Merkwürdig.
Da erhält ein Autor den Pulitzer Preis im Jahre 2002, da verfilmt HBO das Buch in einem Zweiteiler und erst im Jahre 2010 gibt es eine deutsche Übersetzung des Romans von Richard Russo. Die Übersetzung, die ich nicht durchgehend gelungen fand, trägt den Titel „Diese gottverdammten Träume“. Vielleicht auch dies ein Grund, warum dieses Buch in Deutschland kein Verkaufserfolg war. Auf die Werke eines anderen Amerikaners, Jonathan Franzen, der übrigens mit seinem Roman „Die Korrekturen“ in direkter Konkurrenz zu Russos Roman beim Pulitzer Preis unterlag, musste man nicht so lange mit einer Übersetzung warten.
Die Originalausgabe Russos Roman heißt „Empire Falls“ und das ist der weitaus schlüssigere Titel. Empire Falls ist eine erdachte Kleinstadt im US-Bundesstaat Maine. Das ist der einzige Bundesstaat der USA, der nur einen US – amerikanischen Nachbarstaat hat, nämlich New Hampshire. Ansonsten Kanada und das Meer.
Der Roman spielt im Jahre 2000 und blendet manchmal zurück in die sechziger Jahre als Miles Roby noch ein Junge war. Da war der Ort noch voller Leben, die Leute hatten Jobs. Es hing zwar alles von den Unternehmen der alles beeinflussenden Familie Whiting ab, aber man lebte gut. Hatte Arbeit in der Textil- oder der Papierfabrik. Die Leute genossen einen bescheidenen Wohlstand. Man kannte sich und niemand hatte die Absicht aus dem Ort wegzugehen. Man ging hier zur Schule, bekam eine Arbeit, heiratete und dann kamen die Kinder, die dann hier auch zur Schule gehen würden.
Miles darf mit Hilfe eines Stipendiums auf ein College, weit genug weg von seiner Heimatstadt, um nicht an den Wochenenden nach Hause zu kommen. Seine Mutter, Grace, wollte das so. Er musste es ihr versprechen. Sie selbst ist zu dieser Zeit schon das Mädchen für alles bei Mrs Whiting. Deren Mann hat sie verlassen und lebt in Mexiko. Die Whitings haben eine Tochter, Cindy. Dieses arme Kind ist Opfer eines Autounfalls und stark gehbehindert. Cindy ist in Roby verliebt. Die beiden sind fast zur gleichen Stunde im selben Krankenhaus zur Welt gekommen. Und Miles Mutter möchte gern, dass er sich mehr um dieses arme Kind kümmert.
Grace und er fahren eine Woche nach Martha’s Vineyard, der kleine Miles erlebt dort viel Neues, einiges wird er erst viele Jahre später verstehen und einordnen können.
Grace bekommt dann noch einen zweiten Sohn, David. Der Gatte ist meistens unterwegs, als Anstreicher verdient er Geld, das zu einem guten Teil nicht zum Unterhalt der Familie von ihm verwendet wird. Max, ist ein Schlitzohr, an sich interessiert, an anderen weniger. Als Miles fast schon seine Collegezeit hinter sich gebracht hat, wird er von Mrs Whiting nach Hause zitiert. Grace liegt im Sterben. Und so bricht Miles seine Zelte ab und kehrt auch wieder zurück nach Empire Falls. Dort arbeitet er in einem Diner, dessen Geschäftsführer er nach einer Zeit wird. Unnötig zu erwähnen, dass dieser Laden auch zu dem „Whiting Imperium“ gehört. Er heiratet, bekommt eine Tochter, Tick und es könnte nun die oben geschilderte Endlosschleife ablaufen. Jedoch, es kommt anders.
Mr Whiting hatte sich Jahre zuvor schon das Leben genommen, die Fabriken werden verkauft, schließlich geschlossen, die Menschen sind arbeitslos. Und Arbeit ist Mangelware in dieser Kleinstadt. Der Einfluss von Mrs Whiting ist allerdings ungebrochen, sie hält alle Fäden in der Hand, sie lässt alle nach ihrer Melodie tanzen.
Miles schafft es mit der Hilfe seines Bruders und anderer Menschen, den Diner am Leben zu halten, ihn sogar mit neuen Ideen für mehr Kundschaft attraktiv zu machen, aber er bleibt eben nur der Geschäftsführer dieses Ladens.
Im Laufe der Erzählung kommt Miles dem Geheimnis seiner Mutter auf die Spur. Er lebt inzwischen von Janine, seiner Frau getrennt, diese wird im Laufe der erzählten Geschichte wieder heiraten. Janine, wird mit dem Gatten Nummer zwei, Walt Comeau, nicht glücklich werden. Es ereignen sich viele lustige Geschichte und es geschieht etwas ganz Schreckliches.
Am Ende ist Miles, der zwischenzeitlich mit seiner Tochter eine Zeit auf Martha’s Vineyard war, wieder zurück in Empire Falls. Das Leben wird weitergehen.
