetzt, konstruiert. Und das mehr schlecht als recht. Es ist nicht die Art der Literatur, die ich dauernd genießen möchte.

Tolles Debut

Meine Freundin hat mir auf Empfehlung ihrer Buchhändlerin den Roman geschenkt. Die späte Ernte des Henry Cage von David Abbott. Ein Erstling, nachdem der Autor ein erfolgreicher Werbefachmann und Mitinhaber einer Werbefirma sich auf sein Altenteil zurückgezogen hat.

Der Roman handelt von einem erfolgreichen Werbefachmann und Mitinhaber einer Werbefirma, der sich – nicht ganz freiwillig – auf sein Altenteil zurückgezogen hat. Gleich zu Beginn passiert der ganz schreckliche Unfall, der seinem achtjährigen Enkel das Leben kostet. Mr. Cage ist am Boden, im wahrsten Sinne des Wortes und seine Schwiegertochter teilt ihm nachts mit, dass sie ihn hasst und für den Tod ihres Kindes verantwortlich macht.

Nein, Mr. Cage kann nichts dafür, denn er lässt, als er mit seinem Enkel auf dem Weg zum Angeln ist, den Zündschlüssel im Auto stecken, weil er nur noch eine Flasche Mineralwasser für den großen Spaß zwischen Großvater und Enkel besorgen will. Ein Typ klaut den Wagen, stößt den Enkel aus dem Wagen und dessen Fuß verheddert sich im Sicherheitsgurt, so dass der kleine Junge zu Tode geschleift wird. Von da an besteht der Roman aus Rückblenden.

Der erfolgreiche Mr. Cage hat viele Niederlagen einstecken müssen, die Scheidung von seiner geliebten Frau, deren Krebstod, der Abschied aus der Firma. Aber er hat auch viel gewonnen (geerntet). Seinen Sohn und dessen Familie wieder gefunden, die große Liebe seines Enkels und auch das Abschütteln eines Plagegeistes. Über den verrate ich hier nichts, weil man ja die Spannung für die Lektüre schüren soll.

Der Roman ist im Stile der Bücher Ian McEwans geschrieben. Ein kleiner falscher Moment verändert Dein ganzes weiteres Leben; ständig steht man an den Wegkreuzungen und je nach Entscheidung für die weitere Wegstrecke erntet man Freud oder Leid.

Das ist ein Erstlingswerk und ich ziehe ehrfurchtsvoll den Hut vor dem Talent des Autors.

Aber bitte warum heißt der Roman im Original „The upright piano player“?

Leo Berlin

Susanne Goga hat einen Kommissar im Berlin der Weimarer Republik erfunden. Leo Wechsler heißt der Mann und er arbeitet im Präsidium am Alexanderplatz. Sein erster Fall ist die Aufklärung eines Mordes an einem Wunderheiler und an einer älteren Prostituierten. Die Fälle drohen nasse Fische zu werden. Der freundliche Oberkommissar Gennat hilft dem Leo hier und da mit einem freundlichen Spruch und der Witwer mit zwei Kindern, hat alle Hände voll zu tun, die Fälle, die einen Täter haben, aufzuklären. Privat hat er Stress mit seiner Schwester, die sich aufopferungsvoll um die Kinder kümmert und ihr eigenes Leben darüber zu vernachlässigen droht. Der Roman Leo Berlin liest sich im Nu weg. Aber das kommt dem Leser doch von Volker Kutscher her alles sehr bekannt vor. Die gute Frau klaut nicht wirklich, aber bewegt sich an einer Grenze. Aber eine nette Lektüre war es schon!

Die Geschichte einer Straße

Pascale Hugues kenne ich aus ihren Kolumnen im Tagesspiegel schon sehr lange. Die Französin in Berlin kommentiert häufig mit dem nötigen Charme Eigenheiten der Berliner. Das ist witzig und lehrreich zugleich. Nun hat sie ein Buch über die Geschichte der Straße geschrieben, in der sie seit ihrem Umzug nach Berlin mit ihrer Familie lebt. Eine ruhige Straße in guter Wohnlage.

Die Straße befindet sich im Bayerischen Viertel des Bezirks Schöneberg. Und Frau Hugues hat sich die Mühe gemacht, alte Bewohner dieser Straße ausfindig zu machen und mit denen, die jetzt in der Straße leben zusammen ein Bild zu malen.

Es sind Geschichten über Menschen heraus gekommen, die zufällig dort lebten, die als Juden den schrecklichen Verbrechen der Nazis ausgesetzt waren, die als Deutsche vielleicht ihr Hab und Gut in den Bombennächten des zweiten Weltkriegs verloren haben. Die der Gentrifizierung zum Opfer zu fallen drohen, die vielleicht mal berühmt waren oder was man dafür halten kann.

Das Buch hat mir persönlich nichts gebracht. Man hätte viel mehr daraus machen können, die Geschichte einer Straße und deren Bewohner zu erzählen.

Ich kann es nicht weiter empfehlen.

Feine Leute

Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen. Er erinnerte mich an Bel Ami. Auch dort kommt ein Mann nach oben. Hier ist es Andreas aus der Provinz, der 1893 nach Berlin gekommen ist, um Schriftsteller zu werden. Er hat große Ideen, aber mehr auch nicht. Er bekommt aber Unterstützung, weil er ein Empfehlungsschreiben aus der Provinz bei sich hat. Er wird der Liebhaber einer reichen Gattin eines Industriellen. Sie hält ihn aus. Ihr Mann ist dem jungen Dichter dankbar, bis zu dem Moment, wo der Junge durchdreht, wo er höher hinaus will. Der Absturz folgt. Er muss die Geliebte des Industriellen heiraten, sein Einkommen ist begrenzt und man lacht im Schlaraffenland über diesen Idioten, der zu hoch hinaus wollte.

Der Roman heißt Im Schlaraffenland – ein Roman unter feinen Leuten. Der Autor ist Heinrich Mann.

Sehr lesenswert.

Pilze kann man genießen

Der Krimi des Schweizer Martin Suter, „Die dunkle Seite des Mondes“ ist ein perfekt inszenierter Roman. Der angesehene Wirtschaftsanwalt Urs Blank ist in der Midlife Crisis. Er verliebt sich in ein junges Mädchen, lernt darüber die bewusstseinserweiternde Wirkung von Pilzen kennen. Diese erweitern nicht nur sein Bewusstsein, sondern verändern auch seine Persönlichkeit. Er wird unberechenbar, er mordet, zieht sich in den Wald zurück. Er wird zum Gejagten und er bemüht sich, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er wird zum Pilzexperten, zum Sammler und will sich von seinem Problem befreien. Aber ich verrate nicht, ob er es schafft.

Toller Krimi, der sich beinahe von ganz alleine liest.

Ein Mädchen wird erwachsen

Alina Bronsky hat den Roman Scherbenpark geschrieben. Man liest diesen Roman, der keinerlei Kapitelunterteilung hat, mehr oder weniger ohne Unterbrechung.

Die junge Sascha hat zwei Pläne, ihren Stiefvater zu ermorden und ein Buch über ihre Mutter zu schreiben. Letztere ist mit ihrem jungen Geliebten von dem Stiefvater umgebracht worden. Daher auch der Wunsch, diesen zu ermorden. Dazu kommt es nicht und zu anderen Dingen auch nicht. Dafür verliert sie aber ihre Unschuld und verliebt sich und weiß nicht so richtig, wohin mit sich und ihrer Umwelt.

