Gelesen und mich für zu blöd befunden.

Frank Witzel hat für seinen Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“ den Deutschen Buchpreis 2015 erhalten. Ich habe diesen rund 800 Seiten starken Roman zu lesen versucht und bin gescheitert. Rund einhundert Seiten habe ich mir gegeben, in das Werk einzudringen, einen roten Faden zu sehen und mich an diesem dann lang zu hangeln. Doch ich bin gescheitert. Es gab den Faden nicht, es gibt keinen konsistenten Erzählstrang. Der Roman springt in seinen Zeitebenen munter hin und her. Mir war teilweise nicht einmal klar, wer da jetzt gerade erzählt oder wer gerade im Mittelpunkt der Betrachtungen steht. Es gab auf diesen hundert Seiten viele geniale Sätze, es gab Reminiszenzen an eine längst vergangene Zeit, die aber auch meine Jugend war; an Produkte und Werbung der Zeit. Es ist ein Stück meiner alten Bundesrepublik vor meinem Auge entstanden, aber das trägt nicht, wenn Du ansonsten im Ozean umhergetrieben wirst. Grandios seine Geschichte von Pontius Pilatus; aber das alles hilft mir nicht darüber hinweg, dass ich mit diesem Buch nicht klarkomme.

Ich habe noch weitere zweihundertfünfzig Seiten des Romans von Frank Witzel gelesen. Ich lege das Werk nun endgültig zur Seite. Es ist mir nicht möglich, diesen Roman zu beenden. Nein, es ist unmöglich. Und ich bezweifle, dass viele Menschen diesen Roman je von der ersten bis zur letzten Seite lesen werden. Ich bin auch überzeugt davon, dass viele der Kritiker, die dieses Buch bejubelt haben, es nicht gelesen haben. Das grenzt nämlich an Masochismus. Und wer will schon Masochist sein.

Schweigen in Bruchsal

Der zweite Fall des Privatermittlers Dengler liest sich von ganz allein. Die Geschichte ist mir zu konstruiert. Wenn man davon mal absieht, handelt es sich um eine nette Unterhaltung. Man liest die kurzen Kapitel weg und eh man sich versieht, ist man hundert Seiten weiter. Wolfgang Schorlau dessen zweiter Dengler Roman „Das dunkle Schweigen“ heißt, verbindet ein Kapitalverbrechen in den letzten Tagen der Naziherrschaft mit dem Schweigen der alten Menschen in unserer Zeit, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen. Er verbindet die Liebe des Autors für Jazz mit der Geschichte und letztendlich ist es auch noch ein zarter Liebesroman.

Ruhrpott Krimi

Ich habe jetzt nach der abgebrochenen Lektüre des mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans von Frank Witzel zum zweiten Abenteuer des Ruhrpott Detektivs Kristof Kryszinski gegriffen und bin von dem Autor Jörg Juretzka wiederum sehr begeistert. Der Mann hat Witz und versteht es, mit Wörtern zu spielen.

Zum Inhalt nur so viel: Detektiv soll eine Halbweltgröße finden und dafür Geld erhalten. Geld kommt in der Welt unseres Detektivs nur in der Erinnerung und in Büchern vor. Er findet den Mann und am nächsten Morgen liegt der dann tot in der Unterkunft unseres Detektivs. Die Polizei hat ihren Täter, muss den aber doch wieder auf freien Fuß setzen, weil es zu viele Zweifel darangibt, dass Kryszinski der wahre Täter ist. Der muss nun aber schleunigst gefunden werden und das alles in einem Wettkampf mit einer anderen Kiezgröße, der unserem wackeren Helden an den Kragen will. Nun, mehr wird nicht verraten, außer dass ich mich schon auf die Lektüre des dritten Romans mit dem Mann freue (liegt bei mir schon auf dem Stapel der noch nicht gelesenen Bücher!) Der zweite Roman heißt „Sense“!

Biodiversität

Der schmale Band mit Gesprächen der beiden Italiener Stefano Mancuso und Carlo Petrini hat mir die Welt der Pflanzen nähergebracht, die Antipoden auf dieser Welt zu den Tieren. Petrini ist der Gründer von Slow Food, der Vereinigung, der ich jetzt auch schon einige Jahre angehöre und deren Kraft zur Veränderung unserer Gesellschaft ich noch nicht genau einschätzen kann.

Und natürlich spricht man mir aus der Seele, wenn schlicht festgestellt wird: „Die heutige Agrar- und Nahrungsmittelindustrie ist das Ergebnis unserer Wachstumsmodelle.“

Ich wusste nicht, dass heute fünfundneunzig Prozent des weltweiten Kalorienbedarfs von nur ungefähr dreißig Pflanzenarten gedeckt werden. Die biologische Vielfalt der Pflanzen, von denen wir uns ernähren, nimmt ständig ab. Es bedeutet für uns Menschen, dass wir uns unnötigen Gefahren aussetzen, wenn diese Pflanzensorten von Krankheiten befallen werden und uns nicht mehr im ausreichenden Maße zur Verfügung stünden.

Bemühte Literatur

Also da wurde dieser Roman ganz hoch gelobt und schon als Favorit für den Deutschen Buchpreis gehandelt und dann lese ich den auch noch. Lesen, las, gelesen. Nein das war nicht der Roman zum Flüchtlingsproblem, nein das war gar nichts. Da kommt eine Autorin nicht mit ihrer Vergangenheit klar, da wird immer noch das alte DDR-Lied gesungen, zwar leise, aber unüberhörbar. Der See, an dem Frau Erpenbeck aufwuchs, fehlt ebenso wenig, wie dieses unerträglich spießige Pseudointellektuellenmilieu. Der Protagonist ist emeritierter Hochschullehrer, Altphilologe und interessiert sich für die farbigen Besetzer auf dem Oranienplatz.

Diese Geschichte ist konstruiert, hat keine Spannung, plätschert so vor sich hin und verrinnt dann in einer überzogenen Idylle. Jenny Erpenbeck hat sich mit diesem Roman „Gehen, ging, gegangen“ keinen Gefallen getan.

Buch mit X

In einer Tageszeitung gab es eine Besprechung zu dem kleinen Band „Rückvergütung“ des in der Schweiz lebenden Schriftstellers Jürgen Theobaldy. Es sei ein Krimi der besonderen Art.

Die Handlung ist schnell erzählt. Ein Angestellter fängt unterhalb der Geschäftsleitung eines Krankenversicherungskonzerns zu arbeiten an. Schnell wird ihm klar, dass der Konzern eine Reihe nicht existenter, aber hochbetagter und daher besonders versicherungsanfälliger Versicherter besitzt, die nur zu einem Zweck in der Kartei geführt werden: Geld, das aus der Solidarkasse stammt und als Rückvergütung für die Risikoversicherten der Krankenversicherung zufließt, auf die Konten der Geschäftsleitung und bald auch unseres Angestellten zu lenken. Der Mann wird von der Frau des Chefs verführt, der Schwindel fliegt auf und der Mann steht am Ende ohne Job, von Frau und kleinem Kind verlassen im Gefängnis da und träumt sich die Zukunft zurecht.

Das ist fade erzählt, enthält keine Spannung und der einzige Vorteil ist, dass das Bändchen bald ausgelesen ist. Sagen sie einen Satz mit X, das war wohl nix. Und hier ist es gleich ein ganzes, glücklicherweise schmales Buch.

Preußen

Der britische Historiker Christopher Clark hatte vor einigen Jahren eine Geschichte eines nicht mehr existierenden Landes vorgelegt: „Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947“. Ich hatte das Buch erworben, es zu lesen begonnen und dann zur Seite gelegt, es wieder in die Hand genommen, beiseite gepackt und so weiter. Nun wollte ich es endlich beenden. Das ist mir gelungen und nicht schwergefallen. Das hat mehrere Gründe. Erstens ist das Buch gar nicht trocken, es ist gut geschrieben, ebenso gut übersetzt und die Kapitel nehmen den Leser sehr schnell mit in die Geschichte. Zweitens ist es mit einer gewissen Distanz verfasst, was zweifellos an der Herkunft des Autors liegt. Ein Bayer oder ein Berliner hätte mehr Mühe, eine solche Distanz zu wahren. Drittens fiel mir immer wieder auf, wie wichtig doch das Studium der Geschichte für die heute Lebenden ist. Man kann Parallelen ziehen zu den Ereignissen im Hier und Jetzt. Also, es lohnt sich, dieses Buch zu lesen!

Das Werk enthält jede Menge kluger Sentenzen und einige will ich hier gern zu meinem eigenen Verständnis wiederholen:

„Das Opernhaus [in Berlin] war damit das erste Gebäude seiner Art nördlich der Alpen, das nicht räumlich an einen Königspalast angrenzt. Auch die Königliche Bibliothek war, höchst ungewöhnlich für die Zeit, ein freistehendes Gebäude. Das Forum war, anders ausgedrückt, ein Residenzplatz ohne Residenz, wodurch es sich, wie Besuchern der Stadt keineswegs entging, von praktisch jedem anderen europäischen Schlossplatz unterschied.“

„Während der Diskussion nach einer Lesung oder einem Vortrag sollten sich die Mitglieder [deutscher Gesellschaften] willkürlicher und unüberlegter Bemerkungen enthalten. Kritische Kommentare sollten sich strukturiert mit dem Stil, der Methode und dem Inhalt der Lesung auseinandersetzen. Sie sollten, wie Kant sagte ‚die behutsame Sprache der Vernunft‘ sprechen. Ausschweifungen und Unterbrechungen waren strikt untersagt. Allen Mitgliedern wurde das Recht zugestanden, ihre Meinung zu äußern, doch sie mussten abwarten, bis sie an die Reihe kamen, und sie mussten sich so knapp wie möglich fassen. Satirische oder spöttische Bemerkungen und zweideutige Wortspielereien wurden nicht geduldet.“

„Alle Religionen sind gleich {ich habe das an unsere heutige Sprache angepasst} und gut, sofern nur die Leute, die sie ausüben, ehrlich sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, so wollen wir für sie Moscheen und Kirchen bauen.“ (Kronprinz Friedrich 1740).

„Die juristischen Mittel gegen Majestätsbeleidigung wie Konfiszierung der Ausgaben oder Strafverfolgung und Verhaftung der Autoren und Herausgeber wurden weidlich ausgeschöpft, doch sie erwiesen sich als kontraproduktiv, weil sie in der Regel die Auflagenzahlen in die Höhe trieben und die verfolgten Journalisten zu nationalen Berühmtheiten machten.“

„Der Kaiser [Wilhelm II.] hatte – wie viele moderne Berühmtheiten – zwar gelernt, die Medien zu hofieren, aber nicht, sie zu kontrollieren.“

Aufsätze von Goldt

Mein Sohn Felix hatte mir zum letzten Weihnachtsfest Texte von Max Goldt „Für Nächte am offenen Fenster“ geschenkt. Er hält diese Texte, die Sprache und die Beobachtungsgabe des Autors für überragend.

Ich gebe zu, am Anfang der Lektüre gefremdelt zu haben, aber mit der Zeit konnte ich vielen Buchbeiträgen sehr viel abgewinnen. Und ich habe mich darüber gefreut, dass jemand über das Verschwinden der Dinge nachdenkt, über die Schwierigkeiten des Hemdenbügelns endlich einmal profund berichtet, mir unbekannte Sprichworte näherbringt, wie „das Warum tanzt nicht gern mit dem Weil!“.

Und wer einen Aphorismus zustande bringt wie: „Satiriker wollen der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gesellschaften sind aber wie Tiere: Sie erkennen sich in Spiegeln nicht!“, der ist kein so ganz zu verachtendes Mitglied der schreibenden und vorher denkenden Zunft. Und wer auch Sätze schreibt wie: „Da hat das Leben mal wieder ein mattes Drehbuch geschrieben!“ oder über das Lesen: „Gut am Lesen ist zum Beispiel, dass es keinen Krach macht und ein Lesender ruhiggestellt ist, dass er also nicht herumfuchtelt oder unangenehm kommunikativ wird.“ Da habe ich dann doch laut lachen müssen und ihm damit nicht recht geben können.

Zähe Lektüre

Einen Roman von etwas mehr als vierhundert Seiten kann ich sehr zügig lesen, wenn das Sujet und die Erzählweise mich fesseln. Es kann aber auch ein sehr ermüdendes Unterfangen sein.

So ging es mir mit diesem Roman von Gioconda Belli. Wie das Original heißt auch die übersetze Fassung „Bewohnte Frau“. Nun ja, dieser Titel wird schnell klar: Der Roman bewegt sich auf zwei Ebenen. Die eine liegt in weiter Vergangenheit als sich die Einwohner des fiktiven mittelamerikanischen Landes von der spanischen Herrschaft befreien wollten, die zweite Ebene spielt in dem nunmehr von einer Militärdiktatur beherrschten Land. Die Seele der einen Erzählerin lebt in einem Orangenbaum, sie berichtet aus der Vergangenheit und aus dem Haus, in dem die „Heldin“ des Romans wohnt. Der Orangenbaum steht im Hof des Hauses und seine Wurzeln stehen im Kontakt mit dieser jungen Frau aus gutem Hause, die nach einem Auslandsstudium zurückgekehrt ist und nunmehr als Architektin arbeitet. Sie kommt in Kontakt mit der Untergrundbewegung, die gegen die Militärjunta kämpft, sie wird Genossin. Ihr Freund stirbt, so wie auch der Geliebte der „Baumbewohnerin“ und am Ende ist auch die Architektin tot.

Diese Geschichte wird brav erzählt, teilweise auf einem sehr durchschnittlichen Sprachniveau. Teilweise traut die Autorin ihren Lesern nicht zu, die Geschichte so richtig zu verstehen und erklärt noch einmal mit einigen Sätzen, was sich gerade abgespielt hat. Das hemmt den Erzählfluss und macht müde. Die Ebene aus der Zeit der Rebellion gegen die Spanier ist auch überflüssig, weil sie nichts verdeutlicht, sondern eher den Leser zu nerven beginnt.

Keine empfehlenswerte Lektüre!

Wäsche

Die Großwäscherei“ heißt der Roman des Ungarn Andor Endre Gelléri. Er ist mehr eine Anordnung verschiedener Charaktere in diesem Betrieb als eine streng durcherzählte Geschichte.