Im Laufe der Lektüre habe ich mir ein Personenverzeichnis dieses Romans angelegt. Das erleichtert die Lektüre. Dieser Roman besitzt einen erheblichen Sog. Diese Geschichte, eine Alltagsgeschichte, ließ mich nicht los.
Die Typen sind prächtig, die hier auftreten. Max zum Beispiel, allein seine Geschichte ist grandios. Der katholische Priester Mark, der Vorgänger Tom, inzwischen dement. Die Familie Minty, der alte, ein bezahlter Schläger, dessen Sohn Polizist, man könnte auch sagen, dass er damit exakt in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist. Und von seinem Sohn Zack ist auch nichts Gutes zu erwarten. Der arme Walt, zum Kartenspiel und zum Armdrücken zu blöd.
Ach, ich komme schon wieder ins Fabulieren.
Es hilft nichts, liebe Leserin, dieser Zeilen. Sie müssen selbst zu diesem Buch greifen und es lesen.
Ich beneide Sie schon jetzt um dieses Vergnügen.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Sie kennen natürlich Quentin Tarantino. Sie haben Filme von ihm gesehen, „Inglourious Basterds“ oder „Django Unchained“ vielleicht? Weshalb fange ich mit diesen Bemerkungen an? Weil mir während der Lektüre des Romans „Die Mauer“ von Max Annas immer wieder dieser Regisseur einfiel, wie er den Stoff dieses Thrillers filmisch umsetzen könnte.
Wir befinden uns in Südafrika nach der Apartheid. Der junge Farbige Moses muss wegen einer Panne seines Autos in unmittelbarer Nähe einer geschützten Wohnanlage, einer „gated community“, halten, der Akku seines Mobiltelefons ist leer und nun ist guter Rat teuer, woher man Hilfe bekommen kann. Er erinnert sich eines weißen Kommilitonen, der genau in dieser Anlage lebt. Nur sehen die Häuser mehr oder weniger gleich aus, wie das Haus finden? An anderer Stelle der Anlage bricht ein junges Paar, auch sie Farbige, in eines der Häuser ein; sie hatten vorher schon einem anderen Haus einen Besuch abgestattet. In diesem Haus finden sie eine Leiche, noch nicht kalt, in einer Tiefkühltruhe. So einfach wieder aus dem Haus raus, geht nicht, weil deren Besitzer und auch Mörder der weißen Frau, die nun in der Tiefkühltruhe „zwischengelagert“ wird, zurückkehren. Moses wird unterdessen von weißen Leuten angesprochen, was er denn hier zu tun habe. Er läuft weg und dieses Weglaufen wird ihn die nächsten Stunden beschäftigen. Dabei kommt er in immer größere Schwierigkeiten, weil er sich einer „Festnahme“ durch Gegenwehr immer wieder entzieht. Der Wachdienst macht Jagd auf ihn, die Polizei kommt dazu, setzt einen Suchhund ein, der die Verfolger zu dem Haus mit der Leiche bringt. Es gibt eine Serie von Schusswechseln, es gibt eine Menge Tote. Diese Szenen hätte Tarantino in Zeitlupe gedreht, hätte das Blut nur so spritzen lassen. Dann am Ende liegen viele Leichen auf den Straßen dieser „gated community“. Und mir ist klar, dass das kein sicherer Lebensraum ist. Die Mauer schützt die Anwohner nicht. Das eigentliche Ende des Romans verrate ich natürlich nicht, denn dieses Buch muss man selbst lesen. Die Gleichzeitigkeit der vielen Handlungen lässt der Autor durch knappe Abschnitte überzeugend entstehen. Der Roman ist witzig, trotz vieler brutaler Szenen. Dieser Autor hat ein rundum gelungenes Buch geschrieben. Man wir es verschlingen, weil es den Leser erst wieder loslässt, nachdem das letzte Kapitel verschlungen worden ist.
Ganz großes Kino!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Für den Roman „Die Hauptstadt“ hat Robert Menasse den Deutschen Buchpreis erhalten. Das sichert Aufmerksamkeit und steigert die Verkaufszahlen. Das rechtfertigt, sich den Roman kritisch anzuschauen.
Wir befinden uns in der Hauptstadt Europas, die es natürlich nicht gibt, weil es ja auch keine Vereinigten Staaten von Europa gibt. Wir befinden uns in Brüssel, dort wo die Bürokratie angeblich zu Hause ist, wo alles von diesen Eurokraten gelenkt und gesteuert wird. Die Glühlampen und die Duschköpfe und Quoten auf bestimmte Produkte und und und. So hetzen ja gerade in den letzten Jahren die Gegner der Europäischen Gemeinschaft und haben leider Zulauf.
Menasse hat sich in Brüssel und in der Kommission sehr genau umgesehen und er hat daraus einen Roman entstehen lassen, der viele Handlungsstränge umfasst und der nicht zu Ende erzählt wurde. Am Ende des Romans steht: „Á suivre:“ Und das freut den Leser, die Leserin, denn dieser Roman ist komisch und süffig erzählt. Beseelt ist er von dem Gedanken, ein einheitliches Europa zu schaffen, mehr als nur eine lose Staatengemeinschaft.