Mein Tipp: Einfach lesen. Nicht die ganz große Literatur, aber ein spannendes Buch ohne jeden Zweifel.

Tschick

Vergesst Holden Caulfield, lasst den Amerikaner seine Jungend in einigen Nächten hinter sich lassen. Es gibt nun Maik Klingenberg. Sein russischer Kumpel, den er eben Tschick nennt und er versuchen in die Walachei zu gelangen. Mit einem Lada und mit 14 Jahren ist das nicht so einfach und viel weiter als in den Speckgürtel der deutschen Hauptstadt kommen sie ja auch nicht. Aber Maik hat nun auch eine Freundin oder jedenfalls fast und am Ende landet er mit seiner Mutter im heimischen Swimming Pool. Wolfgang Herrndorf ist mit diesem Roman ein Geniestreich gelungen. Der Roman liest sich fast von allein und man möchte das Buch gar nicht aus der Hand legen, weil man wissen möchte, wie es weiter geht und was passieren wird.

Ein Meisterwerk!

Der vierte Wechsler Krimi

Die Autorin Susanne Goga ist offensichtlich sehr produktiv. Es liegt der vierte Roman mit ihrem Berliner Kommissar Leo Wechsler vor. Dieses Mal spielt das Ganze im Filmmilieu. Natürlich geht auch die private Geschichte weiter und das alles ist spannend geschrieben. Das ist eine schöne Abwechslung und man unterhält sich prima. Zumal Frau Goga sehr nah an der Historie entlang erzählt, als wäre sie dabei gewesen. Das ist beachtlich und macht Spaß. Mord in Babelsberg ist der Titel dieses Krimis.

Nie wieder Krieg

In diesem Jahr wiederholt sich der Beginn des 1. Weltkriegs zum hundertsten Mal. Deshalb gab es in den letzten Monaten so viele kluge Bücher, die versucht haben zu erklären, warum der Krieg ausbrach, ja ausbrechen musste. Aber wie war dieser Krieg, wie war er für diejenigen, die ihn wirklich erlebt haben? Es gibt gelungene Romane über diese Zeit, aber wenige, die auch Zeitzeugenschaft in Anspruch nehmen können. Ein Buch, das dies kann, ist „Heeresbericht“ von Edlef Köppen.

Eine belesene und kluge Kollegin hat mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht. Es ist ein Roman, es ist die Geschichte des Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger. Es ist die Geschichte von den Kämpfen im Westen, dem sinnlosen Schlachten einer Generation. Der Einführung der chemischen Kriegsführung, der ersten Tanks und des Einsatzes von Flugzeugen. Es ist eine erschütternde Lektüre. Köppen, der im Wesentlichen eine Autobiographie verfasst hat, stellt den Schilderungen Reisigers und der Erzählung in der dritten Person immer wieder Zeitungsausschnitte gegenüber. Werbung aus den Zeitungen zum Beispiel oder Befehle, die der einfache Soldat natürlich so nie gesehen hat. Da wirbt ein Restaurant für das Silvestermenü, während die jungen Menschen an der Front in Schlammlöchern stecken. Da fliegen einem Kugeln um die Ohren und der eben noch neben dir stehende Kamerad ist im nächsten Moment zerfetzt, nur noch ein Haufen Mensch. Das ist so erschreckend geschrieben, dass die Gefahr, verrückt zu werden nachvollziehbar ist. Und Reisiger wird zum Ende dieses Krieges tatsächlich in die Irrenanstalt gesteckt, weil er allen sagt, dass er zu lange geschwiegen habe.

Was für ein Buch.

Lesen und dann weiß man, dass der Ruf, niemals wieder Krieg, so richtig und wahr ist und immer bleiben wird.

Roth I

Den heiligen Trinker Joseph Roth für einen der größten Romanciers des 20. Jahrhunderts zu halten, ist nicht vermessen, sondern einfach wahr.

Was ist aus denjenigen geworden, die aus diesem Weltkrieg zurück nach Hause kamen. Oder jenen, die irgendwie unterwegs waren? Dieser Frage geht Roth in seinem Roman Hotel Savoy nach. Das ist ein Hotel, in dem viele gestrandete Menschen leben. In jedem Zimmer ein Menschenschicksal. In jedem Zimmer große Traurigkeit, viel Ratlosigkeit und meist trotz allem ein Funke Hoffnung.

Am Ende wird das Hotel abgebrannt sein und die Gestrandeten müssen sich ein anderes Zuhause suchen oder wirklich auf den Weg nach Hause machen. Der 2. Weltkrieg steht schon vor der Tür.

Alles ist in Auflösung. Eine verrückte Welt.

Roth II

Hiob ist ein Roman, in dem man fast jeden Satz unterstreichen kann. Das ist der sprachgewaltigste Roman, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Der arme Mendel Singer nimmt die Schläge gegen seine Familie und seine Person hin. Alles endet im Chaos, im Untergang. Endet alles im Untergang? Nein, das tut es nicht. Es wird gut, fast alles wird gut. Behalte Deinen Glauben Mensch, behalte Deine Zuversicht, sei nicht kleinmütig, nicht verzagt. Du bist ein Nanoteilchen in Gottes unendlichem Universum. Nimm Dich nicht so wichtig, versteh doch endlich, dass Du einfach in Gottes Hand bist.

So ist für mich die Botschaft dieses überwältigenden Romans.

Kein Gott?

Ein Lehrer zu Beginn der Nazizeit macht sich dafür stark, dass Neger auch Menschen sind. Ein Schüler erzählt es seinem Vater, der sich über diese Haltung beklagt, der Lehrer hat die Klasse gegen sich.

Im Ferienlager, einem vormilitärischen Zeltlager, wird ein Junge, genau der oben genannte Schüler, ermordet aufgefunden. Der Lehrer mutmaßt, den Täter zu kennen. Er gibt vor Gericht seine eigenen Unzulänglichkeiten wahrheitsgemäß zu Protokoll, weshalb er seine Stelle verliert. Er deckt mit Hilfe einiger Schüler auf, wer die Tat wirklich begangen hat und geht zu den Negern nach Afrika in eine Missionsschule. Er hat Gott getroffen, ist ihm auf dem richtigen Weg gefolgt und hat die Wahrheit gesagt.

Eine Jugend ohne Gott sieht anders aus. Ein Roman von Ödön von Horvath.

Anmerkungen zu einem Roman von Rafik Schami

Das Thema von Shakespeare in Romeo und Julia wundervoll dargestellt. Mann und Frau aus verfeindeten Clans lieben einander. Warum man die Clangeschichte der einen Seite über drei Generationen und mehr als zwanzig verschiedene Personen nebst Nebenpersonen und deren Freunde darstellen muss, bleibt das Geheimnis des Autors. Warum man „Kapitel über das Lachen“ einfügen muss, in dem der Autor amüsante Geschichten aneinanderreiht, die zwar viel über das Leben in Damaskus erzählen, die Geschichte aber nur wenig oder gar nicht voranbringen, bleibt eine weitere unbeantwortete Frage an den Autor bzw. an den Lektor. Romane können auf Zeitstrahlen vor und zurückwandern, sie können mäandern, aber es muss doch einen Erzählfluss beibehalten werden. Hier stapeln sich Dinge, wie im Basar, aufeinander, damit die Auslage gut aussieht und zum Kauf animiert. Die Qualität der Ware bleibt zweifelhaft. Auch ist nichts gegen erotische Passagen einzuwenden, aber allzu häufig habe ich den Eindruck gehabt, hier will jemand seine nie ausgelebte Sexualität zumindest verbalerotisch nachholen. Das hat manchmal den Anschein, als ob man sich in billigere amerikanische High School Filme verirrt habe.