Natürlich spielt der Besitzer Taube eine Rolle, er wird langsam aber sicher verrückt. Es spielt der neue Vorarbeiter, ein Karrierist, eine – kleinere – Rolle, ein Heizer, ein junger Färber und immer wieder die Wäscherei selbst. Ich fühlte mich manchmal in das Stück Nachtasyl versetzt, ich fand es unterhaltsam, aber nicht wirklich zwingend, mich dieser Lektüre zu widmen. Es ist ein interessantes Buch, aber das sagt man ja auch von einem Essen, das einem nicht so richtig schmeckt, wo man aber auch nicht die Gastgeber verletzen will.

Ruhm

Ich bin ein bekennender Fan des Schriftstellers Arthur Schnitzler. Ich habe deshalb auch gern eine Novelle gelesen, die ich bis jetzt noch nicht gekannt habe. „Später Ruhm“ beschreibt einige wenige Wochen im Leben eines älteren Mannes, der in jüngeren Jahren einen kleinen Gedichtband veröffentlicht hatte. Dieser wird nun von einem kleinen Haufen junger unbekannter Künstler entdeckt und man feiert den alten Herrn. Später stellt sich heraus, dass die meisten die Gedichte gar nicht gelesen hatten, später stellt sich heraus, dass unser Dichter auch nicht in der Lage ist, Neues zu schaffen. Er sonnt sich nur für kurze Zeit in dem Ruhm, der ihm zuteilwird. Heutzutage spricht man von den berühmten 15 Minuten im Leben eines Menschen, bevor dieser wieder in der Versenkung verschwindet. Eine jüngere Schauspielerin taucht in dem schmalen Bändchen auch noch auf, aber ich will hier nichts weiter verraten. In einem Nachwort werden die Personen teilweise Menschen aus dem Umfeld Schnitzlers zugeordnet, aber auch das ist nicht so wichtig.

Was für mich zählt, ist die Fähigkeit des Autors, mit wenigen Sätzen Personen zu charakterisieren und Situationen zu beschreiben. Schade nur, dass diese Erzählung doch etwas arg kurz geraten ist.

Geduld und Gelassenheit

Meine Frau hat mir zu Weihnachten den schmalen Band „Gelassenheit“ von Wilhelm Schmid geschenkt.

Ich las dieses Bändchen mit zunehmendem Vergnügen, denn es ist für mich – also für Menschen meiner Generation – geschrieben. Schließlich bin ich, ich wage es kaum zu schreiben, bereits 63 Jahre alt. Das bedeutet optimistisch betrachtet im letzten Drittel meines Lebens. Es kann aber auch viel weniger sein. Dieses Buch hilft gerade denjenigen, die, auch das trifft auf mich zu, Angst vor dem Sterben, dem Tod, dem Nichts haben. Und dann hat dieses Brevier ganz wundervolle geistreiche Sätze.

Nur einige wenige Sätze zur Illustration:

Polarität ist ein Grundzug des Lebens.

Das Leben bleibt ein Lernprojekt bis zuletzt.

Seneca: Leben muss man das ganze Leben lang lernen.

Gefühle sind die Gewürze des Lebens, ohne die alles fade wäre.

Ein wundervolles Geschenk!

Wieder ein Urlaub in der Bretagne

Die Krimis des Autors Jean-Luc Bannalec sind eine wundervolle Ferienlektüre, selbst wenn man keinen Urlaub hat und sich mit dem Roman einfach nur in die Bretagne versetzen lässt. Es geht mir nicht um die Handlung des Romans. Er ist im Stile der Venedig Krimis gestrickt, die Figur des Polizeipräfekten ist dem des Vice-Questore nachempfunden. Und auch sonst ist alles wohl konstruiert, aber ein Vergnügen ist es schon.

Ich freue mich jetzt schon auf Kommissar Dupins nächsten Fall. Der vierte Band hieß „Bretonischer Stolz“.

Hôtel du Nord

Ich bin schon mehrfach im „Hôtel du Nord“ abgestiegen, in jenem an der Rue Albert Thomas jedenfalls.

Ich gestehe, dass ich nicht gewusst habe, dass es ein viel berühmteres Hotel gleichen Namens in Paris gibt, das am Quai de Jemmapes liegt. Dieses Hotel ist Ort der Handlung des Romans von Eugène Dabit. Dessen Eltern waren einst Eigentümer dieses Hotels und der Mann hat das Treiben in dem Haus literarisch festgehalten. Es ist nicht wirklich ein Roman, es ist mehr eine Episodenerzählung. Diese rankt sich um die Schicksale der Mieter, allesamt kleine Leute. Ein ziemlich tristes Bild zeichnet Dabit da von seinen Landsleuten nach dem ersten Weltkrieg. Arbeit und ein wenig Vergnügen am Sonntag, Krankheiten und Tod, ein Verfall wird geschildert, derjenige von Menschen und derjenige des Hotels selbst. Ich gestehe, dass mich die Lektüre dieses Buches nicht sonderlich gefangen genommen hat.

Apokalypse – später

Was für eine düstere Szenerie. Die Apokalypse hat stattgefunden. Wir lesen eine Geschichte, die um 2100 spielen dürfte. Es ist die Geschichte eines der offenbar wenigen Überlebenden eines perfiden Ausrottungsplans. Die Menschheit wird ausgerottet. Der Klimawandel hatte vorher schon einiges bewirkt; nun aber hat ein genialer Biochemiker es übernommen, die Menschen von der Erde zu vertreiben und eine neue Spezies auf ihr anzusiedeln. Das gelingt dem Mann, in dem er die Schwächen der Menschen schamlos ausbeutet: der Wunsch nach ewiger Jugend, nach Schönheit und Wohlergehen. Man nimmt eine Pille und alles wird gut. Nur enthält diese Pille ein Gift, das die Menschheit dahinrafft.

Jimmy ist einer der Überlebenden. Er ist auch der Freund – der einzige Freund, den Crake – der Biochemiker – hat. Dieser wiederum hat eine Freundin, die aus „niederen Verhältnissen“ stammt, die die Pille in aller Welt „verkauft“ hat, allerdings ohne von den schrecklichen „Nebenwirkungen“ zu wissen: Oryx heißt sie. Und mit ihr fängt Jimmy ein Verhältnis an. „Oryx und Crake“ ist eine Dystopie – schon in dem Titel spiegelt sich das wider: Oryx ist eine vom Aussterben bedrohte Antilopenart und Crake ein vom Aussterben bedrohter Vogel. Der Roman ist eine Liebesgeschichte, die Aufarbeitung einer Freundschaft und natürlich die Warnung an uns, nicht so weiterzumachen.

Die Staaten sind zerfallen, die Industrie herrscht bis zu dem Moment des großen Sterbens, dann lösen sich alle Strukturen auf. Zurück bleiben neue Züchtungen von Wolfshunden, die so friedlich und doch so gefährlich sind, genau wie die überzüchteten Schweine, die den Menschen als Organspendebank dienten und schweinchenschlau, Jagd auf Zweibeiner machen. Zurück bleibt ein neues Menschengeschlecht und es scheint, dass damit die Schöpfungsgeschichte nacherzählt wird. Am Ende nährt sich Jimmy oder Snowman, wie er sich seit der Katastrophe nennt einigen weiteren überlebenden Menschen. Damit endet das Buch. Und ja es gibt Fortsetzungen und die will ich auch lesen, weil Margaret Atwood einfach eine verdammt gute Schriftstellerin ist.

Bei Crake, ich habe gesprochen!

Mord in Schöneberg

Susanne Goga hat einen neuen Krimi mit ihrem Kommissar Leo Wechsler vorgelegt. Die Frau hat den Kommissar befördert und nun kümmert er sich um einen Fall in der Modebranche kombiniert mit Homosexuellen, die 1927 ihre Veranlagung nicht frei ausleben durften. Die Frau fischt in den Gewässern anderer. Volker Kutscher ist in diesem Berlin mit seinem Kommissar Rath unterwegs. Die beiden müssten sich ständig in der Mordkommission des Rates Gennat über den Weg laufen. Natürlich zeigt auch Goga die aufkommende Nazizeit an. Sie plagiiert nicht, aber sie macht sich mit dem was sie macht auch nicht wirklich sympathisch. Egal, der Krimi weist eine gewisse Spannung auf, wenn auch schon klar ist, wer der Täter nur sein kann. Seichte Unterhaltung, nicht mehr. „Es geschah in Schöneberg“, allerdings nicht im Mai.

Lobrede

Was für ein Roman! Eigentlich sind die „Verlorenen Illusionen“ von Honoré de Balzac eine Trilogie. Aber das ist belanglos.

Der Roman strotzt vor bemerkenswertem Personal. Da ist ein Geschwisterpaar, Eva und Lucien und da ist der junge David, der in Paris seine Ausbildung zum Drucker machen durfte, das Einzige, was der Vater dieses Davids je für seinen Sohn getan hat. Allerdings auch dies war nicht selbstlos oder schlicht das, was Eltern für ihre Kinder tun. Der arme David wird den Betrieb seines Vaters übernehmen, allerdings dabei von seinem Vater übers Ohr gehauen. David träumt davon, Erfinder zu werden und von Eva. Ja, sie wird seine Frau und Lucien so etwas wie ein Bruder. Dieser Lucien will Dichter werden und ist verliebt in die „Königin“ des Provinzstädtchens Angoulême. Mit ihr wird er nach Paris gehen, aber sie lässt ihn sehr schnell fallen und der arme Kerl lebt eine Zeitlang als mittelloser Poet in der großen Stadt. Er lernt Menschen kennen, sie werden Freunde, auch diese Männer arme Schlucker. Er lernt andere Leute kennen. Er wird Journalist, er bekommt Geld und gibt es wieder aus. Eine junge Schauspielerin liebt ihn und wird für ihn alles hergeben. Auch ihr Leben. Lucien fälscht sogar die Unterschrift seines Freundes David, um Geld in die Hände zu bekommen, was ihm aber auch wieder durch die Finger rinnt. David drückt diese Schuldenlast und weitere Schulden, die dadurch entstehen, dass er Papier herstellen will, welches weitaus günstiger sein sollte, als das bis dahin produzierte. Er muss sich vor seinen Schuldnern verstecken, wird überlistet und kommt ins Gefängnis. Lucien will ihn retten, die Rettung kommt zu spät, woraufhin Lucien sich umbringen will. Er gerät aber in die Hände eines spanischen Geistlichen, mit dem er einen Kontrakt schließt. Eva und David können mit dem Geld, was sie für den Verkauf der Druckerei und der Erfindung bekommen, ein kleines Gut kaufen. Schließlich erben sie das nicht unerhebliche Vermögen des Vaters von David. Was aus Lucien wird bleibt im Ungewissen und einem anderen Roman überlassen.

Es klingt diese Zusammenfassung sicherlich ziemlich banal. Doch jede Zeile ist ein Genuss. Die Metaphern sind treffend. Mit wenigen Strichen lässt Balzac Bilder von Personen vor uns entstehen, die intensiver sind als manche langatmigen Beschreibungen heutiger Autoren.

Ein Beispiel hierfür eine kleine Randfigur: „Das Mädchen war fast ebenso schön wie Eva und die Tochter von kleinen Winzern, die in der Nähe der Stadt auf ihrem Gütchen lebten. Sie war weiß, wie die Kinder des Südens weiß sind, weiß wie eine Magnolie, im Übrigen eine Brünette mit herausforderndem Blick und langen, starken Haaren.“ Mehr braucht man nicht.

Dieser Roman ist ein Wunder, denn er spielt in einer Zeit, die weit von der unseren entfernt ist und dennoch ist er so modern, so nah unserer Zeit. Er zeigt die ganze Abgründigkeit zu der menschliche Intrige in der Lage ist. Vergesst moderne Fernsehserien, vergesst zweitklassige Machwerke.

Lest Balzac! Es ist ein Meisterwerk. Dieser Balzac ist einer unser größten Dichter. Ein Genie.

Lest, liebe Leute, diesen Roman.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Käsebier

Zu Beginn der Lektüre des Romans „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ von Gabriele Tergit tat ich mich schwer, sehr schwer.

Der Roman spielt zumindest teilweise im Milieu Berliner Journalisten des Jahres 1929. Er erzählt von den Schwierigkeiten, den Ticks und Tricks dieser Sorte Mensch. Das alles ist umständlich und nicht gerade so geschrieben, dass die Lust auf die weitere Lektüre groß ist. Das lag natürlich auch daran, dass ich unmittelbar davor den großartigen Roman von Balzac gelesen hatte. Der schafft es mit nur wenig Pinselstrichen ganze Gemälde zu fertigen und die Intrigen der Journalisten mehr als ein Menschenleben früher waren nicht weniger abgefeimt.

Dann gibt es einen weiteren Grund, warum der Einstieg in den Roman nicht so leicht ist. Frau Tergit kann viel, wie sich noch herausstellt, aber sie hat kein Gespür für Namen. Da war Fontane noch besser und der ist schwer zu schlagen, wenn es um unmögliche Namen seiner Romanfiguren geht. Aber hat man sich daran gewöhnt, dann wird die Lektüre zum Vergnügen. Denn hier schildert uns eine sehr intelligente Autorin nicht mehr oder weniger als den Untergang der Weimarer Republik, die menschenverachtende Gier des Kapitalismus und erklärt ganz nebenbei, warum wir heute so verdammt wachsam sein sollten. Denn viele der Menschen in diesem Roman können sich auch noch nicht vorstellen, dass ein Jahrzehnt später ein viele von ihnen vernichtender Krieg ausbrechen wird.

Käsebier ist übrigens nicht der Held dieses Romans, eher eine Randnotiz und doch gleichsam der Indikator für ein völlig überhitztes System. Käsebier ist ein Sänger von einigen Couplets, die bei den Leuten ankommen und dann wird der Mann – heute würde man sagen – gehypt. Dann kann man eine Saison lang Käsebier-Puppen und Zigaretten mit seinem Namen kaufen und vieles andere mehr. Man will ihm ein Theater bauen und der Bau dieses groß gedachten Komplexes am Kurfürstendamm geht schief. Die Immobilienblase platzt. Die Dummen sind die kleinen Leute, die großen brachten ihr ergaunertes Geld rechtzeitig auf die Seite. Und das alles schildert die Autorin brillant. Der Roman ist damit sehr aktuell, ganz nah an unserer Wirklichkeit.