Dafür jagt er wortwörtlich eine Sau durch die Stadt, dafür geschieht ein Mord, dafür kommen die Beamten auf sonderliche Ideen, wie man das Jubiläumsprojekt der EU ausgestalten sollte. Dafür ist dieses Werk mit grandiosen Gedanken und famosen Metaphern vollgestopft.
Wie etwa diese Metapher über den Selbstzweifel: „Der Selbstzweifel, so empfand sie es, überzog wie eine Schuppenflechte ihre Erscheinung.“
Oder jene Beschreibung der Nichtigkeit unserer menschlichen Existenz: „Der Mensch kann vom Zeitpunkt seiner Geburt zurück und zurück denken, ewig, ewig zurück, er wird zu keinem Anfang kommen und mit seinem läppischen Begriff von Zeit nur eines begreifen: Er ist, bevor er war, ewig nicht gewesen. Und er kann vorausdenken, vom Moment seines Todes an in alle Zukunft, er wird zu keinem Ende kommen, nur zu dieser Einsicht: Er wird ewig nicht mehr sein. Und das Zwischenspiel zwischen Ewigkeit und Ewigkeit ist die Zeit – das Lärmen, das Stimmengewirr, das Maschinengestampfe, das Dröhnen von Motoren, das Knallen der Waffen, das Schmerzengeschrei und die verzweifelten Lustschreie, die das Donnergrollen und Angstkeuchen im mikroskopischen Terrarium der Erde.“
Die stupenden Erkenntnisse und Beschreibungen, in meisterlicher Verknappung: „Er täuschte Begehren vor, sie täuschte einen Orgasmus vor.“
„Er hasste Touristen, diese Jäger nach der Bestätigung von Klischees, die sie in ihren Köpfen mitbrachten, Menschen, die ihre Augen durch Tablets und Fotoapparate ersetzt hatte.“
Die großen Wahrheiten in famos schlichten Sätzen: „Von einem Bier zu träumen, löscht keinen Durst.“ Oder „Geschichte ist nichts anderes als eine Pendelbewegung zwischen Pathos und Banalität.“, und „Der Rest des Lebens beginnt mit Champagner und endet mit Kräutertee.“
Die perfekte Beschreibung des Zustandes vieler Dienstreisenden, ob sie nun nach Brüssel oder sonst wo hinmüssen: „Er hatte sich geärgert, weil er wieder nach Brüssel geflogen ist, zum zweiten Meeting des New Pact for Europe – Think Tanks. Er hatte sich geärgert als er den Flug buchte, er hatte sich geärgert als er den Koffer packte, geärgert im Taxi zum Flughafen, im Flugzeug gekocht vor Wut über sich selbst, er war aggressiv zu der flötenden jungen Frau an der Rezeption beim Einchecken ins Hotel Atlas, weil ihm das alles so furchtbar auf die Nerven ging, dieses wichtigtuerische Trolley – Rollen in Brüssel, dieses bedeutsame Eilen zu Meetings, dieses Beantworten von Floskeln mit Floskeln, die raunende Transformation von keinen Ideen in ein babylonisches Kauderwelsch, es erschien ihm sinnlos, völlig aussichtslos, es war verbrannte Zeit.“ Und die ebenso perfekte Beschreibung der Zeit zwischen Ende eines Treffens und dem Rückflug: „Er hatte vor bis zur Gare Central zu fahren und dort einen Zug zum Flughafen zu nehmen, aber er wäre viel zu früh am Flughafen gewesen, würde, um die Zeit totzuschlagen, apathisch durch Tax Free Shops wandern, schließlich ein schlechtes Sandwich essen, ein Bier trinken, aus Langeweile noch ein Bier, dann wieder herum gehen, einen Kaffee trinken, dann irgendwo sitzen und warten, schließlich würde er, weil die Zeit nicht und nicht verging, belgische Schokolade kaufen, weil man Schokolade aus Belgien mitbrachte, aber er hatte niemanden dem er etwas mitbringen könnte oder wollte.“
Die Erkenntnis des Reisenden, der an internationalen Gesprächen und Verhandlungen teilnimmt: „Das Problem mit Fremdsprachen, wusste er, wenn man sie nicht zumindest stiefmuttersprachlich beherrschte, war, dass man immer nur sagt, was man sagen kann, und nicht, was man sagen will.“
Die wirklich komischste Szene über die üblichen kleinen Stehempfänge, bei denen man nie weiß, wie man ein Glas, einen Teller und seine Reiseutensilien gleichzeitig unter Kontrolle halten kann: „Er nahm jetzt die Tasche wieder in die linke Hand, um die Rechte frei zu haben, damit er einen Teller halten konnte, aber wie sollte er jetzt den Nudelsalat oder das Roastbeef auf den Teller geben? Er klemmte die Tasche unter die linke Achsel, nahm den Teller in die linke Hand, versuchte mit der rechten etwas Nudelsalat aus der Schüssel – da fiel die Tasche zu Boden. Er bückte sich, um sie aufzuheben, dabei rutschte der Nudelsalat, den er bereits auf seinen Teller geschaufelt hatte auf den Boden. Er stellte die Tasche wieder ab, sie fiel um, das machte ihn seltsamerweise nervös, dass die Tasche nicht stand, sondern