Wo bleibt das Positive? Die Erzählwut und die liebevolle Art syrische Geschichte zu beschreiben, die sanften farbenfrohen Abschnitte über sich liebende Menschen jeden Alters. Das berührt, lässt mich aber nicht jubeln und mich den auf dem Buchdeckel abgedruckten Sätzen, aus der ZEIT oder der Brigitte anschließen. Ein Ferienroman, vor allem, wenn man sich in orientalischen Gefilden aufhalten sollte. Es regte mich an, der syrisch-ägyptisch-irakischen Geschichte einmal nachzulesen. Aber es ist ein nur durchschnittlich gutes Buch alles in allem.

Das Nachwort hätte der Autor Rafik Schami sich schenken können. Wir haben gemerkt, dass er Versatzstücke in seinen Roman eingeflochten hat. Er wollte zu viel und niemand hat ihm gesagt, lass es gut sein. Du bist ein tüchtiger, teilweise sogar witziger Schriftsteller mit einem orientalischen Hintergrund, der seine Geburtsstadt Damaskus liebt. Romeo und Julia finden sich in diesem Leben und der Kriminalfall wir auch gelöst.

Weniger wäre mehr gewesen.

Der Roman heißt übrigens Die dunklen Seite der Liebe.

Seilschaft

Was für eine Geschichte, die nicht im hier und heute, sondern in einer nicht genau zu bestimmenden Vergangenheit spielt. Ein Bewohner eines abgelegenen Walddorfs entdeckt eines schrecklichen Tages am Rande des Ortes ein Seil, das in den Wald hineinführt. Er informiert die übrigen Dorfbewohner und man folgt dem Seil ein Stück in den Wald, denn so lang kann das gute Stück denn ja doch nicht sein. Ist es aber doch. Daher organisiert man eine erste und schließlich eine weitere Expedition, um herauszubekommen, wo das Seil endet und wer es ausgelegt haben könnte. Das Unterfangen wird zu einem Kampf auf Leben und Tod. Und der Leser bleibt verstört zurück. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die Botschaft richtig deute, nicht jedem Seil, das vor einem gespannt liegt, zum Anfang zurück verfolgen zu sollen. Ich bin voller Fragen, deren Antworten die Geschichte nicht auflösen, aber verständlicher machen würden. Ich habe aber großen Respekt vor der sprachlichen Qualität der Geschichte und ihres Autors Stefan auf dem Siepen.

Sehr ratlos grüßt und bleibt zurück….

Ein Blatt Liebe

Großes Drama um ein schon lange kränkelndes Kind. Die kleine wächst ohne Vater auf, an die Mutter gebunden und von Eifersucht angefressen. Das Kind erkrankt, der junge Arzt und Vermieter hilft und verliebt sich in die Mutter und diese in ihn. Allein der Mann ist selbst verheiratet und Vater eines reizenden kleinen Sohnes. Die Tochter erholt sich wieder und man freundet sich mit der Arztfamilie an. Und es kommt, wie es kommen muss. Die beiden Verliebten gehen miteinander ins Bett und die Tochter erkrankt erneut ernstlich. Die Mutter von schweren Vorwürfen gemartert, will den Geliebten nicht wiedersehen. Der Rest wird hier nicht verraten.

Von Zola meisterlich geschrieben, ist es dennoch ein Stück, das nicht mehr in unsere Zeit passt. „Ein Blatt Liebe“.

Gnadenlose Beschreibung kapitalistischen Konsumverhaltens

Der Roman von Émile Zola „Das Paradies der Damen“ ist ein Liebesroman. Das ist klar. Es geht darum, wie der Warenhausbesitzer Mouret und die mittellose Verkäuferin Denise zusammenfinden. Das ist – glücklicherweise – eine Geschichte mit gutem Ausgang. Es wäre unerträglich, wenn die beiden am Ende nicht als Paar aus dieser Geschichte herausgefunden hätten.

Der Roman ist aber bei weitem mehr. Er ist die Schilderung des Untergangs der kleinen Geschäfte, die auf wenige Waren und Dienstleistungen spezialisiert waren. Ein Konsumtempel entsteht, er frisst ein gesamtes Karree in der Pariser Altstadt, er ruiniert alle kleinen Händler. Alle modernen verkaufspsychologischen Tricks sind hier bereits ausgerollt. Es ist ein unglaublich moderner Roman. Auch wenn die Passagen über die verschiedenen Stoffe, die in dem Paradies der Damen angeboten werden, schon ein wenig ermüdend zu lesen sind.

Die Lektüre dieses Romans ist ein Muss!

Roman über ein Gemälde von Carel Fabritius

Die Amerikanerin Donna Tartt hat auf mehr als 1000 Seiten in der deutschen Übersetzung den Roman „Der Distelfink“ geschrieben. Sie hat sich eine große Geschichte ausgedacht. Das Bild, das in einem New Yorker Museum im Rahmen einer Ausstellung holländischer Malerei gezeigt wird, gerät in die Hände des jungen Theodore Decker. Ein Bombenanschlag auf das Museum tötet seine Mutter und lässt ein Chaos ausbrechen, das Theodore nutzt, das Gemälde an sich zu bringen. Der Junge ist da 13 Jahre alt und die Geschichte erzählt uns der 27jährige Mann. In Rückblenden, nach vorn erzählt und wieder Rückblenden eingestreut. Das kann und will ich hier nicht nacherzählen. Was ich erzählen kann ist etwas anderes. Ich habe mich durch das Buch gequält. Zwischendurch las es sich leicht und rasch, dann kamen wieder Abschnitte, die sich einfach nur langsam durchleben ließen. Dann kommt der Schluss der Erzählung und dann kommt noch so etwas wie ein Kommentar. Ein Kommentar der Autorin, natürlich, auch wenn es unser Erzähler ist, der sich an den unbekannten Leser richtet. Da wird moralisiert und der hoch erhobene Zeigefinger winkt durch die Zeilen. Leser lebe, obwohl am Ende wir alle tot sein werden. Dieser Kommentar ist auch der Versuch, das Bild des Carel Fabritius zu erklären und in das Werk des jung verstorbenen Malers einzuordnen. Höchst überflüssig. Vielleicht drängte der Verlag, nun endlich zu Ende zu kommen. Und vielleicht hätte Frau Tartt noch zweihundert weitere Seiten benötigt.

Der Roman hat allerdings auch sehr starke Seiten, große Sätze:

„Wer war es noch, der gesagt hat, der Zufall sei nur Gottes Methode, anonym zu bleiben?“

„Waren wir als denkende Wesen denn nicht auf der Erde, um glücklich zu sein in der kurzen Zeit, die uns zugeteilt war?“

Ich kann die Lektüre nicht wirklich empfehlen, ich weiß nicht, ob ich damit nicht dem einen oder anderen das Lesen vermiesen könnte.

Dupin Nr. 3

Nun ist der dritte Kriminalroman mit dem Kommissar Dupin auf dem Markt. Bretonisches Gold heißt er und wieder ist es dem Autor Jean-Luc Bannalec gelungen, nein, nicht einen besonders spannenden Roman zu schreiben, sondern Lust auf die Bretagne zu machen.