Ein sehr lesenswerter Roman.

Ein Berlin Roman

Bleiben wir in Berlin, allerdings in der Gegenwart und manchmal trägt uns der Roman auch noch ein wenig in die Zukunft – aber davon gleich mehr.

Zunächst Autor und Titel dieses Kriminalromans: Rob Alef „Immer schön gierig bleiben“. Auch Alef hat es nicht mit Namen seines Personals, so geht ja Pachulke als alter Berliner Adel noch und gegen Dorfner ist auch nichts zu sagen, aber warum jemand Stiesel heißen muss, ist schon nicht mehr so ganz nachzuvollziehen und was halten sie von Engine Plink oder erst Xenia Yolantha Zabriskie? Sieht man davon ab und auch davon, dass der Autor in naher Zukunft so etwas wie eine Ökodiktatur auf uns hereinbrechen sieht, die die Bürger zwingt, Müll in Sammelstellen abzugeben und dabei hochnotpeinlich examiniert wird und dass andere aus der Umgebung ihren Dreck in Parkanlagen abkippen und der Treptower Park nunmehr eine Halde ist, in dem das Ehrendenkmal praktisch zugemüllt wurde, dann ist das ein toller Berlin Krimi, spannend weil er entlang der mir besonders vertrauten Buslinie 104 spielt und weil er schöne Sentenzen zur Lokalpolitik enthält, die man auch in Gabriele Tergits Roman hätte finden können: „Die lokale Politik hat etwas von Kleinkriminellen aus der Stummfilmzeit. In jeder Folge planen sie das große Ding, und immer kommt etwas dazwischen. Aber sie werden nie erwischt und deshalb machen sie immer so weiter und schmieden den nächsten und entscheidenden Coup.“

Wie das alles mit dem Mord an einer Frau gerade jetzt und einer anderen mehr als zehn Jahre zuvor zusammenhängt wird hier nicht verraten. Aber das will man sowieso wissen, wenn man den Roman erst einmal zu lesen begonnen hat.

Der ganz normale Wahnsinn

„Es gibt mehr Freuden auf der Welt, als wir genießen können.“

„Eine Frau ist ein Leben, und sie zu verlassen oder von ihr verlassen zu werden bedeutet, den Tod zu durchqueren; wenn man – was die Schwierigkeit ist – die Trennung denn überlebt. Eine Frau zu lieben, nachdem man mit einer anderen glücklich gewesen ist, ist wie ein Kind zu sein, das ein Spielzeug zerstört, um zu erfahren, was in seinem Inneren ist.“

„Die göttliche Àgata bewegte sich, als hätte sie einen unsichtbaren Faden an jedem Molekül ihres Körpers.“

„Wie leiden wir nicht oft das ganze Leben lang, um uns einen Augenblick des Schmerzes zu ersparen.“

„Der Herbst ist der Frühling des Winters.“

Wer nach diesen Zitaten nicht neugierig geworden ist, ein kleines Meisterwerk von nicht einmal 60 Seiten zu lesen, dem kann ich nicht helfen.

Allen anderen wünsche ich ganz viel Unterhaltung und gute Gedanken bei dem Roman „Der Herbst in Barcelona“ von Francesc Pujols.

Ein wahrlich großer, kleiner Roman

Eine federleichte Erzählung über einen jungen Mann, der mit schweren Traumata aus dem ersten Weltkrieg zurück in seine englische Heimat kommt, dessen Frau sich von ihm getrennt und einem anderen Kerl zugewandt hat. Er arbeitet als Restaurator und erhält den Auftrag in einer kleinen Dorfkirche ein Bild freizulegen. Einige Monate auf dem Lande, besonders ein Monat, in dem das Wetter einfach nur berauschend schön ist und er ein Meisterwerk freilegt, in dem er einigen Menschen in dem Dorfe näherkommt, einen Leidensgenossen mit einem Geheimnis näherkommt, der ein altes Grab finden und freilegen soll. Eine zarte Romanze, so duftend und luftig leicht, wie dieser Sommer. „Ein Monat auf dem Land“ von J. L. Carr hat nichts mit dem Drama von Turgenjew zu tun.

Ein Mann findet in sein Leben zurück.

Eine bezaubernde Geschichte.

Leider war mir der durchgängige Lesegenuss durch den Verlag unmöglich gemacht worden: Man hatte nach der Seite 96 wieder mit den Seiten 33 und folgende angefangen und damit einen Teil des Romans mir vorenthalten. Meine Buchhandlung tauschte das Buch um und so darf ich nun das Büchlein in den höchsten Tönen loben.

Ein Roman, um Menschen unsterblich zu machen

Der Ich-Erzähler, will seine große Liebe, die er sein Leben lang kennt, in einem Roman festhalten, weil das auch dem Wunsch dieser starken Frau entspricht. Der Erzähler ist der jüngste Bruder, dreier Geschwister, die ihre Eltern durch einen Unfall verlieren, alle in ein Internat kommen und mit diesem ungeheuerlichen Verlust sehr unterschiedlich umgehen. Die Schwester, das älteste Kind, probiert Drogen und Männer aus, der ältere Bruder wird ein Freak und der Erzähler zieht sich in sich zurück. Ein Mädchen setzt sich zu ihm in die Klasse auf seine Bank, das ist der Anfang einer Liebe, die erst viel später ein scheinbares Happy End finden wird. Dann wird bei ihr Leukämie diagnostiziert, die Zwillinge, die die beiden haben, werden also bald die Mutter verlieren, der Erzähler weiß nicht, ob er allein seine Kinder großziehen wird können. Man könnte, wenn man diese Zeilen liest, denken, dass es sich hier um eine Neuauflage der Love-Story handelt.

Weit gefehlt.

Der Autor ist Benedict Wells, der einen geschlossenen Kosmos entstehen lässt und zu beschreiben in der Lage ist. Ein Autor, der stilsicher mit Metaphern umzugehen versteht, der nie kitschig wird, sondern ein hohes erzählerisches Niveau beibehält. „Vom Ende der Einsamkeit“ ist ein Entwicklungsroman, eine schöne Erzählung über das Leben, das keine vergnügungssteuerpflichtige Angelegenheit ist. Es ist ein Unterhaltungsroman auf hohem Niveau, ein Lesevergnügen, auch wenn mir – ich bekenne es freimütig – irgendwann die Tränen in die Augen schossen.

Lesen kann so schön sein.

Ein weiterer Juretzka – Krimi

Der Willy ist weg“ heißt ein weiterer Krimi des Ruhrgebietsautors Jörg Juretzka. Das ist eine ganz eigene Welt. Allerdings merke ich, dass der Spaß nicht mehr so groß ist, wie bei der Lektüre der ersten Romane von ihm. Die Sprüche sind stark, aber verbrauchen sich auch. Man darf solche Krimis lesen, muss es aber nicht. Denn es gibt so viele wichtigere Lektüre.

Lektüre wider die Gleichgültigkeit

Der Trafikant ist am Anfang nur ein Lehrling. Erst die widrigen Umstände des Jahres 1938 machen den jungen Franz Huchel zum Trafikanten. Sein Lehrherr ist nämlich verhaftet worden, als die Nazis die Macht auch in Österreich übernommen haben. Der Franz ist auf der Suche nach dem Leben und seiner Liebe. Die ist ein Mädchen aus Böhmen, die es nicht so genau nimmt, die im Varieté arbeitet und sehen muss, wo sie bleibt. Sie wechselt dann auch das „Lager“ und lässt sich mit einem Nazi ein. Der Franz weiß inzwischen, dass sein Lehrherr im Gefängnis der Gestapo gestorben ist. Er wird eines Nachts die Hose an einen Fahnenmast aufziehen, an dem zuvor die Hakenkreuzflagge im Wind knatterte. Der Franz ist auch befreundet mit Sigmund Freud, dem er ab und an, wenn er Fragen in Sachen Liebe hat, eine Zigarre aus der Trafik mitbringt. Freud gelingt es, mit seiner Familie noch nach London auszuwandern. Dem Franz nicht, der wird von der Gestapo abgeholt und kurz vor Kriegsende wird seine einstige Geliebte vor dem verwaisten Laden stehen und wir wissen, dass es kein Happy-End geben wird.

Der Trafikant“ ist eine gescheite Erzählung von Robert Seethaler.

Zufall oder nicht?

Elke Heidenreich hat in einem Band kurze Geschichten zusammengetragen, die sie – da bin ich mir sicher – mehr oder weniger schnell aufgeschrieben hat. Hier in einem kleinen Büchlein, dort auf einem Zettel. Sie nennt diese Sammlung „Alles kein Zufall“.

Das ist nicht so eingängig, weil eigentlich alle unsere Geschichten zufällig oder weniger zufällig entstehen. Ständig befinden wir uns an Weggabelungen. Was immer es ist, mal nehmen wir den einen, mal den anderen Abzweig. Die Geschichten handeln viel von ihrer Mutter oder mehr dem Mutter-Tochter-Verhältnis. Einige von ihren Liebhabern, von gelungenen oder weniger gelungenen Verhältnissen. Einige Geschichten sind grandios, andere Mittelmaß. Aber gelangweilt hat mich die Lektüre nie. Die lustigste ist die Krähe. Da geht es um einen schäbigen Gasthof, den sie einem Menschen, den sie nicht so sonderlich schätzt, als Sternerestaurant „verkauft“. Wundervoll.

Der große Bluff

Ein neuer amerikanischer Roman wurde in der letzten Zeit sehr hoch gelobt. Die Rede ist von „Geister“, dem Roman von Nathan Hill.

Die deutsche Übersetzung umfasst 850 Seiten. Man sprach von der Parallelität der Ereignisse im Roman mit denjenigen in der amerikanischen Wirklichkeit. Man bemühte große Vergleiche. Was ich gelesen habe, ist eine amerikanische Familiengeschichte, geschrieben von einem Mann, der „creative writing“ gelernt hat, der sich an einem Thema abarbeitet. Die Zufälle in dem Roman sind zu konstruiert. Das Ganze ist zu aufgesetzt. Zu unwahrscheinlich und bildet das, was in den USA dieser Tage geschieht weder ab, noch hilft es uns sehr zu verstehen, was da gerade vor sich geht.

Und doch konnte ich mich der Erzählung nicht entziehen, wollte schon wissen, was denn nun passiert ist, damals vor mehr als 40 Jahren, mit der späteren Mutter der Hauptfigur dieses Romans.

Samuel ist Professor für englische Literatur an einem College, spielt lieber ein Computerspiel, als an seinem Roman zu schreiben, für den er vor einigen Jahren einen stolzen Vorschuss erhalten hatte, den er jetzt zurückzahlen soll. Er hat Ärger mit einer Studentin, die er des Plagiats überführt, die aber nicht etwa klein beigibt, sondern den Mann aggressiv bekämpft. Das größte Problem aber ist seine Mutter, die er Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat, weil sie seinen Vater und ihn eines Tages verließ. Nun hat sie offenkundig, einem Gouverneur, der sich im Vorwahlkampf um die Präsidentschaft befindet, mit Kieselsteinen beworfen. Eine Attacke, ein Anschlag, was auch immer. Der Sohn kann seinen Vorschuss behalten, wenn er ein Buch über seine Mutter schreibt, über die Attentäterin.

Der Roman pendelt ständig zwischen Ereignissen im Jahre 1968, als die Mutter kurzzeitig in Chicago studierte und 2011, dem Jahr, in dem der Hauptstrang spielt. Der Roman blättert die Lebensgeschichte der Mutter ebenso auf wie die des Sohnes und einiger weiterer Figuren, die man nicht einfach als Randerscheinungen abtun kann. Wie gesagt, die Geschichte ist konstruiert und die einzelnen Personen sind mehr miteinander verwoben als man in so einer Rezension zu enthüllen vermag. Das Buch enthält herrliche Beschreibungen über einen spielsüchtigen Mann, ebenso über die Denkungsart junger Amerikanerinnen von heute, über die Gefühlswelt von Kindern und über die norwegische Geisterwelt der Nissen und des Nix, wie der Originaltitel des Romans lautet.

Fragt man mich jetzt, ob man diesen Roman gelesen haben muss, lautet meine Antwort: nein, aber die Lektüre schadet auch nicht.

Dem Tatort sozialphilosophisch näher gekommen

Mein Freund Klaus hat mir in Kenntnis meiner „Tatort Leidenschaft“ das Buch „Mord zum Sonntag“ von Alfred Pfabigan geschenkt.

Ich gebe zu, ich habe es zunächst mit spitzen Fingern angefasst. Es ist nicht die Lektüre, die ich, belletristisch ausgerichtet, bevorzuge. Dann aber, zog mich das Buch in seinen Bann. Auf wundervoll kenntnisreiche Weise, der Mann hat sich wirklich die Tatorte angesehen und nicht nur die, sondern andere deutsche Krimiserien auch noch obendrein, schildert er ganz verschiedene Stränge der Geschichte der Serie. Ihre ursprünglichen Konzepte („Methode Columbo“), den Umgang mit den Frauen, dem Sex, der Politik (die Vergangenheit, die DDR, die heutigen Themen, wie Neonazis und Ausländer). Das Thema Umweltschutz, die verschiedenen Kommissartypen und vieles andere mehr.

Der Tatort mit den meisten Zuschauern – nein nicht unser Münsteraner Blödelduo – sondern Curd Jürgens als Frauenmörder mit mehr als 26 Millionen Zuschauern. Der Einzug der DNS-Analysen in den Krimi und die Überlegungen, wann die Kommissare ausgetauscht werden, sie also in Pension gehen. Das ist eine Fundgrube des Tatort Verrückten und für solche Menschen ein schieres Muss!

Danke Klaus, für die Bewusstseinserweiterung!

Morde in der Bretagne

Nun der fünfte Krimi der Serie mit dem Kommissar Dupin. Jetzt „Bretonische Flut“ von Jean-Luc Bannalec.

Ich mache es ganz kurz: Der Roman ist wieder ein Appetizer für eine Reise in die Bretagne. Er macht Lust auf das Land, auf das Meer und das Essen. Mehr nicht, den Krimi muss man nicht gelesen haben.