lag. Er nahm sie und lehnte sie an die Wand, irgendwie beunruhigte ihn das, dass dort die Tasche lehnte und er, wenn er sich am Buffet bediente so weit weg von ihr war, also stellte er seinen Teller ab holte die Tasche wieder, stellte sie zwischen die Füße während er sich am Buffet bediente, nun musste er zu einem der Stehtische gelangen, er versuchte den Teller in der Rechten, einen Becher mit Apfelsaft in der Linken, mit kleinen engen Schritten die Tasche zwischen seinen Füßen irgendwie mitzunehmen, dabei wäre er fast gestolpert, nun gab er der Tasche einen leichten Tritt, machte einen Schritt und gab der Tasche wieder einen Schubs mit dem Fuß, um sie so bis zum Tisch vor sich herzuschieben und spätestens jetzt stand er beziehungsweise seine Tasche im Zentrum der Aufmerksamkeit.“
Doch das alles ist nicht der Kern seines Romans, den formuliert er sehr einfach. Erstens mit den Worten eines seiner „Helden“: „Die Kommission ist keine internationale, sondern eine supranationale Institution, sie vermittelt also nicht zwischen Nationen, sondern steht über den Nationen und vertritt die gemeinsamen Interessen der Union und ihrer Bürger. Sie sucht nicht Kompromisse zwischen Nationen, sie will die klassischen nationalen Konflikte und Widersprüche in einer nationalen Entwicklung überwinden, also im Gemeinsamen. Es geht um das, was die Bürger dieses Kontinents verbindet, und nicht um das, was sie trennt. Monnet hat geschrieben: Nationale Interessen sind abstrakt, das Gemeinsame der Europäer ist konkret.“
Und zweitens mit einem Zitat des großen Jean Monnet: „Alle unsere Anstrengungen sind die Lehre unserer historischen Erfahrung: Nationalismus führt zu Rassismus und Krieg, in radikaler Konsequenz zu Auschwitz.“
Spätestens jetzt wird der Leserin klar, wieso Nationalisten gegen die EU Stellung beziehen und weshalb es sich lohnt, für Europa einzutreten. Wir müssen uns an diese Idee eines vereinigten Europas immer wieder erinnern, das ist unsere Verpflichtung, denn: „Tous passe, tout s’efface hors du souvenir.“
Der Roman ist noch nicht zu Ende geschrieben und daher freute ich mich über dessen letzten Satz! „Á suivre:“
Das ist ein großer Roman.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Zu Beginn der Lektüre des nahezu 500 Seiten umfassenden Romans habe ich mich mehrfach gefragt, was die Autorin eigentlich schreiben wollte. Sollte es ein Sachbuch werden, eines, das von den langsam mahlenden Mühlen der Justiz handelt. Von den schlecht ausgestatteten Gerichten, in denen sich die Fälle stapeln, die Kammern gar nicht hinterherkommen. Sollte es eine Sammlung interessanter Fälle sein, die da vor uns ausgebreitet wird. Keine Mordfälle, vielmehr die vielen kleinen, manchmal allerdings auch großen Fälle aus dem Zivilrecht, die Streitigkeiten unter Verwandten, aber auch die weiße Kragenkriminalität. Aber alles das ist der Roman nicht oder nicht nur. Vor allem ist er eine grandios erzählte Geschichte eines erfüllten Lebens. Nicht von Ungefähr betont die Hauptperson dieses Romans an vielen Stellen einen Satz: „Hatte ich ein Glück!“.
Ja, das ist es: Die Beschreibung eines Lebens. Eines glücklichen Lebens, auch wenn man das manchmal selbst gar nicht so sieht oder sehen will. Unsere Protagonistin ist die Tochter eines berühmten Schauspielers und einer Frau, die gern Jura studiert hätte. Aber die Umstände sind nicht so. Die Tochter kommt zum Großvater, einem Juristen, der mit seinen zwei Schwägerinnen ein kleines Häuschen in Pasing bewohnt. Später wird die junge Frau, dann schon selbst Juristin, das Haus übernehmen und darin wohnen bleiben. Einmal muss ich den Namen der Protagonistin nennen: Thirza Zorniger. Diese Namensfindung hat Anklänge an Fontane, der seinen Figuren auch nur selten vernünftige Namen zu geben imstande war. Egal, das Leben unserer Protagonistin verläuft in ruhigen Bahnen, sie hat beruflich Erfolg, sie lernt die Liebe, die große Liebe kennen, sie wird älter, bleibt von Schicksalsschlägen nicht verschont und wird in nicht allzu ferner Zukunft pensioniert. Zwischen diesem persönlichen Erzählstrang ist immer wieder sehr anschaulich, sehr unterhaltsam der prozessuale Alltag eingewebt. Sehr erhellend und fast immer auch erheiternd. Ein wenig erinnerten mich manche Fallbeschreibungen an die Geschichten, mit denen sich der Anwalt Liebling, erst in Kreuzberg, später in Mitte zu beschäftigen hatte.