Die Handlung ist banal. Man darf sie hier nicht einmal im Ansatz verraten, weil sonst schon die Spannung raus wäre. Dupin ermittelt dieses Mal mit einer Kollegin aus der Nachbarregion, das ist für den Einzelgänger ganz schön anstrengend, aber es gelingt ihm, sich als Mannschaftssportler zu erweisen. Wenn ich in diesem Jahre nicht noch eine große Asienreise vor mir hätte, wäre ich in die Bretagne gefahren, nächstes Jahr aber bestimmt!

Versandet

Nachdem ich den wundervollen Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf gelesen hatte, wollte ich auch den „Thriller“ Sand lesen. Gesagt, getan. Und ich bin maßlos verwirrt. Hatte der Autor ständig zu viel Koks im Blut? Was ist die Botschaft dieses Romans? Was ist der Zusammenhang zum Attentat bei den Olympischen Spielen zu München? Was soll der ganze Roman? Worum geht es eigentlich? Ich habe Fragen über Fragen und keine Antworten.

Genie oder Wahnsinn?

Eine Lektüre, die ich nicht empfehlen kann.

Der letzte Mist

Der Deutsche Buchpreis 2014 geht an Lutz Seiler für dessen „Wenderoman“ Kruso.

Die Geschichte spielt 1989 auf Hiddensee und erzählt – ja und hier stocke ich – wovon eigentlich? Aussteiger treffen sich dort, manche wohl beseelt von dem Gedanken über die Ostsee nach Dänemark zu entkommen, manche, so eine der beiden Hauptfiguren – man hätte ihn Robinson nennen können – nur mit dem Gedanken angereist, aus dem Alltag weg zu kommen, weil es seelische Schäden zu reparieren gilt. Wie jene unseres Ed, dessen Freundin einen tödlichen Straßenbahnunfall erlitten hatte. Wir werden Zeugen einer verschworenen Gasthofgemeinschaft, die zerfällt, als die Mauer bröckelt. Das Buch atmet dumpfe Homoerotik und schildert pubertären Sex zwischen Ed und verschiedenen gestrandeten Frauen. Das Buch hat so einen Tonfall, der ist einfach – sorry – ostig. Das ist trotz mancher gelungenen Schilderungen und gut beschriebenen Beobachtungen letzten Endes doch nur gequirlte Scheiße.

Die Lektüre dieses Buches ist reine Zeitverschwendung und die Ausgabe für das Buch rausgeworfenes Geld.

Stoner

Schön, dass es solche Bücher gibt. Ich hatte in der letzten Zeit schon gedacht, dass ich alle guten Romane dieser Welt bereits gelesen hätte und nun nur noch im besten Falle Durchschnittskost aufgetischt bekäme. Großer, guter Irrtum!

Dieser Roman erzählt ein Leben, das Leben des Lehrers für Anglistik William Stoner. Er kommt als Sohn eines Farmerehepaares auf die Welt. Darf studieren, wechselt sein Studienfach und wird Lehrer in genau der Universität. Er heiratet, bekommt eine Tochter, hat keine Basis mit seiner Frau und schreibt ein Buch. Bekommt Ärger mit einem Kollegen, hat eine Affäre mit einer Kollegin, verlässt aber nicht Tochter und Gattin, sondern lebt und lehrt weiter. Er bekommt Krebs und stirbt kurz nach seiner Pensionierung. Das ist ein unspektakuläres Leben; keine Heldensaga. Es wird von ihm nicht viel bleiben, so wie von den meisten Menschen. Das war schon immer so und das wird so bleiben, bis unsere Sonne erkalten wird.

Wir haben so viele Träume, wollen viel und am Ende sind wir glücklich, wenn das Leben nicht nur aus Mühsal bestand. Dieser Roman von John Williams macht uns das so unaufdringlich eindringlich klar, dass es einem Wunder gleichkommt. Denn dieser Roman fand erst viele Jahre nach dem Tod seines Autors Anerkennung. Gut, dass das Leben solche Geschichten kennt und schreibt, sie sind der Schmierstoff, der uns in Bewegung hält, uns nicht nachlassen lässt in unserer Bemühung, sich zu bemühen und etwas zu hinterlassen.

Dieser Roman gehört zu den ganz großen und ich bin sehr froh, dass ich ihn lesen durfte.

Der Glaspalast

Was nicht alles auf einen Klappentext gedruckt wird. Der Roman, der offensichtlich in allen großen deutschen Zeitungen rezensiert wurde, wird durch ein Zitat der FR wie folgt gefeiert: „opulentes, prächtiges und sprachmächtiges Buch“.

Die ZEIT preist den Autor als Meister seiner Sprache. Der SPIEGEL spricht vom Triumph der Geschichtsschreibung und Geschichtenerzählung.

Ich frage mich, haben sie es nicht ein wenig kleiner? Was soll ich von einem Schriftsteller halten, der jedes Auto mit genauer Angabe der Marke im Text vermerkt, Was soll die ellenlange Beschreibung der Gräuel des zweiten Weltkriegs, die es sicherlich auch in Fernost gegeben hat. Was für einen Charakter soll das Buch denn nun haben? Ich kann sagen, was es alles nicht ist. Die komplizierte Geschichte Birmas wird nicht hinreichend reflektiert. Am Ende des Buches dilettiert ein politischer Laie über Aung San Suu Ky. An anderer Stelle wird aus irgendwelchen Schulbüchern zitiert, nicht eigenständig erarbeitet. Der Autor ist Inder, also zieht man Inder als Opfer heran. Setzen sich Offiziere darüber auseinander, ob man bei dem Union Jack bleiben soll oder in die Indische Nationalarmee eintreten muss. Es ist keine Familiensaga, der Autor ist kein indischer Thomas Mann. Der Roman ist manchmal ein Bollywood Drehbuch, doch dann ist es ein C – Movie.

Was also ist dieser Roman? Ein höchst durchschnittliches Machwerk. Zwei Stellen am Ende waren eindrucksvoll: wirklich anrührend die Szene der ineinander verkeilten Prothesen zweier alter Menschen, die spät zueinander gefunden haben.

Und ganz anders die Szene vor dem Zensor in den Zeiten der Militärdiktatur in Birma. Er knüllt ein Manuskript zusammen und schlägt die Kugel mit einem Golfschläger durch das Zimmer. Das hätte der Verlag auch machen sollen, als der Roman zur Veröffentlichung eingereicht wurde.

Nun aber genug verrissen für heute! (Der Glaspalast von Amitav Ghosh)

Märzgefallene

Das ist der fünfte Roman von Volker Kutscher mit seinem Kommissar Rath. Märzgefallene heißt er und viel verrate ich nicht über den Roman. Man muss die Figur mögen und sich darauf einlassen, dass diese Romane nun in der Nazizeit spielen. Ja und vieles ist platt dargestellt. Damit auch jeder Leser weiß, ob das nun ein Nazi ist oder nicht, wird manchmal dick, zu dick aufgetragen. Aber wenn man das alles weglässt, bleibt eine spannende Geschichte und das war genau die richtige weihnachtliche Lektüre für mich. Aber das nächste Mal warte ich wieder auf die Taschenbuchausgabe, denn so spannend, dass man am Erscheinungstag das Buch in den Händen halten müsste, ist es nun auch wieder nicht.

Dinge, die verschwinden

Den kleinen Band, Dinge, die verschwinden, habe ich zu Weihnachten geschenkt bekommen. Kurze Geschichten, vielleicht als Kolumnentexte in einer Zeitung erschienen. Diese Geschichten handeln tatsächlich immer von Dingen, die abhandenkommen. Diese Texte sind sehr dicht und mit Witz geschrieben. Es sind kleine Kostbarkeiten, wie Pralinen. Man sollte von ihnen nicht zu viele auf einmal zu sich nehmen, sondern sie einzeln genießen. Denn es ist ein Genuss, diese Texte von der klug beobachtenden Autorin Jenny Erpenbeck zu lesen.