Von Archen und anderen Geschichten

Also die Geschichte der Welt fängt mit der Arche an. Mit Noah und alles, was sich darum so rankt. Diese Geschichte wird aus der Perspektive eines Holzwurms geschildert. Leider geht es nicht immer so komisch und tiefgründig zu wie in dieser ersten Geschichte aus dem Roman „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ von Julian Barnes.

Die Entführung eines Kreuzfahrtschiffes auf dem Mittelmeer weist schreckliche Parallelen zu den Entscheidungen Noahs auf, welche Tierart nicht gerettet werden kann. Der Prozess gegen Holzwürmer ist ein beeindruckendes Beispiel der Schreibkunst des Autors, ebenso wie die Geschichte des Schiffsbruchs, die im Gemälde „Das Floß der Medusa“ von Géricault so eindrücklich geschildert wird. Ich habe gerade heute gehört, dass ein österreichischer Schriftsteller, Franzobel, einen Roman darüber geschrieben hat. Die Geschichte von Barnes ist kaum zu toppen, ebenso wenig wie die anderen hier versammelten Geschichten. Die halbe Geschichte ist ein Essay über die Liebe. Sie hängt mit den anderen Geschichten nicht wirklich zusammen, andererseits hängt ja alles mit allem irgendwie zusammen.

Ein Buch voller Geschichten, ein pralles Buch, ein schönes Buch!

Ex Oriente Lux

Wenn ich lese, dann habe ich gern eine musikalische Untermalung, es darf kein Gesang sein, aber orchestrale Werke, auch gern einmal Jazz, sind mir sehr willkommen.

So lese ich das Buch, den Roman, „Kompass“ von Mathias Enard. Ich höre während des Lesens beispielsweise die Oboensonate in G-Dur von Christoph Graupner, die ein wunderschönes Andante enthält. Graupner, der 1683 geborene Komponist war Hofkapellmeister in Darmstadt, er hatte sich auf die vakante Stelle des Thomaskantors zu Leipzig beworben, er lehnte diese Stelle dann aber ab, weil ihn sein Landesherr nicht nach Sachsen ziehen lassen wollte. So blieb er in Darmstadt und so erhielt ein anderer die Stelle des Kantors in Leipzig: Johann Sebastian Bach. Warum schreibe ich das jetzt hier, wo ich mich doch mit dem mit dem Prix Gouncourt ausgezeichneten Buch des französischen Autors Enard auseinandersetzen soll? Die Antwort ist einfach: Weil dieser Roman genau so voll gepackt ist mit Wissen, weil er genauso vom Hölzchen auf das Stöckchen kommt. Weil er den Leser mitreißt, das Füllhorn an Information über dich auskübelt und du staunend von einem orientalischen Gelehrten zum anderen gelenkt wirst, weil du Verweise auf andere großartige Literatur in Hülle und Fülle in diesem Buch vorfindest, dass es für einen langen Lesewinter reichen wird (nur zwei Beispiele; „Small World“ von David Lodge und „Donau“ von Claudio Magris).

Ich scheue mich ein wenig, von einem Roman zu sprechen, weil dieses Werk sich einer Kategorisierung, so will mir scheinen, entzieht. Es ist die Geschichte des Musikologen Franz Ritter, der in Wien lebt und Hochschullehrer ist. Es ist die Geschichte von Sarah, einer französischen Orientalistin, die aus Paris kommt und die sich auf den Weg gemacht hat, Spuren der Orientalisten zu finden, die in den vergangenen Jahrhunderten bereits diesem Zauber versuchten auf den Grund zu gehen, diese kulturellen Einflüsse des Orients in unserem beschaulichen Europa näher zu kommen.

Die beiden pflegen über viele Jahrzehnte eine Beziehung, eine intellektuelle Beziehung, denn Franz ist für mehr zu schüchtern. Bis auf eine Nacht in Teheran, die dann allerdings nicht der Anfang einer langen intimen Verflechtung sein wird, sondern deren abruptes Ende. Vielleicht, denn am Ende des Romans keimt Hoffnung, vielleicht.

Der Roman arbeitet mit Rückblenden, mit Erinnerungen an gemeinsame Reisen, Forschungsaufenthalte in Istanbul, Damaskus und eben Teheran. Der Roman bezieht die aktuellen Entwicklungen, den Bürgerkrieg, den Stellvertreterkrieg in Syrien mit ein. Die Erinnerungen an schöne Tage in Aleppo, an eine Nacht unter dem Sternenhimmel, dicht aneinandergeschmiegt, kontrastieren mit unseren Kenntnissen über die Verwüstungen dieses Weltkulturerbes. Leserinnen und Leser lernen Gelehrte vergangener Epochen kennen. Kennt man Hafis noch wegen Goethes Diwan, so gestehe ich freimütig, von Hedayat, Annemarie Schwarzenbach, Freiherr von Hammer-Purgstall und leider auch nichts von Mewlana Dschelal ad-Din ar Rumi gehört zu haben. Ich weiß so wenig, im Vergleich zu diesem belesenen Autor.

Was das vielleicht Genialste an diesem Werk ist, dass es in einer schlaflosen Nacht des Franz Ritter spielt. Er wird eine, möglicherweise, schlechte Diagnose seines behandelnden Arztes erhalten. Er kann nicht schlafen und denkt an Sarah, die ihm nach Jahren der Funkstille das Exemplar eines Sonderdrucks geschickt hat. Alles kommt nun wieder an die Oberfläche. So spaziert sein Geist durch Zeit und Raum. Ich vermisste zuweilen einen Kompass, um auf den Titel dieses Romans zu sprechen zu kommen.

„Man vergisst die wichtigsten Dinge so leicht“, steht in dem Roman: Sarah schenkt Franz eines Tages einen Scherzartikel, einen Kompass, der, wie man sich wendet, stets nach Osten zeigt. Ein Scherzartikel, allerdings mit tieferer Bedeutung für Orientalisten. Wir erfahren auch etwas über einen Taschenkompass, den Beethoven auf seinen Wanderungen durch und um Wien herum benutzte. Es ist im Roman an einer anderen Stelle auch von „dem Kompass meiner Obsessionen“ die Rede, auch so eine wunderbare Metapher. Wie überhaupt, dieses Buch so voller wundervoller Metaphern steckt, die teilweise versteckte Zitate anderer Dichter, anderer Epochen sein mögen.

„Parviz hatte unglaublich viele klassische Verse im Kopf, von Rumi, Hafis….Er war eine wandelnde Bibliothek.“ Wie der Autor, dieses großen Romans. Dessen letzter Satz, auszugweise lautet: „..es ist keine Schande, seinen Gefühlen nachzugeben ….und der milden Sonne der Hoffnung.“

Als ich den Schluss dieses Meisterwerks, eines Romans für mutige Leserinnen und Leser, las, hörte ich gerade den vierten Satz der Symphonischen Suite Scheherazade von Nikolai Rimsky-Korsakow.

Großartig, wie dieser Roman.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Eine kleine Welt

Schon im Jahre 1984 kam ein wundervoller Roman auf den Markt.

Der Roman eines Literaturprofessors aus England, der sich des Rummels um Tagungen und Kongressen angenommen hat. Er beschreibt den akademischen, weltumspannenden Zirkus, dem die Gelehrten aller Professionen zum Opfer fallen. Hier eine Tagung in der Provinz, man muss dahin, weil man ja im kommenden Jahr die nächste Tagung an seinem eigenen Institut durchführen will, oder weil man noch neu in der Szene ist und Leute kennenlernen muss, die einem behilflich sind, vielleicht die nächste Arbeit, die man bei einer Zeitschrift einreicht, beurteilen werden (peer review nennt sich das dann).

Vielleicht will man aber auch nur die Kollegin wiedersehen, die man schon auf dem letzten Kongress getroffen hatte und vielleicht kann man ja dieses Mal mit ihr ein paar Stunden im Bett verbringen.

Es ist ein wundervoller Roman, der da entstanden ist. Ein Meisterwerk und wenn man es im Original liest, dann erschließen sich dem Lesenden ganz nebenbei eine Fülle von nützlichen Vokabeln, die man im normalen Schulunterricht nicht lernt. Der Roman ist hocherotisch, aber so gekonnt, dass er nimmer die Grenze zur Pornographie auch nur berührt.

David Lodge hat diesen grandiosen Roman geschrieben: „Small World“ heißt er und ich kann nur sagen: lesen!!!

Ein „pageturner“

Also das ist ein pageturner. Man will den Roman nicht weglegen, weil er doch sehr spannend ist. Keine Hochliteratur, aber ein schlicht unterhaltsamer Kriminalroman. In drei Kapiteln, aus drei Perspektiven, die sich ergänzen, die immer etwas hinzufügen zu dem anfänglich noch sehr unklaren Bild. Und natürlich am Anfang die Aufklärung. Hier eines fast mehr als dreißig Jahre zurückliegenden Mordes an einem berühmten Psychologen, einem Gerichtsgutachter und Hochschullehrer. Das macht Spaß und gute Laune.

Das Buch der Spiegel“ ist von einem rumänischen, in den USA lebenden Schriftsteller namens E. O. Chirovici verfasst.

Eine Flussfahrt

Dieses Buch entzieht sich den herkömmlichen Kategorien. Es ist kein Roman, kein Reiseführer, keine Reisebeschreibung. Es ist, das sagt der Verfasser Claudio Magris ganz am Ende des Werks selbst ein dreitausendkilometerlanger Film!

Donau – Biographie eines Flusses“, heißt das Werk dieses klugen und ungemein belesenen Autors, der 2009 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat. Geschrieben hat er dieses Buch bereits 1986, also noch zu der Zeit als der eiserne Vorhang herabgelassen war.

Als ich vorletztes Jahr von Prag nach Belgrad radelte, da war das alles anders, als ich an der Donau entlang unterwegs war, konnte man in Serbien, in Novi Sad die Kriegsschäden des Krieges gegen Serbien sehen, auch eine Folge des Zusammenbruchs des Ostblocks sicherlich.

Magris beschreibt die Geschichte, die sich entlang des Flusses zugetragen hat. Die Einflüsse des Orients, die vielen Völker, die sich assimilierten oder auch nicht. Er beschreibt die Begegnungen mit Menschen, Zufallsbegegnungen oder gezielte Treffen. Er berichtet von denjenigen, die entlang des Flusses geboren, aufgewachsen oder gestorben sind. Er gießt sein ganzes Wissen über uns aus, gibt Anregungen und leitet uns an, auf Reisen sehr sorgfältig zu schauen, was wir sehen. Zu hinterfragen, wo etwas herkommt, was sich aus der Geschichte entwickelt hat und vielleicht sogar zu erkennen, wo es hingehen will. Ich bin reicher von dieser dreitausend Kilometer langen Lektüre zurückgekehrt!

Ein großartiges Werk!

Und wie fast immer, wenn ich von einem Buch besonders angetan bin, sollen mein Urteil wenige Zitate unterstreichen:

„Wie Zenon die Bewegung eines vom Bogen abgeschossenen Pfeils leugnete – weil er in jedem Augenblick in einem Punkt des Raumes verharre und eine Abfolge von unbeweglichen Augenblicken nicht Bewegung heißen könne -, so müsste man auch sagen, dass es nicht die Abfolge jener Momente ohne Geschichte sei, welche die Geschichte hervorbringe, sondern die Wechselbeziehungen und die nachträglichen Ergänzungen der Geschichtsschreibung. Das Leben, sagt Kierkegaard, könne nur verstanden werden, indem man rückwärts schaue, auch wenn es gelebt werden müsse, indem man nach vorne sehe – das heißt auf etwas, was nicht existiert.“

„Die Reise ist die Treue des Sesshaften, der sich überall seine Gewohnheiten und seine Wurzeln bestätigt und dabei versucht, mit seiner Beweglichkeit im Raum die Erosionen der Zeit zu verwischen, um stets die vertrauten Dinge und Gesten zu wiederholen: sich zu Tisch setzen, reden, lieben, schlafen. Unter den lateinischen Motti, die mit der Autorität der toten Sprache die Säle des Schlosses von Sigmaringen zieren, feiert eines die Liebe zum Geburtsort, den Genius loci, die in der eigenen Bleibe wurzelt und von jeglicher Begierde, sie zu verlassen, frei ist: ‚Domi manere convenit felicibus‘ – den Glücklichen ziemt es, daheim zu bleiben.“

„Es ist durchaus möglich, dass der Augenblick bevorsteht, da die geschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede die Schwierigkeiten des Zusammenlebens auf gewaltsame Weise hervorkehren; unsere Zukunft hängt auch davon ab, ob wir fähig sein werden, zu verhindern, dass sich jener unterschwellige Hass entlädt und dass neue Schlachten vor Wien die Menschen in Ausländer und Feinde verwandeln.“

„Nietzsche, Stirner, Ibsen, Strindberg, die großen Wahrsager der Gegenwart, die der Realität eine Maske, eine Verkleidung, eine Kulisse nach der anderen herunterreißen, um auf diese Weise das Leben zu finden und zu entdecken, dass es ohne Grund ist.“

Großmutter Anka; Kapitel 13: „Von diesem Observatorium aus erscheint das ganze Leben als Zeitverlust, als eine zerbrechliche Maschinerie. Die Wirklichkeit ist wie die Uhr, die sie skandiert, ein Räderwerk, die Organisation einer unablässigen Wiederholung, eine Fließbandmontage, die immer nur auf die nachfolgende Phase verweist. Wer das Leben liebt, muss vielleicht auch dieses Spiel des Einfügens und Einzwängens lieben, darf sich nicht nur für die Reise nach fernen Inseln begeistern, sondern auch für Wartezeiten auf dem Amt, wenn man seinen Pass verlängern will. Die Überzeugung, die der allgemeinen Mobilmachung widerstrebt, ist Liebe zu etwas anderem, das mehr als das Leben ist und einzig in den Pausen, in den Unterbrechungen aufleuchtet, wenn die Mechanismen aussetzen, die Regierung und die Welt in Vakanz sind, im wahrsten Sinne des Wortes – vacuitas, Leere. Mangel, Abwesenheit -, während nur noch das starke, unbeirrbare Licht des Sommers existiert. Die Welt, sagt Borges, ist wirklich, aber warum muss sie einem dermaßen auf den Sack gehen? Die Ansprüche, die man in Grunde genommen stellt, sind ganz bescheiden, ab und zu die Schule schwänzen zu können, ohne es dabei an Respekt gegenüber den Lehrern fehlen zu lassen.“

Mein Buch ist voller weiterer Unterstreichungen und Randbemerkungen, ich will es aber bei diesen Zitaten bewenden lassen. Es hilft alles nicht, man muss sich dieses Buch selbst erschließen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Flaubert, die Tierwelt und die Forschungen eines englischen Arztes auf französischem Boden

Auf dem Umschlag steht der folgende Text: Julian Barnes „Flauberts Papagei“ Roman.