Der schöne Stil der Erzählung, manchmal nur mit wenigen Worten, einen komplizierten Sachverhalt darstellend, der feine Humor und die vielen Lebensweisheiten machen die Lektüre zu einem Vergnügen. So erklärt Petra Morsbach, die Autorin, die für diesen Roman „Justizpalast“ mit dem Wilhelm Raabe Preis ausgezeichnet wurde, zum Beispiel die folgenden interessanten Hintergründe: „Seit dem Aufkommen der Rechtsschutzversicherungen wird immer mehr prozessiert, inzwischen geht man auch bei geringen Streitwerten immer unbedenklicher in die nächste Instanz, inadäquate Prozesskosten schrecken nicht mehr.“
Ihre Heldin lebt nach dem Motto: „Ein Anspruch auf Liebe gehört nicht in den Grundrechtekatalog.“ Und sie fährt damit nicht so schlecht, denn sie erlebt, wie bereits geschrieben, durchaus diese große Liebe: „Dieser Zufall führte über ein schmerzhaftes Intermezzo der Ungewissheit zur machtvoll glückenden Vereinigung, nach deren weidlicher Bestätigung beide Helden ihn als vorbestimmt erkannten. Jener Zufall also, eigentlich das Ergebnis einer kleinen Kette von Zufällen, krönte zwei lange Ketten von Zufällen, die ihre Biographien geformt hatten. Kurz: Ihre Leben hatten sich aufeinander zubewegt!“.
Und Petra Morsbach schreibt uns auch einige Sätze in unser Stammbuch, die gerade in der aktuellen Situation, wo eine Horde von rechten Dumpfbacken im Deutschen Bundestag sitzt, von besonderer Bedeutung sind: „Der Rechtsstaat ist kein selbsterhaltendes System, das man nach Anforderung regulieren könnte. Er braucht absoluten Anspruch, Anpassung löst ihn auf. Wenn Sie aus Feigheit oder Bequemlichkeit Ihre Frauenrechte hergeben, nutzen Sie den unterdrückten Frauen in Afrika oder Arabien überhaupt nichts; im Gegenteil, Sie verraten alle, die um Freiheit kämpfen. Demokratie ist künstliche, hochdifferenzierte, nur mit andauernder Mühsal und Kritik zu verteidigende Kultur. Grundrechte sind kein Selbstläufer. Wer die Chance hat, sie zu verteidigen, hat die Pflicht, sie zu verteidigen, und wer sie nicht verteidigt, hat sie nicht verdient.“
Später lässt sie einen der Protagonisten den griechischen Politiker Perikles zitieren: „Sei Dir gewiss, dass das Geheimnis des Glücks die Freiheit ist und das Geheimnis der Freiheit der Mut.“
Dieser Roman macht Mut und ist eine Quelle, die das ganz persönliche Glück, das private Glücksgefühl zu speisen versteht.
Es bleibt mir nur mein Schlusssatz: Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Was mir an Krimis, sogar an dem von mir doch so geschätzten Tatort, nicht gefällt, ist die Eindimensionalität. Da geschieht ein Verbrechen, die Polizei beginnt die Ermittlung und nach 90 Minuten oder 400 Seiten ist der Täter gefasst, alle Hintergründe der Tat sind geklärt und man kann wieder in den Alltag zurückkehren.
Bei dem Roman „Die Erfinder des Todes“ von Val McDermid ist das anders. Hier gibt es mehrere Fälle, hier werden parallele Geschichten erzählt. Die Polizei bedient sich der Hilfe einer Profilerin, um die Fälle zu lösen. Unsere Zentralfigur Fiona wird auch von der spanischen Polizei um Hilfe in einem Fall gebeten, so dass wir ihre Arbeitsweise in Toledo näher kennenlernen können. In England werden zwei Fälle sie beschäftigen und das auf besondere Weise, weil sie in den einen sehr persönlich einbezogen wird. Ein Serienkiller hat es auf Krimischriftsteller abgesehen. Er ermordet diese anhand von Beschreibungen aus deren eigenen Romanen. Und da ihr Lebensgefährte selbst zu den Krimiautoren gehört, kommt es, wie es kommen muss. Kann die Frau, ihren Liebsten retten, bevor dieser, seinem Mörder zum Opfer gefallen sein wird?