Erpenbeck zum zweiten

Heimsuchung“ nennt sich der Roman.

Es ist die Geschichte eines Sitzes für Sommerfrischler außerhalb Berlins. Der Roman, ich scheue mich, den Begriff zu benutzen, weil die Erzählung – was besser trifft, doch arg kurz ist. Konzise, treffsicher, aber kurz. Es ist indirekt auch die Geschichte der Familie Erpenbeck. Mehr als hundert Jahre Geschichte werden durchschritten. Schnell findet man sich zurecht. Im eigenen Gehirn legt man sich den Stammbaum zurecht, zwischendrin immer wieder der Gärtner, die gute Seele, die sich um alles – außerhalb der Saison – kümmert. Eine wundervolle Erzählung.

Sehr empfehlenswert.

Im Übrigen findet man dann eine Geschichte aus den Dingen, die verschwinden, wieder. Doch das ist in Ordnung. Wie gesagt, der Band mit den Kurztexten ist mit Sicherheit eine Zusammenfassung an anderer Stelle veröffentlichter Beiträge.

Alles ist lesenswert, alles lohnt!

Herkunft

Botho Strauß legt ein schmales Bändchen mit seinen Kindheitserinnerungen vor. „Herkunft“ beschreibt seine Jugendzeit, sein Heranwachsen in Bad Ems. Dorthin sind die Eltern nach dem Krieg gekommen, nachdem des Vaters pharmazeutische Fabrik in der DDR enteignet wurde. Das Bändchen ist eine liebevolle Annährung an die Eltern, vielleicht mehr an den Vater, als an die Mutter. Es ist die Beschreibung des Erwachsenwerdens in der jungen Bundesrepublik Deutschland. Es sind die Schilderungen vieler kleiner Details an die ich mich, zwar ein wenig jünger als der Autor, auch gut erinnern kann. Der erste Familienschallplattenspieler. Der Fernsehapparat und so viele Kleinigkeiten, die zur Herkunft gehören.

Noch so ein schönes lesenswertes Buch zum Anfang des Jahres 2015; so darf es weitergehen!

Pfaueninsel

Also, wenn das Jahr filmisch und literarisch so weiter geht, dann ist das phantastisch.

Meine letzte abgeschlossene Lektüre war jedenfalls ein Glücksfall. Der Roman von Thomas Hettche Pfaueninsel stand auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis, der ja bekanntlich dem Roman Kruso zuerkannt wurde. Für mich völlig unverständlich. Die Pfaueninsel hätte den Preis verdient. Hettche erzählt die Geschichte der Insel über fast ein Jahrhundert. Er knüpft die Geschichte an diejenige der zwergenwüchsigen Maria Dorothea Strakon. Sie kommt in ganz frühen Jahren mit ihrem Bruder auf die Insel, der König verleiht ihr den Titel eines Schlossfräuleins. Sie wird die Insel bis zu ihrem Tod nur ein einziges Mal noch verlassen. Der Roman ist ein Bilderbogen der Insel. Deren Gartengeschichte wird ebenso spannend geschildert, wie der sich ständig verändernde Charakter dieser Insel, die immer offensichtlich ein Sammelsurium von Kuriositäten sein sollte. Es ist ein zutiefst erotischer Roman, ein sprachliches Meisterwerk und überall dies, liest sich das Werk auch noch so leicht und angenehm, dass ich nur den Hut ziehen kann und mich tief vor der Erzählkunst des mir bis dahin unbekannten Autors verneigen kann.

Franz Ferdinand

Der Name ist geläufig, der Mann war der österreichische Thronfolger. Er wurde durch zwei Schüsse eines Schülers in Sarajevo im Jahre 1914 getötet, das war der Auslöser des ersten Weltkriegs. Das weiß man, aber wer der Mann war, was ihn umtrieb, das wusste ich nicht.

Der Roman „Der Thronfolger“ von Ludwig Winder hilft hier weiter. Dieser Roman wurde im Jahre 1937 veröffentlicht, nicht mehr in Deutschland, denn Winder war jüdischen Glaubens. Der Roman liest sich wie eine Biographie und vielleicht wäre es auch ehrlicher, nicht von Roman zu reden. Es gibt aber jede Menge Gedanken, die den Akteuren in die Köpfe gedichtet werden. Nun ja, Roman oder nicht, das ist zweitrangig. Was zählt ist, dass das Werk nicht mit dem Radetzkymarsch zu vergleichen ist. Also bitte, nicht zu hoch hängen.

Ein Jugendbuch

Zu Weihnachten bekam ich von meiner Frau ein Kinder- und Jugendbuch geschenkt. Die Bücherdiebin von Markus Zusak.

Ein Buch über Deutschlands dunkelste Zeit. Ein Buch über ein Mädchen, das zu Pflegeeltern kommt und dort die Hitlerzeit durchlebt. Den Krieg mit seinen schrecklichen Geschehnissen. Der Autor des Buches ist der Tod. Und er fährt reichlich Ernte ein. Auch unter denjenigen, die uns während der Lektüre ans Herz wachsen. Ein Jude wird von den Pflegeeltern versteckt. Ein ganz großes Gemälde entsteht vor unseren Augen. Aber es ist nicht so packend, wie beispielsweise der Roman von Judith Kerr „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Mir ist es zu glatt, zu sehr creative writing, zu wenig Literatur.

Ein Urlaubstagebuch

„Nun kann ich nur noch um Verzeihung bitten, so über mich gesprochen zu haben. Ich hatte dieses Tagebuch der Träumereien für mich allein geschrieben, oder vielmehr meine frei schwebende Einsamkeit dazu genutzt, die flüchtigen Gedanken festzuhalten, die wie die Vögel durch unseren Geist ziehen.

Man bittet mich, sie zu veröffentlichen, diese unzusammenhängenden, unfertigen, kunstlosen Seiten, die willkürlich aufeinanderfolgen und planlos plötzlich abbrechen, weil ein Windstoß meiner Reise ein Ende gesetzt hat.

Ich füge mich diesem Wunsch. Vielleicht zu Unrecht.“

Das ist der letzte Absatz eines kleinen Bandes von Guy de Maupassant „Auf See“ betitelt. Und gut, dass er es damals veröffentlicht hat. Eine Segeltour von Antibes nach Saint-Tropez. Und der Dichter lässt seine Gedanken schweifen. Es geht um Gott und die Welt. Es kommen Sätze dabei raus, die Anspruch auf Ewigkeit haben.

„Glücklich, wem das Leben genügt, wer seinen Spaß hat, wer zufrieden ist.“

„Der ganze Fortschritt unserer gedanklichen Anstrengung besteht in der Feststellung materieller Tatsachen mithilfe lächerlich unvollkommener Werkzeuge, die immerhin die Unfähigkeit unserer Organe ein wenig ausgleichen.“

„Mangels Besserem, tut Denken gut, wenn man alleine lebt.“

„Die Mittelmäßigkeit des Universums erstaunt und empört mich, die Erbärmlichkeit aller Dinge erfüllt mit Abscheu, die Armseligkeit der Menschenwesen vernichtet mich.“

„Ach! Ich habe alles begehrt, ohne etwas zu genießen.“

„Die allgemeine Dummheit ist so ansteckend.“

Er schreibt über den Krieg, über das Büroleben. Über Aphorismen berühmter Menschen, egal ob denen angedichtet oder tatsächlich von denen getätigt.