Der Autor ist klar, auch wenn er in die Figur eines englischen Arztes schlüpft, der nicht mehr praktizierend, seinem Hobby nachgeht. Dieses Hobby ist der Autor der Madame Bovary. Und da in einem anderen Buch von Gustave Flaubert ein Papagei eine Rolle spielt, kommt der Mann, dessen Frau gestorben ist, also eigentlich hat er die Geräte abgeschaltet, an denen seine Gattin hing, auf die Idee nach dem Papagei zu suchen. Das Tier ist ausgestopft und an zwei Orten kann man einen ausgestopften Papagei in dem jeweiligen Heimatmuseum bewundern. Beide Museen reklamieren den wahren Papagei für sich. Welcher aber ist nun der richtige?

Das Werk, das vor uns liegt, ist kein Roman. Es ist eine Geschichtensammlung. Hoch intelligent zusammengesetzt. Ich erhalte Einblicke in das Leben des Gustave Flaubert, seiner langjährigen Geliebten, seiner Reisen. Das Buch, einigen wir uns auf diesen unverfänglichen Begriff, enthält unglaublich kluge Sätze, stammen sie nun von Flaubert oder von Mr. Braithwaite, der Figur von Barnes.

„Ein Netz können Sie auf zwei Arten definieren, je nach Ihrem Standpunkt. Normalerweise würden Sie sagen, dass es ein Gerät mit Maschen ist, das zum Fischfang dient. Sie könnten aber auch, ohne groben Verstoß gegen die Logik, das Bild umkehren und ein Netz so definieren, wie dies ein witziger Lexikograf einst tat: Er nannte es eine Ansammlung zusammengeschnürter Löcher.“

„Schärfe wird immer von denen übertrieben, die selber stumpf sind.“

„Die alten Zeiten waren gut, weil wir damals jung waren und keine Ahnung hatten, wie wenig Ahnung die Jungen haben können.“

„In den Büchern werden einem die Dinge erklärt; im Leben nicht.“

„Das Glück liegt in der Vorstellung, nicht in der Ausführung.“

Ein, wie man liest, gescheites Buch eines gescheiten Autors. Mehr allerdings auch nicht.

Das erste Mal und mehr

Der Impuls, ein Werk von Navid Kermani zu lesen, liegt schon ein wenig zurück. Die Besprechungen seines Romans „Sozusagen Paris“ gaben den erneuten Anstoß zur Lektüre eines seiner Bücher. Ich griff auf „Große Liebe“ zurück, das im Jahre 2014 veröffentlicht wurde.

Ein Mann um die 45 Jahre schildert sein erstes Mal. 30 Jahre zuvor, er verliebt sich in eine Schülerin der Oberstufe, vier Jahre älter als er, kurz vor dem Abitur und unerreichbar für einen, den die Lehrer aus der Raucherecke verbannen sowie sie seiner dort ansichtig werden. Vier Jahre, das ist ein unfassbarer Altersunterschied in diesen jungen Jahren. Schon ein Mädchen, das nur eine Klasse über dem Jungen war, ist für den Autor dieser Zeilen zumindest unerreichbar gewesen.

Nun ja, unser Erzähler hat mehr Glück, die Schönste aller Schönen erhört ihn, nimmt ihn mit in die Wohngemeinschaft, in der sie lebt, in dem Haus, das besetzt ist und bald dem Bau einer Autobahn weichen soll. Sie schlafen miteinander, sie verleben drei Tage des unfassbaren Rausches und dann lässt sie ihn fallen, lässt sich verleugnen, schreibt ihm etwas später einen Brief und nie mehr wird er Gelegenheit erhalten, die Gründe erklärt zu bekommen, die sie zu der schnellen Trennung veranlasst haben.

Der Autor, jetzt selbst Vater eines 15-jährigen Sohnes, liest den Brief, den er aufgehoben hat, allerdings nicht an den hundert aufeinander folgenden Tagen, die wir ihm bei der Herstellung seines Buches verfolgen dürfen. Der Erzähler trägt unzweifelhaft die Züge des Schriftstellers Kermani. Nun wäre der Roman aber nicht so gelungen, denn es ist ein sehr gelungener Roman, wenn er es bei dieser Schilderung belassen hätte. Was Kermani macht ist raffinierter, er verwebt diese Schilderung der großen Liebe, denn der Erzähler spricht nicht von der ersten großen Liebe, sondern verabsolutiert diese Liebe durchaus bewusst, mit Texten arabischer Schriftsteller des 9. bis 12. Jahrhunderts. Diese haben in ihren Gedanken über die Liebe viele Weisheiten zusammengetragen, die uns nun der Erzähler als Spiegel vorhält, auch als Kommentar des Verhaltens seiner Romanfigur.

Und so entsteht ein Roman, den ich sehr schnell gelesen habe, weil er mir einfach gefallen hat, der kluge Sentenzen enthält und große Wahrheiten:

„Es ist das Gedächtnis, das die Zeit dehnt.“

„Jeder Mensch vollbringt in seinem Leben Großtaten, die niemand würdigt, die überhaupt kaum jemandem auffallen, die von außen betrachtet auch gar nicht bemerkenswert sind und auf den Lauf der Welt nicht den geringsten Einfluss haben, es sind sozusagen Taten zwischen Mensch und Gott.“

„…sich womöglich bedrängt fühlte, überfordert und eingeschnürt von der Besitznahme, die die Liebe leider ebenfalls sein will.“

Die schönen Geschichten der arabischen Weisen, die so kurz sie auch sind, so ungemein treffend sind, will ich nicht zitieren, die muss man selbst lesen, denn dieser Roman ist einfach lesenswert.

Berlin Krimi

Im letzten Jahr war ich auf einer Veranstaltung, wo während eines Diners eine Lesung aus einem Kriminalroman erfolgte; in Anwesenheit der Autorin. Der Auszug stammte aus dem dritten Roman von Mechthild Lanfermann.

Ich beschloss ihren ersten Krimi zu lesen und der gefällt mir ganz gut. Eine Radioreporterin, die aus persönlichen Gründen von Bremen nach Berlin wechseln musste, stolpert in ihren ersten Fall. Kommt dem Kriminalkommissar näher, bringt sich selbst in Gefahr. Hat am Ende das Siegerlächeln auf ihrer Seite und das zählt. Der Roman hat den Titel „Wer im Trüben fischt“ und nun ja irgendwie müssen diese Krimis ja heißen.

Ich las den Roman gern und er ist schlichte, aber gute Unterhaltung.

Das Jahr der Flut

The year of the flood“ ist der zweite Teil der Trilogie von Margret Atwood, die sich über eine nicht zu ferne Zukunft ausbreitet. Eine Dystopie. Der erste Teil Oryx and Crake las sich sehr gut. Eine spannende Geschichte, die auf eine Katastrophe zusteuert. Das Buch endet an einer Stelle, wo der Mann, der sich durch den Roman schleppt, in einiger Entfernung Menschen sichtet und nunmehr weiß, dass er nicht der letzte seiner Gattung auf Erden ist.

Der zweite Teil erzählt die Geschichte anderer Protagonisten und erst im Laufe der Handlung wird klar, dass eine andere Perspektive gewählt wird. Aber die Geschichte schon die gleiche ist. Einige der Menschen, die jetzt in den Blickpunkt rücken, waren Randfiguren im ersten Teil. Und am Ende der Geschichte sind wir nur wenig weiter als am Ende des ersten Teils. Das ist clever gemacht und zeugt von großem handwerklichem Geschick der Autorin.

Dennoch: ich werde die Lektüre des dritten Teils noch eine Weile verschieben, weil andere spannende Romane auf mich warten. Doch klar ist: Margret Atwood ist eine außergewöhnliche Schriftstellerin.

Fußballlektüre

In einer Rezension zu der kleinen Erzählung „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“ von J. L. Carr konnte ich lesen, dass dies ein Fußballbuch sei, von dem es nicht viele gebe. Am Ende der Rezension hat der Autor dies dann ein wenig korrigiert, ich möchte ihm gänzlich widersprechen.

Die Sportart ist nebensächlich in dieser Erzählung, aber da nun einmal Fußball ein überaus populärer Sport ist, liegt es nah, ihn zu wählen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen einige skurrile Dorfbewohner, steht der Traum nach dem Erreichen von hochgesteckten Zielen und nicht zuletzt der Glaube an Wunder.

Zielsetzung einiger Herren des kleinen Dorfes in the middle of nowhere ist nicht weniger als der Gewinn des englischen Fußballpokals. Als Dorfverein ins Wembleystadion und dort allen zeigen, dass mit Enthusiasmus und viel Fleiß man ebenso guten Fußball spielen kann wie die hoch bezahlten Profis. Und da der Autor gleich zu Beginn seinen Erzähler berichten lässt, dieses Ziel erreicht zu haben, speist sich die Spannung nicht aus der Frage, ob es gelingen kann, sondern vielmehr aus den Erzählungen rund um diese Spiele. Es geht auch nicht um Taktik und Spielwitz. Vielmehr geht es darum, wie sich Menschen verhalten, für die die schönste Nebensache der Welt eine Nebensache bleibt und wie ihr Kosmos denn nun wirklich aussieht.

Das ist gelungen und dennoch ist dieses Buch nicht so mitnehmend wie die Erzählung „Ein Monat auf dem Lande“ vom gleichen Autor.

Zwei aus dem guten alten Europa

Am Ende des Romans sind sie alle verheiratet.

Alle? Nein Eugenia geht leer aus. Sie kam zusammen mit ihrem Bruder Felix nach Boston, um einen reichen Mann zu finden. Felix findet eine Frau, auch wenn die einem anderen zugedacht war, wenn es nach deren Vater gegangen wäre. Aber der gedachte Gatte geht nicht leer aus; er bekommt die Schwester. Und der Sohn des Hauses bekommt, die junge Dame, die er sowieso freien sollte. Deren Bruder bemüht sich eine Zeit um Eugenia, aber die will nicht. Sie kehrt nach Europa zurück. Ansonsten heiraten hier nur Cousins Cousinen und das ist ja auch ein wenig merkwürdig.

Die Europäer“, so der Titel des Romans von Henry James, haben nämlich die Idee gehabt, sich bei ihren wohlhabenden Verwandten einzuquartieren und ein wenig Glanz in das puritanische Leben der Nordamerikaner zu bringen. Denn Eugenia ist mit einem Prinzen verheiratet; es ist eine Ehe zur linken Hand, wegen der Standesunterschiede, aber die Dame darf sich mit einem Titel, Frau Baronin, schmücken und hat natürlich beste Manieren, die ihr bei Konversationen sehr zugute kommen.

Der Roman ist eine leichte, vergnügliche Lektüre, die in ihren Dialogen beweist, was für ein stilsicherer und eleganter Autor Henry James gewesen ist.

Berlin Krimi II

Der zweite Krimi der Autorin Mechthild Lanfermann heißt „Wer ohne Liebe ist“ und spielt im Milieu der Neonazis, die es sich besonders in Brandenburg und Sachsen bereits sehr gemütlich eingerichtet haben. Unsere rasende Reporterin ist wieder dem Verbrechen auf der Spur und es wird an einigen Stellen sehr spannend, manchmal aber auch sehr kitschig. Alles in allem bleibe ich bei meiner Wertung, die ich zum ersten Roman bereits abgegeben habe: Ich las den Roman gern und er ist schlichte, aber gute Unterhaltung.

Beschäftigung mit dem Tod
  1. Seit längerer Zeit lese ich ab und an in den „Metamorphosen“ des Ovid. Eine wundervolle Lektüre. Und im übertragenden Sinne unterliegt doch alles einer ständigen Veränderung. Alles ist im Fluss.
  2. Kafkas berühmteste Erzählung beginnt damit, dass Gregor Samsa aufwacht und an sich Veränderungen wahrnimmt. Er mutiert zum Käfer.
  3. Herman Mussert legt sich eines Abends in Amsterdam ins Bett, in der Hand noch einen Zeitungsausschnitt mit einem Satellitenfoto. Er erwacht in Lissabon.
  4. Er, der ehemalige Lateinlehrer, den die Schüler Sokrates nannten, erzählt uns, vielleicht auch seinem Schöpfer, seine Lebensgeschichte. Seine Liebesgeschichte, seine einzige.
  5. Es ist die Geschichte einer Beziehung, die von der Frau, einer Kollegin, aus Rache angefangen wird. Sie rächt sich an dem Ehemann, weil der eine Affäre mit einer Schülerin hat. Man trifft sich in Lissabon und später auch immer wieder in Amsterdam.
  6. Sokrates, am Ende seines Lebens lässt diese Zeit in Lissabon noch einmal Revue passieren.
  7. Dann befindet sich unser Lehrer auf dem Fluss Styx. Ihm träumt, es sei der Amazonas. Und seine Mitreisende, alles Tote, die ihre Seelen in Jenseits bringen, erzählen von ihrem Tod. Herman ist der letzte und er erzählt „Die folgende Geschichte“.
  8. Ein Meisterwerk des großen holländischen Autors, Cees Nooteboom.
  9. Gebt dem Mann endlich den Literaturnobelpreis!

Der Mensch lebt so, als würde er ewig leben. Der Gedanke an den Tod, an die Endlichkeit allen Lebens wird ausgeblendet. Was ist das Leben? Ein Traum, eine Abbildung, ein Film? Cees Nooteboom greift dieses Problem auf. Er bringt uns zu einer Auseinandersetzung mit unserem kurzen irdischen Dasein. Lasst uns philosophieren, denn die Philosophie ist nichts anderes als die Einübung auf den Tod.