Und damit die ganze Geschichte noch ein wenig mehr ineinander verdreht wird, hat Fiona vor vielen Jahren ihre Schwester verloren. Diese wurde Opfer eines Killers, der nie gefasst wurde. Ihr hängt dieses Verbrechen noch immer in Träumen nach. Und auch der Serienkiller hat natürlich eine ihm nachhängende Vergangenheit, weshalb der Originaltitel „Killing the Shadows“ gut gewählt ist.
Also ein guter, ein spannender, ein schnell zu lesender Kriminalroman? Die Antwort ist nein, mitnichten. Selten habe ich mich so durch einen Roman gequält. Er hatte mich nicht, nie, gepackt. Und nur meinem Impuls nachgebend, mich anderen Lektüren zuwenden zu wollen, brachte mich dazu, diesen Krimi durchzulesen.
Schade, wieviel lieber ende ich mit einem positiven Votum. Hier bleibt mir nur zu sagen: diesen Roman muss man nicht gelesen haben!
Um den neuen Roman von Klaus Modick zu mögen, muss man kein Werk von Eduard von Keyserling gelesen haben. Hat man es aber getan, wird die Hochachtung vor dem Autor Modick noch größer ausfallen als ohnehin schon. Modick trifft den „Keyserling Sound“. Und das ist stilistisch großartig, das ist große Kunst.
Hat sich Modick in seinem letzten Roman an einem Bild aus Worpswede abgearbeitet, dem Konzert ohne Dichter, so tritt jetzt das Porträt des Romanciers Eduard von Keyserling in den Mittelpunkt. Das Bild hat Lovis Corinth 1901 am Starnberger See angefertigt. Es zeigt einen Mann mittleren Alters mit Glubschaugen. Ein verlebtes Gesicht, dümmlich und traurig schaut es an uns vorbei. Der Mann hält den Hut auf dem Schoß, vielleicht um sich an etwas festzuhalten. Er sieht nicht gesund aus.
Keyserling hat sich die Syphilis geholt. Jene Krankheit, die insbesondere die jungen wohlhabenden Menschen treffen konnte, und Künstler, wobei letztere zu sein, das erste nicht ausschließt. Es ist eine kleine Geschichte, die hier natürlich nicht ausgestellt werden wird, weil man dann das Buch nicht mehr lesen wollen müsste. Ich möchte aber gern, dass dieses Buch gelesen wird.
Es erzählt von dem Sommer am Starnberger See bei Freunden. Dem Dichter Max Halbe und dem Maler Corinth. Beide in Begleitung ihrer Partnerinnen. Über Halbes Werk „Jugend“ lässt er Keyserling sagen: „Ein Geniestreich mit dem unverschämt schlauen Titel. Warum Jugend so ein großes Thema ist? Weil jeder sie kennt, und weil sie vergeht, weil es nicht von Dauer ist könnte auch Glück so ein Thema sein, nur das, leider, nicht jeder das Glück kennt.“
Er räsoniert über Kritiker: „Manche Kritiker nehmen Bücher doch nur zur Hand, um sich zu ärgern. Da könnte man manchmal fast den Eindruck gewinnen, Kritik sei Besserwisserei derjenigen, denen es an Talent fehlt, über die Leistung derer, die Talent haben.“
Über die Abende in den Künstlerkneipen: „Man tagt oft bis in die Morgenstunden in Tabakwolken und Bierdunst, schwelgt in Würsten, Haxen und Sauerkraut, redet, diskutiert, mit jedem Glas selbstvergessener und zugleich von sich selbst begeisterter. Der eine erzählt, was ihn wieder alles gelungen ist, von seinen Triumphen, der andere, warum es ihm wieder mal nicht gelungen ist, von seinen Krisen, der Dritte, wie er es gern gehabt hätte, von seinen Wünschen, der Vierte fantasiert von seinen sexuellen Sehnsüchten, der Fünfte prahlt mit seinen erotischen Eroberungen, der Sechste bejammert die x-te Enttäuschung seines Lebens. So reden sie miteinander und aneinander vorbei, fallen sich gegenseitig ins Wort, als wäre endlich der Moment gekommen, da genau dieses Wort ausgesprochen werden müsste.“
Modick lässt seinem Keyserling einige Weisheiten durch den Kopf gehen: „Man kann aus seinem Leben nicht immer das machen, was man daraus machen will. Meistens macht das Leben nämlich, was es will, sozusagen ungefragt. Es ist ja alles anders gekommen. Wegen der leidigen Affäre in Dorpat [das ist die Andeutung des Geheimnisses, um das es im Kern des Romans geht]. Aber vielleicht war die Sache gar nicht dumm, sondern ein Glücksfall, das große, unverdiente Los. Wenn es Korrekturbogen des Lebens gäbe, in denen man nach Belieben die Fehler ausmerzen könnte, die man im Leben gemacht hat, oder hinzufügen könnte, was einen im Leben fehlt, wenn es also solche Fahnenabzüge eines Lebenslaufs gäbe, würde er dann die Dorpater Dummheit streichen?“
Wer Keyserlings Werk nicht kennt, sollte zuallererst Wellen lesen oder eine andere, der nie sehr langen Geschichten. Immer sind es kleine Juwelen. Deren Sprache geschliffen und mit wenigen Worten entstehen wundersame Bilder.