Auf See ist der Beweis, dass Maupassant zu den ganz großen Schriftstellern dieser Welt gehört. Ich kann mich nur in Ehrfurcht verneigen! Und allen raten, dieses Reisejournal zu lesen.

Ein Jugendstilmaler und ein Dichter

Ein Roman von Klaus Modick stellt ein Hauptwerk des Malerchefs der Künstlergemeinde Worpswede, Heinrich Vogeler, in den Mittelpunkt seines Romans.

Es ist das Gemälde „Das Konzert (Sommerabend)“, entstanden 1905! Da musizieren drei Männer auf der rechten Seite des Gemäldes. Auf der linken Seite des Bildes sitzen drei Frauen und ein Mann steht im Hintergrund. Keine der vier Personen schaut die musizierenden Männer an und ich habe den Eindruck keiner von ihnen hört zu. In der Mitte des Bildes steht eine Frau an der Gartenpforte und schaut in die Ferne, als warte sie auf jemanden. Ein Hund liegt auf der Treppe vor der Gartenpforte. Er hat seinen Kopf leicht angehoben und schaut in die gleiche Richtung. Kommt da gerade jemand? Die Stimmung an diesem Sommerabend ist gedrückt, das kann nicht von der Melodie ausgehen, die von den drei Männern intoniert wird. Das muss andere Ursachen haben. Die drei Frauen sitzen auf zwei Bänken, ein Platz ist frei. Vielleicht kommt derjenige, der diesen Platz einnehmen soll gerade an oder man wartet vergebens auf ihn. Modick gibt seinem Roman den Titel „Konzert ohne Dichter“.

Nun sind wir in der Geschichte der Künstlergemeinde Worpswede. Da gab es eine Zeitlang den Dichter Rilke. Er schwankte zwischen zwei Damen, er heiratete die eine, die andere nahm den Maler Modersohn. Rainer Maria Rilke wird als Egomane dargestellt. Es ist eine Fiktion, die aber so schön wahr sein könnte, dass der Lesende in ihr aufgeht und mittendrin in der Geschichte ist. Vogeler bekommt für das beschriebene Gemälde die Goldmedaille des Herzogs von Oldenburg. Er befindet sich auf dem Wege nach Oldenburg und erinnert sich an Rilke, der nicht mehr in Worpswede lebt.

Eine große Erzählung. Große Literatur.

Wahlverwandtschaften Nr. 2

Wenn ich spontan einen Lieblingsschriftsteller nennen sollte, der noch lebt und schreibt, dann würde ich vielleicht ein wenig zögern und dann aber mit fester Stimme Uwe Timm nennen.

Nun habe ich die Lektüre seines Romans „Vogelweide“ gelesen und bin noch mehr von meiner Wahl überzeugt. Er erzählt die Geschichte zweier Paare und es kommt, was Goethe schon in seiner Erzählung „Wahlverwandtschaften“ so trefflich beschrieben hatte. Der Mann des einen Paares und die Frau des anderen verlieben sich in einander. Jetzt ist die Geschichte schon vorbei und der Mann, nach einer Insolvenz nicht mehr in seinem Beruf tätig, arbeitet auf der Insel Scharhörn als Vogelwart und bereitet sich auf den Besuch der Frau vor.

Sie hat sich angekündigt will mit ihm reden. In vielen Rückblenden breitet Timm die Geschichte vor uns aus. Die verschiedenen Ebenen erkennt der Leser mühelos. Es ist eine wunderbare Komposition, eine faszinierende Geschichte. Über die große Liebe, über die großen Enttäuschungen, über Wahrheit und Lüge. Über die großen Fragen dieses Lebens, an dem wir hängen, egal ob es uns übel mitspielt oder uns wohlgesonnen ist. Es ist die Darstellung von bestimmten Momenten, die wir vielleicht so oder ähnlich schon durchlebt haben. Es sind Sätze wie der folgende, der beschreibt, dass man seiner Geliebten zum ersten Mal sagt, man liebe sie: „sagte er, was am schwierigsten zu sagen ist, kaum aussprechbar, diese einfachen, missbrauchten Worte.“

Und es sind die großen Sätze mit Wahrheiten, die wie eine Eiche auf der Wiese stehen.

„Das Empfinden für das eigene Ungenügen ist die Voraussetzung, dem Peinlichen zu entgehen.“

„Der ganze Kosmos ist doch eine Reparaturwerkstatt“.

„Lieben heißt, den anderen überbewerten.“

Bitte lest diesen Roman. Man findet nicht viel, was in unserer Gegenwartsliteratur an ihn heranreicht!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Ein ganzes Leben

Wie in Williams Roman Stoner beschreibt auch Robert Seethaler „Ein ganzes Leben“.

Hier ist es nicht das Leben eines Anglistik Professors, sondern das Leben eines ganz einfachen Mannes. Egger ist Gelegenheitsarbeiter, er hilft, Seilbahnen zu bauen, später verdient er sich sein Geld als Bergführer. Zwischendrin ist er im Krieg. Eine große Liebe wird er am Ende seines Lebens gezählt haben und lakonisch bilanziert der Autor: „Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen, und er war den Verlockungen der Welt, der Sauferei, der Hurerei und der Völlerei, nie verfallen. Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. Er hatte gesehen, wie ein paar Männer auf dem Mond herumspazierten. Er war nie in Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“

Lakonisch war das Stichwort. Knapper kann man ein Leben nicht beschreiben.

Ein kleiner, ganz großer Roman!

Ein außergewöhnlich guter Krimi

Ich kannte den Autor Jan Weiler bislang nicht. Nun habe ich einen Kriminalroman von ihm gelesen. Und ich sage es gleich, dieser hat mich beeindruckt.

Kühn hat zu tun“. Das ist die Geschichte, die den Kommissar Kühn selbst sehr persönlich betrifft. Obwohl, am Anfang denkt man in eine andere Richtung, weil ein fulminanter Prolog uns in die letzten Tage des Nazireichs zurück versetzt. Dann lernen wir den Kommissar kennen, seine Frau, sein Kinder und vor allem seine Sorgen. Schnell löst er einen Fall und schon hat er einen neuen Fall wortwörtlich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Natürlich verrate ich hier nicht mehr, obwohl uns der Autor ziemlich früh, den Täter präsentiert. Doch dann geht das Drama erst so richtig los. Und ich denke, dass er eine Fortsetzung plant. Denn am Ende der Geschichte tut sich dramatisches. Und das steht möglicherweise mit der Geschichte im Prolog in engem Zusammenhang.

Na, neugierig geworden? Dann hilft nur eines: lesen!

Ein Flaneursbericht

Der Autor heißt Helmut Kuhn und ist im Hauptberuf Journalist. Er schreibt und das wird in dem Roman „Gehwegschäden“ deutlich offensichtlich gerne kurze Beiträge, man könnte auch sagen Blogs. Er wohnt in Berlin, er liebt den Prenzlauer Berg und er hat versucht, einen modernen Franz Bieberkopf in einen Roman zu packen.

Der Schachboxer, der Flaneur und Gelegenheitsjournalist Thomas Frantz schwappt durch die Geschichte. Ja, es ist eine Sammlung von Geschichten; schönen Geschichten. So lernt der Leser Pecha Kucha kennen. Er erfährt die Hintergründe der Aktion am Rosenthaler Platz, als dort Farbe auf den Asphalt gebracht wurde. Ach ja, und die Typen, die in diesem Roman auftauchen, kann man nicht erfinden, die muss man in ehrlicher Trinkerarbeit kennengelernt haben. Das ist ein verrückter und doch gut lesbarer Roman. Es ist auch nicht schlimm, wenn man manche Seiten nur schräg durchliest. Es ist ein zeitgenössischer Roman im besten und wahrsten Sinne des Wortes.