Nooteboom hat ein Meisterwerk geschaffen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Eine Romanbiographie

Es gibt diese Kategorie schon länger, diese Romanbiographien. Eine gute Möglichkeit, sich das Leben prominenter Zeitgenossen zu erschließen. Natürlich darf man nicht alles so ganz ernstnehmen. Denn der Autor oder die Autorin legen den Personen Sätze in den Mund, die nicht gesichert sind, aber dennoch in das Bild passen. So erinnere ich mich gern an den „Ullsteinroman“ von Sten Nadolny oder das sehr geglückte Werk von Klaus Modick „Konzert ohne Dichter“ über die Personen aus Worpswede, allen voran Heinrich Vogeler und Rainer Maria Rilke.

Jetzt griff ich zur Romanbiographie über Paul Wittgenstein „Konzert für die linke Hand“ von Lea Singer.

Wittgenstein verliert im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm und lernt allein mit der linken Hand seine Profession, das Klavierspielen, auszuüben. Da er reicher Erbe eines alles beherrschenden Vaters ist, kann er es sich leisten, Konzerte in Auftrag zu geben. Der Roman schildert, wie sehr der Mann um Anerkennung und Liebe ringt. Von seinem Vater, seinen Geschwistern hat er diese nie erhalten. Sich gegen die übermächtige Figur des Vaters zu behaupten ist allen Geschwistern nicht oder nur unzureichend gelungen.

Wie Frau Singer das schildert, ist nicht besonders anspruchsvoll. Hier wird Farbe mit der breiten Rolle aufgetragen, nicht mit einem feinen Pinsel. Die vielen Namen überfordern den Lesenden anfänglich, später schafft man es, sich die Namen und sogar die „Kosenamen“ zu merken, aber wozu. Und dann erzählt sie die Geschichte des Paul Wittgenstein nicht bis zum Ende. Das fügt sie in einem quasi redaktionellen Nachtrag an, den sie Epilog nennt, als ob sie auch einen Prolog geliefert hätte. Nein, das war gar nichts, ich rate von der Lektüre dieses Werkes ab. Enttäuscht ordne ich den Band in mein Bücherregal ein.

Weltgeschichte auf 500 Seiten

Es ist ein Vergnügen, das Sachbuch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari zu lesen.

Es strengt nicht an, es nimmt die Leser mit und regt zum Nachdenken an. Es mag sein, dass für Fachleute vieles in diesem Buch oberflächlich und zu seicht behandelt wird, aber es will sich ja auch ganz offensichtlich an eine breitere Leserschaft wenden und das gelingt diesem Autor sehr eindrucksvoll.

Entstandene Kulturen der Menschheitsgeschichte verändern sich stetig und diese Umwälzungen werden als Geschichte bezeichnet. Nach Harari findet eine sogenannte kognitive Revolution in dem Moment statt als sich Geschichte von der Biologie löst. Als sich die Entwicklung der Menschheit nicht mehr mit biologischen Theorien erklären will, sondern durch eine Geschichtsschreibung, ist diese Revolution vollzogen worden.

Er erklärt sehr eindringlich, dass vieles, was wir als „gegeben“ ansehen, nicht wirklich existent ist, sondern auf bestimmten Konventionen beruht: Ordnung, ob göttlich, politisch oder ökonomisch sei keine objektive Gegebenheit, sondern sie existiert nur in unseren Köpfen. Diese Einbildung sei aber so stark, dass sie das entscheidende Movens aller Geschichte darstelle.

Harari reitet mit uns durch 100 000 Jahre, erklärt den Aufstieg des Homo sapiens zur „Krone der Schöpfung“ und schüttet uns am Ende für die Zukunft ganz viel Essig in den Wein. Das alles müsse so nicht bleiben und auch die Dinosaurier seien schließlich von diesem Planten wieder verschwunden.

Er beleuchtet ausführlich die Geschichte des Geldes, des Stoffes, aus dem die Träume sind und das selbst Traum oder besser Fiktion sei. Es habe nur der Schaffung einer neuen, intersubjektiven Wirklichkeit bedurft, die nur in der gemeinsamen Vorstellung der Menschen existiert.

Er geißelt den Konsumismus, stellt fest, dass es einen Bedarf gebe, die Geschichte des Glücks zu erforschen und schließt mit einer Betrachtung, dass diese Welt auch ohne uns Menschen weiter existieren werde: Niemand würde uns Menschen mit unseren subjektiven Empfindungen vermissen. Daher ist jeder Sinn, den wir unserem Leben geben, reine Illusion. Das ist bitter, aber er tröstet uns zugleich mit Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie!“

Das Buch ist ein großer Wurf und ich empfehle die Lektüre als Anregung zur Beschäftigung mit uns und zum Nachdenken über uns Menschen uneingeschränkt.

Von Fahrrädern und starken Frauen

Es ist schon ein Glücksfall, wenn man in der eigenen Familie einen Onkel hat, der den Versuch unternommen hat, das Fahrrad nach Coburg zu bringen. Uwe Timm, hat so ein Glück und er ist ein so außerordentlich guter Schriftsteller, dass er aus der kleinen Geschichte seines Onkels, der das Hochrad von England eingeführt hat und in Coburg zu etablieren und es gegen das aufkommende Fahrrad in der Gestalt, in der es uns heute noch vertraut ist, zu verteidigen versuchte.

Wie seine Tante sich selbst das Fahren auf einem Hochrad beibrachte und wie sie, ohne sich um Frauenrechte wirklich zu kümmern, sich für diese eingesetzt und zum Teil erkämpft hat.

Der Roman „Der Mann auf dem Hochrad“ ist so fein konstruiert, so sinnlich und klug erzählt, dass ich kaum aufhören konnte, dieses kleine Meisterwerk bis zum Ende gelesen zu haben.

Der Glücksfall ist daher auch nicht, dass ein Schriftsteller einen solchen Onkel gehabt hat, sondern dass es Schriftsteller wie Uwe Timm gibt, die aus einer Randnotiz der Geschichte in der Lage sind, einen großen Roman zu fertigen.

Meine klare Empfehlung: lesen!

Muttertag

Der Schutzumschlag der deutschen Übersetzung des hier zu besprechenden Romans verwendet den Ausschnitt eines Aktes des Malers Amedeo Modigliani. Eine schöne junge Frau liegt, den linken Arm unter ihren Kopf geschoben auf einem Bett und scheint jemanden zu beobachten oder an etwas zu denken. Genauso wird Jane auf dem Bett ihres Geliebten liegen. Aber der Reihe nach!

März 1924, ein sommerlicher Frühlingstag. Es ist Muttertag. Die Dienstmädchen bekommen frei, um zu ihren Müttern zu fahren und den Tag mit denen zu verleben. Jane Fairchild kennt ihre Mutter nicht, sie ist ein Waisenkind und ihr Name wurde ihr vom Waisenhaus verpasst. Sie hat an diesem Tage eine Verabredung mit ihrem Geliebten Paul. Einem jungen Herrn, der in vierzehn Tagen heiraten soll. Das Elternhaus ist leer und so muss man sich nicht, wie sonst in den Stallungen oder Treibhäusern des Anwesens treffen, sondern kann sich im Herrenhaus in Pauls Zimmer treffen und vögeln und einige wunderbare Stunden miteinander verbringen. Dann muss Paul zu seiner Verlobten, Jane darf sich Zeit lassen, das Haus durchwandern und dann zurückkehren zu ihren Herrschaften, die mit Pauls Eltern und denen der Braut einen gemeinsamen Ausflug unternehmen.

Doch Paul verunglückt auf der Fahrt zu seiner Verabredung mit seiner Verlobten. Ob Unfall oder Selbstmord wird man nicht klären. Janes Leben verändert sich, sie wird eine erfolgreiche Schriftstellerin, wird fast das gesamte Jahrhundert am Ende ihres Lebens überblickt haben und erinnert sich an ihren Tag im Bett von Paul. Die Erinnerungen der beiden Frauen, der jungen und der alten Jane gehen ineinander über, sind verzahnt und weitere Betrachtungen kommen hinzu. Jane bildet sich durch Lektüre von Erzählungen Joseph Conrads und wird nur wenige Monate nach diesem einschneidenden Ereignis ihre Stelle bei den Nivens, ihren Herrschaften, aufgeben und eine Anstellung in einer Buchhandlung in Oxford antreten.

Diese Erzählung umfasst nur 140 Seiten, doch sie ist inhaltsschwerer als so mancher 600 Seiten umfassende Roman, nach dessen Lektüre man sich irritiert fragt, was die Autorin oder der Autor einem nun sagen wollte.

In der deutschen Übersetzung des Romans von Graham Swift heißt Mothering Sunday „Ein Festtag“ und in der Tat, es ist ein Festtag, diesen Roman lesen zu dürfen.

Berlin Krimi III

Der dritte Roman von Mechthild Lanfermann heißt „Wer ruhig schlafen kann“, er hätte aber auch mein Ego oder mein Deo versagt heißen können. Ich will damit sagen, dass der Titel nicht allzu viel mit dem seichten Inhalt zu tun hat. Und so stellte sich bei mir eine gewisse Sättigung an Lanfermann Krimis ein. Die sind so wie Polohemden eines Herstellers, immer der gleiche Schnitt, nur die Farbe wechselt, wenn man Glück hat.

Balzac

Ich bin längst nicht mit der Lektüre der „Comédie humaine“ durch. Wie denn auch? Ich habe im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer wieder das eine oder andere Werk Balzacs gelesen, es danach bewundert und sicherlich auch in meinen Aufzeichnungen zum Ausdruck gebracht. Aber viele seiner Romane ruhen noch ungelesen in meinem Regal.

Vor einiger Zeit wollte ich mehr über den Autor erfahren, wahrscheinlich im Anschluss an die Lektüre der Verlorenen Illusionen. Und so stieß ich auf die Biographie „Balzac“ von Stefan Zweig. Da ich ein Verehrer der Schreibkunst Zweigs bin, gab es gar kein langes Nachdenken und dann lag das Taschenbuch auf dem Stapel der gekauften Bücher, die darauf warten müssen, von mir gelesen zu werden. Ungerechterweise haben diese einen Vorrang in den letzten Jahren vor jenen Büchern erhalten, die ich aus welchen Gründen auch immer meinem Bücherregal bereits einverleibt hatte, ohne sie gelesen zu haben. Das machte ich dann dadurch deutlich, dass diese ungelesenen Bücher im Regal nicht aufrecht stehen, sondern liegend ihren Platz gefunden haben.

Aber ich schweife ab.

Ich bin kein Freund von Biographien, aber Zweig stellt eigentlich einen Roman vor, dessen Held der Schriftsteller Balzac ist. Und da Zweig ein so feiner Handwerker des Wortes ist, ist die Lektüre ein Vergnügen. Selbst wenn man über den armen Balzac erstaunt und betroffen ist, so bleibt die Lektüre ein Lesespaß. Natürlich verstand ich im Nachhinein die „Verlorenen Illusionen“ viel besser. Alles oder vieles, was er dort uns schildert, ist nichts anderes als eine Beschreibung seiner eigenen Erfahrungen. Und das richtige Leben ist für den armen Balzac schlimmer verlaufen als so manche der Leben seiner Helden. In den Büchern macht er sich so manches Mal lustig über sie, über ihre Unvernunft und Lebensunfähigkeit. In Wahrheit seziert er sein eigenes Verhalten und das ist schon starker Tobak.

Die Lebensgeschichte des Honoré Balzac in der Erzählung von Stefan Zweig lässt mich nicht kalt. Ich habe teilweise sehr mit dem Mann gelitten. Und man kann vor der Leistung dieses Mannes, der ein Werk, auch wenn es nicht vollendet werden konnte, hinterlassen hat, das in anderen Fällen nicht von fünf oder acht Autoren zusammengetragen worden wäre gar nicht genug würdigen.

Ich könnte jetzt über die eine oder andere Sentenz in der Biographie mich aufreiben, lasse es aber mit einer Ausnahme.

Zweig bezeichnet das Verhalten Balzacs gerade in den ersten Kapiteln immer wieder als dasjenige eines Snobs oder schlicht als snobistisch. Er gebraucht den Begriff meines Erachtens falsch. In späteren Kapiteln taucht der Begriff auch nicht mehr auf. Da beschreibt er vielmehr das Verhalten Balzacs, dem Adel angehören zu wollen, als aristokratomanisch. Und diese Beschreibung ist wohl die zutreffendere.

Aber das ist eine Fußnote in diesem großen Werk, dem Lebensroman über einen unserer ganz großen Autoren.

Ein „Schwedenkrimi“

Meine Söhne rieten mir zur Lektüre eines Krimis des Autorengespanns Hjorth & Rosenfeldt (Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt). „Der Mann, der kein Mörder war“. Und was soll ich nach der Lektüre sagen?

Ein spannender Roman, ein „page turner“. Sehr gut konstruiert und nur an einer Stelle überzogen. Der eigentliche Fall aber ist richtig gut durchdacht und die Lektüre entspannt sehr. Die Hauptperson, es sind weitere Folgen sicher, stellt einen Psychologen dar. Ein Ekel von einem Kerl, aber wie es nun mal so ist, eben auch genial. Und am Ende nach fast 600 Seiten hat sich alles aufgelöst und man legt den Roman zur Seite und denkt an die gute Empfehlung der Söhne.

Das Psychogramm eines Dieners

Schlösse man die Augen und lauschte der Lesung dieses Buches, das es zu besprechen gilt, dann fühlte man sich zurückversetzt in eine längst vergangene Epoche.

Ein nicht mehr ganz junger Diener und da wir in England sind, darf man Butler sagen, sinniert einige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg vordergründig darüber, wie er seinen sehr geschrumpften Personalstamm etwas vergrößern könnte. Darlington Hall ist an einen Amerikaner verkauft worden und unser Butler Stevens kümmert sich mit wenigen Bediensteten um die Erhaltung des Schlosses und das Wohlergehen des neuen Besitzers. Der alte Besitzer Lord Darlington ist gestorben und nun muss man sich den neuen Herausforderungen einer neuen Zeit stellen. Stevens denkt an die ehemalige Haushälterin, die lange vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs das Schloss verlassen hat, um zu heiraten. Nun liegt Stevens ein Brief von ihr vor, aus dem er herauszulesen meint, dass sie an einer Rückkehr interessiert sein könnte. Sein neuer Dienstherr gibt ihm einige Tage Urlaub, er solle sich mit Hilfe des alten Ford ein wenig von England ansehen. Und so verbindet Stevens das eine mit dem anderen und beschließt, Mrs Benn oder wie er sie in Gedanken immer noch nennt, Miss Kenton, aufzusuchen und ihr die Stelle der Haushälterin wieder anzubieten.