Diese Kunst, ich habe es bereits angedeutet, beherrscht Klaus Modick auch. Und so gibt es eine Fülle von Bildern mit wenigen Worten hingetupft. „Wagengerassel, Stimmengewirr, muntere Drehorgelklänge, das Klingeln einer Pferdebahn weckten ihn. Sonne fingerte durch die gelben Vorhänge, Lichtflocken vibrierten über den Flor des Teppichs. Als er in die morgendliche Betriebsamkeit des Naschmarkts hinaustrat, ließ die Sonne das Straßenpflaster funkeln, den aufwirbelnden Staub glänzen, und die Kastanienbäume flimmerten wie mit Goldstaub besprüht. Die Passanten schienen alle ein Lächeln auf den Lippen zu haben. Im Schatten der Korbmarkise eines Cafés frühstückte er, und das bunte Leben und bestens gelaunte Treiben ließen die Ängste der Nacht schrumpfen wie die Haube aus Milchschaum auf der Mélange.“
Und meine Lieblingsstellen dieses Romans: „Über Schwabings Dächer zieht ein zarter rötlicher Schimmer. Eine Amsel beginnt zu singen, eine andere antwortet. Irgendwo grölen letzte Betrunkene etwas von Suff und Gemütlichkeit. In einem Hinterhof kräht ein Hahn.“
„So, denkt er, während der Schlaf sich sanft auf ihn legt, geht es auch mit unseren Erinnerungen. Aus den dunkler werdenden Fluren des Vergessens blitzen sie auf, plötzlich und unerwartet, doch kaum hat man einen Blick auf sie geworfen, fällt die Tür wieder zu und man tastet sich weiter. Man kann diese Lichtblicke aber einsammeln, wenn man sie notiert. Dabei geht einem dann manchmal das sprichwörtliche Licht auf. Es strahlt zwar nicht mehr die Jungfräulichkeit des wirklich gewesenen, lebendigen Augenblicks aus, ist aber doch eine Laterne, deren Schein verzaubernd und tröstlich sein kann.“
„Im Osten streicht die Morgenröte mit Rosenfingern übers schläfrige Grün des Waldrands.“
Wegen solcher Sentenzen ist „Keyserlings Geheimnis“ so lesenswert.
Es bleibt mir nur mein Schlusssatz: Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Ein Dialog.
Zwei Männer im mittleren Alter, die sich um den Schlepplift eines kleinen Schweizer Dorfes kümmern. Der Paul und der Georg. Aus jeder kleinen Beobachtung folgt eine Geschichte aus der Schulzeit oder aus dem Dorf, in dem die beiden leben. Über die Wünsche des einen, die Entwicklung seines Sohnes betreffend und die Ansichten des anderen, der alle dienstlichen Belange fein säuberlich in einem Journal festhält. Der Andrang an Touristen, die auf den Berg gezogen werden wollen, hält sich offensichtlich in Grenzen. Der Klimawandel setzt Ihnen zu, weil der Gletscher oberhalb des Schlepplifts weniger wird. „Man müsste fast meinen, es wird immer wärmer, so wie die Wetterfrösche im Fernsehen immer sagen, aber der andere da aus LaMerica, der Strohkopf mit den gelben Haaren, behauptet immer noch felsenfest, das sei alles nur gelogen. Wie der diese Frisur hin bekommt jeden Tag von neuem, das ist erstaunlich.“
Man philosophiert miteinander und wundert sich, dass die Stunden des Tages nur so vergehen. Man erinnert sich an große Liebesaffären in ihrem Dorf, die kamen und wieder vergingen. „Mit dem Winter ist dann auch diese Liaison vergangen, dabei meint man am Anfang jedes Mal wieder von neuem es sei für immer.“
Der schmelzende Gletscher beunruhigt sie: „Letzte Nacht ist die Zunge vom Gletscher abgebrochen, sagt er, dass man es durchs ganze Tal hören konnte, wie es gekracht hat, die Claire hat mich noch geweckt und gesagt, der Gletscher kommt, und hat sich zu mir gekuschelt, als würde einem nur noch diese eine Nacht bleiben, das war dann schön, er lächelt vor sich hin und schaut man in ein paar Jahren hoch, ist der schöne Gletscher furt und furtibus, für immer und ewig, das große Reservoir, was einem bleibt, ist dann höchstens zu erzählen, wie es mal war.“
Dieses schmale Buch ist viel mehr als ein Roman über das Geschwätz zweier Hinterwäldler, es ist ganz großes Kino in einem ganz schmalen Bändchen verpackt. „Godot kommt nicht, sagt der Georg.“ Und damit trifft der Autor Arno Camenisch tatsächlich eine Assoziation der Lesenden. Dieses Bändchen „Der letzte Schnee“ hat etwas von jener Endzeitstimmung, in dem die Protagonisten Becketts auf Godot warten.