Man darf diesen Roman lesen, muss ihn aber nicht unbedingt gelesen haben.

Noch ein nicht so lesenswertes Buch

Ich hatte vor längerer Zeit zwei Romane von Dan Brown erworben. Nun las ich Illuminati. Ein guter Plot, aber dann doch ein wenig zu konstruiert. Am Ende war ich glücklich, dass der Roman zu Ende war. Ich kann die Lektüre nicht erklären. Ich hoffe meine Antimaterie wird sich an mir nicht eines Tages rächen.

Brunetti Nr 23

Ach, was für eine Lektüre. Äußerst ermüdend. Ein junger, zurückgebliebener Mann futtert eine Überdosis Tabletten und stirbt. Die Pillen waren so schön bunt. Aber wie kommt es dazu, warum bleibt ein junger Mann so zurück? Warum finden sich so gar keine Spuren von dem früheren Leben des Mannes, warum sagt die Mutter nichts? Parallel dazu das „Brunetti Universum“, die gebildeten Kinder, die kluge Frau; trautes Heim, Glück allein. Am Ende klärt sich natürlich alles auf und nur die letzten Seiten dieses Romans haben mir gefallen. Nett zusammengebunden und vor allem dem Schluss der Geschichte dann endlich vor Augen. The Golden Egg von Donna Leon; ein weiterer matter Krimi aus der Lagunenstadt.

Für mich eine Neuentdeckung

Im Laufe der Zeit, die ich nun schon lesend zubringe, habe ich einige verschiedene Verhaltensmuster entwickelt. Nehmen wir an, das Buch ist langweilig, dann kann es sein, dass ich es weglege, zumindest aber fällt mir die Lektüre schwer. Häufig döse ich über ein Kapitel ein oder muss mich zwingen, wenigstens dieses eine Kapitel noch zu lesen. Dann gibt es die Bücher, die ich am liebsten in einem Zug lesen möchte. Ich muss mich dann eher zwingen, das Buch aus der Hand zu legen und von Müdigkeit kann schon gar keine Rede sein.

Nun habe ich eine neue Erfahrung gemacht: Ich habe das Lesen herausgezögert, aber nicht, weil das Buch so langweilig gewesen wäre, sondern im Gegenteil wollte ich länger an der Lektüre festhalten. Eine wundervolle Erfahrung.

Der Roman, dem ich dieses Erlebnis zu verdanken habe, heißt „Wiedersehen mit Brideshead“ von Evelyn Waugh.

Ich gestehe, dass der Autor eine Neuentdeckung für mich war. Ich bin schlicht begeistert. Was las ich denn da nun eigentlich?

Im Prolog kommt ein Offizier im Verlaufe des zweiten Weltkriegs mit seiner Truppe zu einem Herrenhaus, das er kennt und diese Kenntnis bringt er uns im Laufe des Romans näher. Im Epilog kehren wir zu dieser Geschichte zurück und schließen sie ab. Dazwischen liegen knapp 500 Seiten einer dichten und aufregenden Geschichte. Sie handelt von der Freundschaft, der Liebe und dem Glauben. Sie ist gespickt mit wundervollen Typen, die einem im Laufe der Geschichte immer näherkommen. Waugh komponiert eine große Partitur. Keine Figur wird irgendwie vergessen. Der Roman ist erotisch, auch homoerotisch, er ist eine Auseinandersetzung über einen gelebten Katholizismus im anglikanischen England und er ist vor allem auch ein großer Roman über tiefe Gefühle, über das auf und ab des Lebens. Es ist ein Roman, der eine Zeit, die nicht mehr ist, zu erhalten versucht, vergeblich natürlich. Es gibt wunderschöne Metaphern und präzise gezeichnete Figuren. Es ist ein großes Werk, ich habe schon längere Zeit nichts Vergleichbares mehr gelesen. Jetzt musste ich dann doch die letzten Seiten lesen, aber ich glaube, dies ist ein Roman, den ich wieder in die Hand nehmen werde; auch das wäre dann fast eine neue Erfahrung.

Anne Elliot

Es gibt noch einen Roman, den ich von Jane Austen nicht gelesen habe: Anne Elliot im Original „Persuasion“. Ich habe immer versucht, diesen Titel mit dem Inhalt des Romans zusammenzubringen. Ich habe die Überredung nicht so richtig finden können. Anne ist die mittlere Tochter eines finanziell auf dem Zahnfleisch gehenden Adligen, der sein Gut vermieten muss. Der Gockel zieht nach Bath, um mit seiner ältesten Tochter weiter ein Leben auf zu großem Fuß führen zu können. Die jüngste Tochter ist bereits verheiratet, eine verzogene Person, die Annes Gutmütigkeit immer wieder ausnutzt. Anne droht als alte Jungfer zu enden. Wären da nicht der Erbe des Gutsherrn und ihr ehemaliger Verlobter. Dann kommen die üblichen wundervollen Verknüpfungen der Jane Austen zur Geltung und am Ende gibt es glückliche Menschen. Aber mehr verrate ich nicht.

Nette Lektüre

Der Roman „Risiko“ von Steffen Kopetzky spielt im ersten Weltkrieg.

Er beschreibt eine geheime Mission einer Schar seiner Majestät Wilhelm II. Er verknüpft geschickt Realität und Fiktion. Eine solche Mission hat es wohl wirklich gegeben, sie hat aber den Ausgang des Krieges nicht verändert. Im Roman schon, da gibt es eine auf der Führerschaft Frankreichs und Deutschlands gegründeten Europäischen Union mit einer Euro-ähnlichen Währung. Aber das ist nur der Rest des Romans, der Thriller, Abenteuer- und Liebesroman zugleich ist. Kopetzky verbindet historisches Personal mit fiktiven Menschen. Mehr als 700 Seiten muss man durchlesen, aber immerhin wird ja auch eine Tour von einer Länge von 5000 km beschrieben. Der Titel spielt übrigens auf das Spiel an, jedenfalls unsere heutige Fassung des Spiels. Den Inhalt weiter aufdröseln möchte ich nicht. Dafür ist der Roman nicht bedeutsam genug. Es war eine angenehme, eine nette Lektüre. Mehr nicht.

Erste Begegnung mit einem Krimi von Schorlau

Die blaue Liste ist der erste Krimi des Wolfgang Schorlau, in dem sein Detektiv Dengler auftaucht. Ein Krimi, nahe an der Wirklichkeit des Todes des ersten Präsidenten der Treuhand, Detlev Rohwedder, konstruiert. Eine Fiktion, aber sehr spannend und sehr einfühlsam beschrieben. Ein toller Einstieg und natürlich werde ich weitere Dengler Geschichten lesen. Eine Erweiterung meines Krimihorizonts.

Siegfried Lenz von meinem Sohn Felix entdeckt

Der Roman „Arnes Nachlass“ ist eine dieser wundervollen Geschichten von Siegfried Lenz.

Eine der Geschichten, die mein Sohn entdeckt hat und seinem Vater zu lesen empfahl. Ich bin von der Geschichte und mehr noch von der Art des Schreibstils beeindruckt. Die Geschichte eines Jungen, der zu früh stirbt, eine Geschichte einer Freundschaft, eine schöne Geschichte.