Der Roman von Kazuo Ishiguro ist aber nicht einfach ein Reisetagebuch nach der Art meine schönsten Erlebnisse auf dem Weg nach Cornwall. Es ist der Versuch des Butlers, sich Rechenschaft über sein Leben zu geben, denn natürlich erkennt er, dass es nicht besonders aufregend verlaufen ist. Er ist halt ein Butler, der Sohn eines Butlers. Sein Vater wird in den letzten Lebensjahren im Personalkörper des Sohnes arbeiten und wird nach einem Schlaganfall sterben, während Stevens ungerührt sich um die Aufwartung der wichtigen Gäste seiner Lordschaft kümmert. Miss Kenton wird dem alten Mann die Augen schließen, während Stevens sogar den herbeieilenden Arzt lieber zunächst zur Behandlung der Blasen eines Gastes schicken möchte als an das Sterbebett seines Vaters. Er bekommt nicht mit, dass diese Miss Kenton ihm zugetan ist, nur auf ein Wort von ihm wartet. Sie teilt ihm mit, dass um ihre Hand angehalten wurde und sie sich noch nicht sicher sei, ob sie zusagen solle. Sie wartet darauf, dass diese servile Seele endlich aufwacht und sie in die Arme nimmt, aber dieser Stevens kann ihr nur alles Gute wünschen.

Der Mann schweift bei seiner Erzählung ständig ab, weil ihm klar wird, dass er ein verflucht inhaltloses Leben führt. Er philosophiert über die Würde, die ein Butler benötigt und was einen wirklich erstklassigen Butler so ausmacht. Er freut sich für einen Dienstherren zu arbeiten, der ganz unverkennbar mit den Nazis zusammenarbeitete. Aber das kann dieser Diener nicht erkennen. Vielmehr sagt er an einer Stelle: „Und man empfindet vielleicht mit Recht eine Befriedigung, von welcher diejenigen, die es zufrieden sind, unter zweitrangigen Dienstherren zu arbeiten, nie auch nur ahnen – die Befriedigung, mit einigem Grund sagen zu können, man habe mit seinen Bemühungen, in wie bescheidener Weise auch immer, einen Beitrag zum Gang der Geschichte geleistet.“

Doch ich schweife ab …

Stevens ist ein Mann ohne eigene Eigenschaften, ohne jeglicher Empathie. Er kann weder auf die Bemühungen der Miss Kenton reagieren als diese ihm Blumen in seinen Arbeitsraum stellen will noch auf die einfache Frage was er denn in seiner Freizeit da gerade für ein Buch lesen würde.

Im Nachhinein rechtfertigt er sich vor sich selbst: „Warum sollte man nicht in einer zwanglosen Weise Geschichten von Personen genießen, die sich verlieben und, oft in den gepflegtesten Redewendungen, ihre Gefühle füreinander ausdrücken.“

Das Gespräch mit Mrs Benn ehemals Miss Kenton verläuft natürlich genauso, wie es sich der inzwischen mit der Seele unseres Butlers vertraute Leser denken konnte. Nur an der Oberfläche kratzend, bleibt man in einem gepflegten Gespräch, in dem immerhin klar wird, dass Miss Kenton diesen Butler einst geliebt hatte, aber nun schon lange mit dem Mann an ihrer Seite, den zu lieben sie gelernt hat, zufrieden ist. So offen haben die beiden noch nie miteinander geredet. Zu spät. Und unser Stevens schüttelt sich kurz, wie das aus dem Wasser kommende Hunde zu tun pflegen und denkt dann darüber nach, wie er seinem neuen Dienstherren ein noch besserer Diener sein kann.

„Und zumindest war es ihm gegeben, am Ende seines Lebens sagen zu können, er habe seine eigenen Fehler gemacht.“

Und „…dass ich eine positivere Einstellung gewinnen und versuchen sollte, aus dem, was vom Tage übrig bleibt, noch das Beste zu machen.“

Zu Beginn meiner Besprechung schrieb ich, dass man sich in eine andere Zeit versetzt fühlt, wenn man sich der Lektüre dieses Romans zuwendet. Dennoch ist die dahinterliegende Problemlage zeitlos. Wir Menschen stehen an bestimmten Stellen und tun etwas, wenn wir nicht ab und an glaubten, dass unser Tun einen bestimmten Sinn hat, dann könnten wir nicht weiterleben. Daher berührte dieser Roman mich sehr, er stellt in den gepflegtesten Redewendungen unser Leben auf den Prüfstand. Und man kann nur hoffen, dass „Was vom Tage übrig blieb“ uns nicht als zu dürftig erscheinen mag.

Doch ich schweife ab …

Eine Weihnachtsgeschichte eigener Art

„Ich glaubte, ein verzwicktes Spiel zu spielen, dessen Regeln ich allein bestimmte, und tappte dabei achtlos in andere, längst begonnene Spiele, deren Regeln ich nicht kannte.“ Diese Erkenntnis hat der Held in unserer Geschichte – Mr. Smith – ziemlich spät. Die Geschichte heißt in der deutschen Übersetzung „Neu-York“, im Original Golden Hill. Es ist eine Geschichte, die vom Autor Francis Spufford vor der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Nordamerika angesiedelt wurde. Smith kommt aus London, der Metropole, in die Provinz nach Neu-York, wo jeder jeden kennt und wo schnell herum ist, dass der Mann einen Wechsel einlösen will, der auf einen unvorstellbaren großen Betrag ausgestellt wurde. Und das zu einer Zeit, wo man nicht weiß, wie der Mann an den Wechsel gekommen, noch ob der Wechsel echt ist. Eine einheitliche Währung gibt es hier in dieser Provinz auch noch nicht und der Wechsel ist zu Weihnachten fällig.

Smith muss sich zwei Monate gedulden, auf Pump leben, weil ihm seine Barschaft sehr schnell gestohlen wird, und er ist der Neugier und dem Argwohn der Einheimischen ausgesetzt. Und wie in einem Schelmenroman tappt Smith nicht nur, wie er selbst erkennen wird, in begonnene Spiele, sondern in alle Fettnäpfe, die man in seinem Umkreis aufstellt. In die Geschichte ist alles hineingepackt, was die Leserin und den Leser an einen Roman fesseln kann. Spannung, Liebe, geistreiche Konversation und stets treibt die Neugier, in Erfahrung zu bringen, wie der Roman denn nun weitergehen wird, zum Umblättern der Seiten und der Fortsetzung der Lektüre.

Dieser Roman ist stilsicher und nebenbei bemerkt großartig ins Deutsche übersetzt (Jan Schönherr). Er strotzt vor tollen Beobachtungen und Metaphern.

Als Smith zu seinem Schuldner auf ein vorweihnachtliches Abendessen eingeladen wird, beschreibt der Autor den Moment des Eintritts in ein fremdes Haus und eine fremde Gesellschaft folgendermaßen:

„Die Tür wurde auf sein klopfen von der Magd Zephyra aufgetan, die, statt ihn sofort einzulassen, stocksteif auf der Schwelle stehen blieb und Smith mit eben jenen stummen abschätzenden Blick bedachte wie schon tags zuvor. Das Kinn nach vorn gereckt, studierte sie ihn aus tiefschwarzen Pupillen, die das Licht schluckten, jedoch keinen Hinweis auf etwaige Erkenntnisse herausließen; diese Stille währte lediglich den Bruchteil eines Augenblicks, genügte jedoch, sich eigentümlich von der Geschäftigkeit des Flures dahinter abzuheben, wo bereits eingetroffene Gäste, die Smith fremd, doch allem Anschein nach miteinander familiär verbunden waren, schwatzend Hüte und Tücher auf Haken hängten. Dann trat die Magd zurück, und Smith durchschritt die Schranke des Schweigens, die sich über die Schwelle gelegt hatte.“

Und die Einladung des Hausherrn wird mit dem folgenden großartigen Bild beschrieben:

„Dies zweite Herein rief er mit solch jäher Herzlichkeit, dass es ihm um ein Haar die herabhängenden Mundwinkel zerrissen hätte.“

Sein erster Besuch eines Gottesdienstes in dieser Kleinstadt führt ihn mit dem Richter des Ortes zusammen, der in strenger Gegnerschaft zum gegenwärtigen Gouverneur steht. Und diesen Richter skizziert Spufford:

„Ein Mann in mittleren Jahren und ganz in Schwarz, welcher mit seinem statuesken Römerhaupt, fein ziseliert an Ohr und Nase, wie ein etwas depravierter, aber doch scharfsinniger Kaiser den ungewollten Klassizismus all dieser Kirchenbank-Büsten voll ins Recht setzte; dieser Mann drehte sich nickend nach links und rechts, beackerte im Gegensatz zum Gouverneur das Publikum, lächelte, zog scherzhaft die Brauen zusammen und warf Mitgliedern der hinter ihm aufgereihten Gemeinde mitteilsame Blicke zu.“

Spufford verweilt in dem Gottesdienst und beschreibt die Beichte der Gemeindemitglieder und deren mögliche Absolution, er weiß aber nicht, was beispielsweise Smith gebeichtet hat und ob und wenn ja welche Antwort er erhalten habe, denn „Die Wege des Herrn sind der protokollarischen Kraft des Schriftstellers verschlossen“. Sicher aber sei:

„Bestimmt tauchten jedenfalls, als der Pfarrer die Absolution erteilte, all die Köpfe unbeschadet wieder auf – vermutlich allerdings auch und verbessert.“

Was die Metaphern anbelangt so möchte ich nur ein gelungenes Beispiel wiedergeben:

„Die Gruppe wich davor zurück wie Schmutz auf Wasser, wenn man Seife zugibt.“

Die Kraft der Bilder und der Reichtum der Sprache des Autors kommt in den nachfolgenden Sätzen eindrucksvoll zum Ausdruck:

„Das Herz schenkt sich ganz von allein, gleich was man davon hält und womit man sonst zu Gange ist.“

„Alles schien die Langsamkeit des Schneefalls anzunehmen.“

„Draußen vielen die feinen Flocken in duldsamer Vielzahl.“

Dann ist Weihnachten und die Geschichte und das Geheimnis von Smith wird aufgelöst, hier natürlich nicht verraten. Auch nicht wer, diese Geschichte eigentlich aufgeschrieben hat und wie sich bestimmte Herzensangelegenheiten denn nun letztendlich auflösen.

Ein toller Roman, ein Vergnügen diesen gelesen zu haben!

Ein Unfall in der Wüste

Unfälle spielen in vielen Geschichten eine entscheidende Rolle. Ob es Sherman McCoys Unfallflucht in dem „Fegefeuer der Eitelkeiten“ ist oder der unbedeutende Kratzer den Henry Perowne einem anderen Auto in Ian McEwans Roman „Saturday“ „zufügt“. Es ist jeweils der Ausgangspunkt für eine sich dramatisch steigernde Erzählung.

So auch der Unfall, der sich in einer Nacht in der marokkanischen Wüste ereignet. Das Ehepaar David und Jo Henniger sind mit einem Mietwagen zu einer Wochenendparty eingeladen. Er fährt alkoholisiert die Landstraße entlang, die Stimmung ist gereizt zwischen den beiden Eheleuten. Plötzlich stehen zwei Araber auf der Straße, die Fossilien anbieten, die in dieser Gegend ausgegraben werden. David hat ein schlechtes Gefühl, er will nicht anhalten. Was hat man nicht alles schon über nächtliche Überfälle auf Touristen gelesen. Er fährt weiter und hat einen der beiden überfahren.

Was sich jetzt entwickelt ist ein sich ständig steigerndes Drama. Ankunft bei den Freunden, die entsetzt über den „Unfall“ sind. Polizeiliche Nachfragen, die in Partylaune befindlichen anderen Gäste, die sich das Wochenende in Saus und Braus nicht verderben lassen wollen. Die einheimischen Bediensteten, die diese Ausländer verabscheuen, diese Ungläubigen. Das Auftauchen des Vaters des Toten, der seinen Sohn im heimischen Dorf beerdigen will und darauf besteht, dass David ihn in dieses Dorf begleitet. Auf einer anderen Erzählebene erfahren wir etwas über Driss, das Unfallopfer. Kein Heiliger, bei Gott nicht. Ein Mörder, vielleicht, falls die Erzählungen, die er seinem Kumpel auftischt, wahr waren. Jenem Kumpel, der neben ihm am Straßenrand stand und das Auto anhalten wollte, damit man die Insassen hätte ausrauben können.

Die Wüste, das heiße trockene Klima, die rauschgiftgeschwängerte Party. Jo, die auf David wartet, während der einem ungewissen Schicksal in dem Dorf der Angehörigen des Opfers entgegenfährt. Jo, die sich von ihrem Mann trennen will, die sich mit einem Amerikaner auf einen „one night stand“ einlässt.

Das sind alles Bilder, die die Lektüre dieses Romans von Lawrence Osborne, im Kopf auslöst. Ein Kopfkino, eine Erzählung mit einem unfassbaren Sog. So nähert sich Materie den schwarzen Löchern.

David wird in dem Dorf nicht umgebracht, er braucht klein Lösegeld zu entrichten. Die Party ist vorüber. Sie setzen sich ins Auto, um in der Nacht zurück nach Tanger zu fahren.

Doch der Film ist noch nicht vorbei. Das Ende wird nicht verraten, das muss man selbst lesen, wie diesen ganzen Roman „Denen man vergibt“.

Dem Autor ist ein außergewöhnlich dichtes bilderreiches und mit vielen klugen Sätzen, die von intensiver Beobachtung des menschlichen Treibens herrührendes Werk gelungen.