Überflüssige Lektüre

Auf Grund eines Missverständnisses Habe ich einen Kriminalroman von Jan Faber erworben. Das ist ein Pseudonym und der Autor soll im wahren Leben als Berater für Politiker und Wirtschaftsbosse unterwegs sein. Wäre er dabei geblieben. Sein Buch „Kalte Macht“ rankt sich um eine Verschwörungstheorie, die mit einem RAF-Mord an dem Bankier Jürgen Ponto zu tun hat. Ich will nichts weitererzählen. Der Roman ist wenig spannend, der Plot ziemlich oberflächlich. Schnell vergessen!

Eine ganz schmale Lektüre

Da liegt ein Bändchen mit etwas mehr als 100 Seiten vor mir. Die Geschichte ohne Punkt und Komma in einem schweizerischen Deutsch, am Ende findet man in einem Glossar die Übersetzung der speziellen Worte. So bedeutet pflotschen durch den Matsch stapfen und das Beschüttloch ist die Jauchegrube. Die Geschichte fängt harmlos an.

Der Gemeindediener eines Dorfes holt einen alten Mann von seinem einsamen Hof ab und bringt ihn in die Stadt. Der alte Mann ist verwirrt, spricht von einer bevorstehenden Marsreise, es liegt massig Geld in dem heruntergekommenen Haus rum. Der Mann soll der Fürsorge zugeführt werden, er wird verdächtigt, seine Frau umgebracht zu haben. Dann eskaliert das Geschehen, schließlich fliegt der ganze Hof in die Luft und sieben junge Leute und ein Haufen Waffen gehen dabei drauf. Eine anstrengende Geschichte, ein interessanter Autor: Michael Fehr, der Romantitel „Simileberg“.

Unser Haus

Wieder ein Beispiel für die Kunst der Kritik, einen Roman so arg zu loben, dass man nicht daran vorbeikommt, den Roman zu kaufen und zu lesen.

Was stellt man im Falle der Lektüre von „Auerhaus“ von Bov Bjerg fest? Es behandelt die Zeit der Bundesrepublik in den Zeiten des Terrorismus oder ein wenig später. Die Rebellion der Jugendlichen, die einen Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz absägen. Einige ziehen in das alte Haus der Großeltern des einen Jungen. Sie nennen es nach dem Song von Madness „Our house“ und damit es die Dorfbewohner auch verstehen deutschen sie es ein.

Der Junge, dessen Großeltern das Haus einst besaßen, heißt Frieder und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Der Erzähler hat sich zur Aufgabe gemacht, Frieder von einem neuen Versuch abzuhalten. Das Buch liest sich leicht, es ist witzig und für Leute meines Alters, die das alles erlebt haben, diese Zeit in der alten Bundesrepublik Deutschland, auch eine Reise in die Vergangenheit. Es ist ein schöner Roman, eine lesenswerte Lektüre; aber es ist nicht das literarische Erlebnis schlechthin. Nein, das ist es nicht.

Prickelnde Lektüre

Der Autor heißt Jörg Juretzka und schreibt Kriminalromane. Der erste Band, der erste Fall des Ruhrgebietdetektivs Kristof Kryszinski heißt „Prickel

 Der Roman ist gut komponiert, er ist schlüssig geschrieben und wundervoll ironisch. Ich bedauere es sehr, dass ich jetzt erst von der Existenz dieses Autors Kenntnis erhalten habe. Aber besser spät als nie. Und übrigens ist der Roman sehr prickelnd!

Ein großer Roman

Der erste Weltkrieg ist beinahe vorbei. Ein ehrgeiziger Offizier will noch einen kleinen Geländegewinn erzielen, das gelingt ihm. Auf Kosten zweier Soldaten, deren Tod er den Deutschen in die Schuhe schiebt, obwohl er sie selbst hinterrücks umgebracht hatte. Dieser Mord bleibt dem Soldaten Maillard nicht verborgen, er wird von dem Leutnant in einen Granatentrichter gestoßen. Ein Granateneinschlag in seiner Nähe verschüttet ihn und er wäre jämmerlich erstickt, hätte nicht ein Kamerad ihn gerettet. Der wird aber wiederum so schwer verletzt, dass von seinem Gesicht nicht viel übrigbleibt.

Nun könnte man denken, dass dieser Roman ein weiterer Kriegsroman ist. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr geht es um die Zeit nach dem Friedensschluss. Es geht um abgrundtief obszöne Geschäfte mit den armen Opfern. Der Leutnant, der nach dem Geländegewinn zum Hauptmann befördert worden war, betrügt im großen Stil den Staat, weil er offiziell die Toten zu den Heimatfriedhöfen umbetten soll. Er macht daraus ein großes Geschäft. Maillard und sein Retter kommen auf die Idee, Kriegsdenkmäler den Gemeinden anzubieten. Natürlich ohne die Absicht, diese jemals Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist aber natürlich nicht die ganze Geschichte. Sie ist viel enger konstruiert. Es ist auch die Geschichte einer Freundschaft; es ist auch die Geschichte einer Ehe, die nur dem Zweck der Nachwuchszeugung dient. Es ist die Geschichte des Falls eines verarmten Adligen, der ins Nichts gerät. Es ist die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung und vor allem ist es die Geschichte über einen unfähigen Staat, denjenigen, die im Krieg waren, eine Friedensperspektive zu eröffnen.

Der Roman ist ein unglaubliches Lesevergnügen.

Pierre Lemaitre ist ein großer Schriftsteller. Ihm gelingt es, mit wenigen Sätzen eine Szene aufzubauen, wie es Malern gelingt, mit wenigen Strichen eine Welt zu erschaffen. Hier einige Beispiele:

„Während sein Erfolg ganz auf seinem eigenen Können beruhte, war man in der Politik von unsicheren, zum Teil vollkommen unwägbaren Faktoren wie Wahlen abhängig, was ihn abstieß. Außerdem hatte er überhaupt keine politische Ader. Dafür brauchte man in erster Linie den entsprechenden Geltungsdrang.“

„Man denkt immer, Leute mit Macht seien groß gewachsen, und dann ist man überrascht, wenn sie ganz normal aussehen.“

„Es gibt noch so viel zu sagen. Die beiden Männer aber schweigen, jeder in seiner Welt.“

„Ich komme gleich wieder, sagte er noch, als ob diese zusätzliche Erklärung nötig gewesen wäre. Wie bei einem alten Ehepaar, man sagt sich Dinge, so ganz aus Gewohnheit, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie es wäre, wenn man einander wirklich zuhören würde.“

Das sind Sätze, die diesen Roman zu einem ganz großen macht!

Der Roman heißt „Wir sehen uns dort oben“.

Ein interessantes Debut

Der Autor Dietrich Faber hat einen Krimi geschrieben, der im Vogelsbergkreis spielt. Sein Kommissar heißt Bröhmann. Und der Autor beschreibt die Probleme eines uninspirierten Polizisten, dessen Privatleben gerade explodiert, der mit seiner pubertierenden Tochter und dem in die Vorschule gehenden Sohn nicht klarkommt. Da gibt es wundervolle Szenen, die im Elternladen spielen. Da gibt es natürlich auch einen Mordfall und die dilettantischen Aufklärungsversuche des Kommissars und seiner Mannschaft und am Ende gibt es eine überraschende Lösung und die Lektüre hat viel Spaß gemacht und war nie langweilig. Eine schöne Kurzweil!

Der Roman heißt „Toter geht’s nicht“.

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