„Unten in seinem Grab erinnerte sich sein Sohn an seine Vergangenheit, aber dort konnte keiner zu ihm, und so würden seine Rätsel verblassen und noch komplizierter werden, denn das Leben ist nur ein Spaß und ein Zeitvertreib, wie uns der Koran in Erinnerung ruft, und weil es nur ein Spiel ist und nichts weiter, vergisst man, dass der Sinn des Lebens der Tod ist.“

Noch ein Schwedenkrimi

Das Positive vorweg: Das zu besprechende Buch besitzt einen ungemeinen Sog. Die mehr als siebenhundert Seiten las ich sehr schnell, weil die Geschichte mich gefangen nahm. Und zugegebener Maßen, die Sätze einfach gestrickt sind. Der Inhalt ist schnell erzählt, ohne sich der Gefahr auszusetzen, die Geheimnisse des Kriminalromans „Die Frauen, die er kannte“ preiszugeben. Ein Serienmörder treibt in Stockholm sein Unwesen. Vier Frauen sterben auf sehr grauenvolle Weise. Das schrecklichste an dieser Mordserie ist allerdings, dass es schon einmal vier Morde gab, die genauso abliefen, wie diejenigen, die jetzt von der Reichsmordkommission aufgeklärt werden sollen. Nur der Mörder der ersten Serie sitzt im Gefängnis, er kann diese Morde nicht begangen haben, aber ist er vielleicht dennoch für sie verantwortlich? Der Psychologe, der den Mann damals der Taten überführen konnte, wird wieder eingeschaltet und ihm fällt etwas tatsächlich Schreckliches auf.

Nicht alles, was das Autorengespann Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt hier vor uns ausbreitet ist ganz logisch. Hätte man nicht die Zelle des vierfachen Mörders längst einer Durchsuchung unterzogen, wenn man einen Kontakt nach Draußen vermutet? Aber die Polizei macht ja auch im „richtigen Leben“ Fehler und Pannen führen zu Attentaten, wie wir nicht erst seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt wissen. Dennoch der Roman schwächelt hier und da und ist zum Ende hin zu sehr auf die Fortsetzung angelegt. Aber zu sehr mäkeln will ich nicht. Spannend ist der Roman allemal.

Die ungewöhnliche Leserin

Königin Elisabeth II. ruft den Erzbischof von Canterbury an, um sich zu erkundigen, ob es ihr als Frau untersagt sei, im Gottesdienst eine Lesung zu übernehmen. Zum Beispiel Salomos Sprüche. Es dauert einen Moment, bis der anglikanische Würdenträger ans Telefon geht, er muss erst einmal den Fernsehapparat leise stellen. Nach dem Gespräch folgt der folgende Satz in der Erzählung: „Der Erzbischof schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Tanzshow Let’s dance zu.“

Die Erzählung, die diesen feinen englischen Humor enthält heißt „Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett.

Elisabeth hat auf ihre alten Tage Lust am Lesen bekommen. Sie verschlingt die Literatur gerade zu. Sie vernachlässigt zwar die Staatsgeschäfte nicht, aber das Lesen macht ihr eindeutig mehr Vergnügen.

Und als ihr Privatsekretär ihr sagt, dass er verstünde, wenn Majestät sich die Zeit vertreiben wolle, dann antwortet sie dem von Neuseeland stammenden Mann: „Die Zeit vertreiben? Bücher sind kein Zeitvertreib. Sie handeln von anderen Leben. Anderen Welten. Man will sich ganz und gar nicht die Zeit vertreiben, Sir Kevin, man wünscht sich im Gegenteil mehr davon. Wenn man die Zeit vertreiben wollte, könnte man nach Neuseeland reisen.“

Das wird der Mann auch bald machen müssen, weil sie ihn aus ihren Diensten entlässt.

Doch dann reicht ihr das Lesen nicht mehr. „Lesen war nicht viel mehr als Zuschauen, Schreiben jedoch war Tun, und Tun war ihre Pflicht.“

Die Pointe der kleinen Erzählung verrate ich natürlich nicht. Ich rege allerdings an, dieses schmale Bändchen zu lesen. Es ist mit dem britischen Humor gewürzt, regt zur Lektüre von vielen anderen Büchern an, die ihre Majestät auch gelesen hat und macht einfach gute Laune.

Zustandsbericht über die Verfasstheit Deutschlands

Der Buchdeckel meiner Taschenbuchausgabe des Romans „Unterleuten“ von Juli Zeh wird von einem Kampfläufer geziert. Dieser Vogel besitzt eine seiner wenigen Brutstätten in Europa in der „Unterleutener Heide“. Diese Kampfläufer waren 30 Zentimeter hohe, graufleckige Vögel von Größe und Struktur einer kleinen Mülltüte, allerdings mit erstaunlicher Flugfähigkeit, wie es an einer Stelle des Romans heißt. Dieses fiktive Dorf Unterleuten befindet sich in der Prignitz, dem nicht besonders dicht besiedelten Teil des Bundeslandes Brandenburg. Hier hat Juli Zeh ihre Geschichte angesiedelt. In dem Mief eines Dorfes, das viele Konflikte aus der DDR – Zeit mit sich rumträgt, in dem nunmehr auch neue Bewohner hinzukommen, aus dem Westen der neuen Bundesrepublik Deutschland. Der Konflikt zwischen Gombrowski, dem Sohn des ehemaligen Großgrundbesitzers, späteren LPG Vorsitzenden und seinem Widersacher Kron. Aus dem Westen stammen dagegen Leute wie Fließ, der aus dem Universitätsbetrieb ausgeschieden ist und sich nun für den Vogel- und Naturschutz einsetzt oder Linda Franzen, die hier ein Gestüt gründen möchte. Das Personal des Romans ist recht umfangreich. Die Autorin schreibt auf Seite 415 „Schon in Unterleuten fiel es ihm schwer, sich auf das Personal von Unterleuten zu konzentrieren. Wenn er sich in Berlin aufhielt, verwandelte sich das Dorf in einen Dostojewski-Roman, bei dem jede Figur von der Frage begleitet wurde: Wer war das denn noch mal?“

Die Geschichte nachzuerzählen ist nicht einfach. Der Hauptstrang dreht sich um den Konflikt zwischen Gombrowski und Kron, der neue Nahrung dadurch erhält, dass unmittelbar am Rande des Dorfes Eignungsgebiete zur Errichtung eines Windparks ausgeschrieben werden. Es gibt im Dorf Gegner und Befürworter für die Windenergie. Da werden Intrigen gesponnen und Gerüchte gestreut, da schreckt man nicht vor illegalen Taten zurück. Alles fein unter der philosophischen Verbrämung getarnt, dass man alle Interessen nun berücksichtigen müsse. Wenn alle etwas von dem Geschäft haben, dann kann so eine Dorfgemeinschaft doch zufrieden miteinander leben.

Die Autorin erklärt das 20. Jahrhundert zur Epoche des kollektiven Wahnsinns, die Gegenwart zum Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. „Wenn der Glaube an das Gute versagte, musste er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden. Sich dagegen wehren zu wollen, wäre gleichbedeutend mit dem Aufstand gegen ein Naturgesetz.“ Und „Wenn nichts und niemand außer dem Menschen so etwas wie Vergangenheit kannte, lag die Vermutung nahe, dass es sich um eine menschliche Erfindung handelte.“

Dieser Roman ist eine Zustandsbeschreibung eines Dorfes in der ehemaligen DDR, in dem die Menschen mit den Umbrüchen nicht klarkommen. Ich bin bei der Lektüre geneigt, besser zu verstehen, wo die hohen Zustimmungsraten für eine Gruppierung wie die AfD herkommen.

„70 Kilometer weiter hatte sich Berlin im Freudentaumel befunden, während in Unterleuten ein fiebriger Schockzustand herrschte, der das Blut erhitzte und die Gehirne benebelte. Von denen, die fortgingen, hieß es bald, sie hätten für die Stasi gearbeitet, und mit einem Mal wohnten selbsternannte Opfer in den verlassenen Häusern. Wer sich enteignet fühlte, nahm sich etwas anderes zur Entschädigung und erzählte über jenen, dem es gehörte, die schlimmsten Geschichten. Grundsätzlich waren die eigenen Kinder nicht aus Dummheit, sondern aus politischen Gründen durchs Abitur gefallen. Berufliches Scheitern taugte plötzlich als Beweis für geleisteten Widerstand gegen das Unrechtssystem, so dass die größten Versager mit geschwellter Brust umherspazierten und den Erfolgreichen vorwarfen, sie hätten auf den Schößen der Bonzen gesessen.“

Doch auch die Wessis sind nicht besser, einige von ihnen sind „Killjoys“, die komplizierte Argumentationen entwickeln, „um eigene Defizite dem System anzulasten“. Und auch in diesem Dorf ist es spürbar: „Die neoliberale Ideologie, getarnt als Mischung aus Pragmatismus und Leistungsgerechtigkeit, eroberte die letzten Winkel des gesellschaftlichen Lebens.“

Ein düsteres Bild wird hier gezeigt, ein faszinierender Roman vor uns aufgeblättert. Ein Wenderoman, so schrecklich dieser Begriff ist. Fern von der üblichen Larmoyanz ostdeutscher Autoren beschreibt dieser Bilderbogen aus Unterleuten, wie es unter Leuten zugeht. Das Ende wird hier nicht verraten, nur dass die Autorin sich gedacht haben muss, jetzt muss ich mit dem Roman zu einem Ende kommen und sogar noch eine neue Figur einführt, die uns in einem Epilog über alles oder fast alles aufklärt, was noch zu sagen bleibt.

Mir bleiben nur meine Schlusssätze: Lesen Sie diesen Roman!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle!

Über die allgemeine Lust am Fabulieren

Vielleicht zunächst der Plot: In den Wirren des Bürgerkriegs in Angola, die sich an die Unabhängigkeit des Landes von Portugal anschlossen, kapselt sich die Portugiesin Ludovica, die mit ihrem Schwager und ihrer Schwester nach Luanda gekommen war, von ihrer Außenwelt hermetisch ab. Ihre Angehörigen kommen ums Leben, sie wiederum erschießt einen Marodeur, der in ihre Wohnung einzudringen versucht und den sie anschließend in der Penthauswohnung vergräbt. Sie lebt von ihren Vorräten, sie hält sich viele Jahre über Wasser. Am Ende als alte Frau, wird sie ihre Tochter, das Produkt einer Vergewaltigung treffen. Viele Menschen, die direkt oder indirekt ihren Weg gekreuzt haben, versammeln sich in ihrer Wohnung und damit treffen sich die vielen Erzählstränge des Buches dann und führen das Personal des Romans in genialer Weise zusammen. Ludovicas Leben, mehr deren Nichtleben, wird dem Vergessen entrissen. Und die vielen anderen Leben werden auch, teilweise auf kuriose Weise miteinander verbunden, vor unser aller Augen aufgelöst und in Beziehung zu einander gesetzt. Dabei erzählt der Autor nicht unendlich langatmig von den Einzelschicksalen, sondern eher einem Karikaturisten gleich, gelingt es ihm in wenigen Strichen, das Leben seiner „Helden“ zu skizzieren und dennoch so plastisch deutlich werden zu lassen, dass die Lektüre einen ungemeinen Sog entfacht und man den Roman, wie ein sehr durstiger Mensch, der das Wasserglas nicht absetzen will, bevor der letzte Tropfen getrunken ist, nicht aus den Händen legen möchte, bevor nicht die Seite mit der Danksagung des Autors erreicht wurde.

Und nun einmal Hand auf’s Herz, kann ein Roman schlecht sein, der Kapitelüberschriften trägt wie „Die subtile Architektur des Zufälligen“ oder „Einer, der Verschwinden sammelt“?

Natürlich nicht!

Dieser Roman ist ein toller Wurf, ein ganz großes Stück Literatur. Man darf sich nicht von seinem Titel abschrecken lassen „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“. Der Verfasser ist ein großartiger portugiesischer Schriftsteller, der in Angola geboren wurde. Seinen Namen muss man sich merken, ich jedenfalls bin gewillt, es zu tun: José Eduardo Agualusa!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!

Im Lehmann Universum

Bevor ich in einiger Zeit, den neuen Roman von Sven Regner „Wiener Straße“ lesen werde, hatte ich mir gedacht, es wäre sinnvoll, den ersten Roman des Autors zu lesen: „Herr Lehmann“.

Der Herr Lehmann, der seit einem Scherz, der irgendwann einmal gemacht worden war, Herr Lehmann auch für seine Freunde hieß und nicht mehr Frank, dieser Herr Lehmann, der es doof findet, Herr Lehmann genannt und dann geduzt zu werden, geht auf die 30 zu. Wir begleiten ihn von Anfang September des Jahres 1989 bis zu seinem Geburtstag, dem 9. November.

In dieser Zeit findet er eine neue Freundin, die Katrin und verliert sie auch wieder, besuchen ihn seine Eltern aus Bremen und kümmert er sich um seinen besten Freund, den Karl, dem es immer schlechter geht, je näher seine erste Kunstausstellung in Charlottenburg rückt.

Der Roman spielt im guten alten Westberlin. Der Insel der Glückseligen, der Wehrdienstverweigerer und der guten Menschen, voller Herzlichkeit und Wärme. Er spiel im Kreuzberg, in SO 36, nicht in dem bürgerlichen Teil 61, in das man höchstens sich auf ein Bier mal hin verirren kann. Keineswegs aber in Neukölln. Der Roman trieft von Alkohol, er ist voller witziger Dialoge, die man sich so wunderbar vorstellen kann, wenn man sich noch selbst eine Erinnerung an diese Zeit bewahrt hat.

Ein Höhepunkt des Romans, die Schilderung einen Busfahrschein – das sogenannte Kudamm Ticket – im Bus zu erwerben. Die Herzlichkeit der BVG-Busfahrer, an der sich bis zum heutigen Tage nichts geändert zu haben scheint. Oder der Dialog mit einem DDR-Grenzposten, als unser Herr Lehmann mit 500 DM erwischt wird, die er im Auftrag seiner Großmutter einer Verwandten im Ostsektor überbringen soll. Das ist ganz große Kunst, die aus einer feinen Beobachtungsgabe gespeist wird.

Wer immer diesen Roman noch nicht gelesen haben sollte, hat dies jetzt ganz schnell nachzuholen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!

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