Der Schlepplift steht still, weil der Strom ausgefallen ist. Der Schneefall ist eher mäßig und so ist die Bilanz, als Paul fragt: „Was machen wir jetzt.? Das ist ja eine triste Sache, das mit dem Schnee, und jetzt ist uns auch noch der schöne Schlepplift abgelegen, die gute Seele, er verwirft die Hände, sobald man wieder aufsteht, kommt der nächste Schlag, und mit jedem Winter sind wir wieder ein paar Leute weniger im Tal, und auch die Sprache schmilzt dahin wie der Schnee, und wenn die Winter mal ganz abgeschafft sind, man will sich gar nicht ausmalen, was für ein Drehbuch der Herrgott im Himmel als Nächstes bereithält, wenn es hochkommt, beginnt er vermutlich noch, die Berge ins Tal zu stürzen und macht uns alle zu Staub.“
Und da versteht man, dass in diesem schmalen Band, der Versuch unternommen wird, ein Stück vom Verschwinden kleiner Dörfer, großer Gletscher und einem Stück uns lieb gewordener Welt zu schildern.
Und deshalb habe ich diese kurze Erzählung so gern gelesen: Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Die Literatur ist so unfassbar vielschichtig und immer wird man nur an ihrer Oberfläche ein wenig herumkratzen können. Es gehört zu den Einsichten, die man als Lesender akzeptieren muss, das literarische Universum nie auch nur annähernd durchdringen zu können.
Umso schöner ist es, wenn man auf Bücher hingewiesen wird, die wahrscheinlich keine „Bestseller“ werden, die es aber verdienten. Und für so einen Roman möchte ich hier werben: „Die schöne Fanny“ von Pedro Lenz!
Das Buch ist durch Raphael Urweider vom Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche übersetzt worden. Ich erwähne das deshalb, weil der Text mir sehr gelungen übersetzt zu sein scheint; mit einer Ausnahme: der Präposition „wegen“ folgt immer noch der Genetiv und nicht der Dativ!
Der Roman spielt im Oltener Künstlermilieu und die Sprache erinnert manchmal an die Lehmannromane des Sven Regener. Der Held der Geschichte, Frank Gobeur, der sich lieber Jackpot nennen lässt, möchte gern ein Schriftsteller sein. Er „arbeitet“ an einem Roman, wird von seinem Bruder finanziell unterstützt und manchmal durch Gewinne aus Sportwetten. Der Mann hat nichts zu tun, lungert bei seinen deutlich älteren Malerfreunden herum und begegnet dort eines Tages Fanny. Die junge Frau ist Studentin an der Kunsthochschule und steht den Malern als Modell zur Verfügung. Unsre Held verliebt sich natürlich in diese wunderschöne Frau und dann stellt sich bei ihm schnell die Eifersucht ein. Und das Problem ist nur die Eifersucht. Er leidet wie ein Hund, er erhebt Besitzansprüche auf diese junge unabhängige Frau, die frei sein, selbst ihre Leben bestimmen und sich nicht in einen Käfig, wie ein Singvogel sperren lassen will.
Unser Held braucht lange, um das zu begreifen, seine Freunde versuchen ihm zu helfen. Doch bis zum Schluss bleibt offen, ob er die Lektion gelernt hat.
Ich will nicht alles verraten, denn das Lesevergnügen sollte man sich selbst erschließen, nur so viel sei gesagt: Er vollendet tatsächlich seinen Roman und stellt ihn der Öffentlichkeit vor. Er begegnet auch der schönen Fanny wieder und es könnte alles wundervoll werden.
Der Roman liest sich in einem Fluss, er ist so locker und leicht geschrieben. Er enthält viele witzige Szenen und Sätze. Hier nur wenige Beispiele: „Mit Parkbußen ist es ähnlich wie mit dem ehelichen Beischlaf, es wird viel darüber geredet, aber passieren tuts selten.“
„Die Liebe, die Inspiration, die Kunst, der Rausch, die schönen Gedanken, alles, was wirklich zählt, ist sehr vergänglich, also flüchtig.“
„Sie hätten nur aus Freude gelacht, aus Freude an der Sportlichkeit der Katze, die eigentlich vom Alter her schon lange Golf spielen müsste, aber emotional noch näher beim Skateboarden sei.“
„Wir habe getrieben, was man damals getrieben hat, viel geraucht, viel experimentiert, lange in den Kneipen gesessen und darüber geredet, was man alles tun sollte und müsste, um diese Welt besser und gerechter zu machen. Hätte man damals all das umgesetzt, hätten wir heute paradiesische Zustände auf der Welt, ich sags dir, Jackpot. Leider haben wir mehr entworfen als umgesetzt.“
Ich hoffe, dieser Roman wird viele Leserinnen und Leser finden.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle und lesen Sie diesen Roman!
Knappe 500 Seiten in einer meisterlichen Sprache. Der Roman „Tyll“ von Daniel Kehlmann besitzt einen Sog, der die Lesenden in sich hineinzieht. Ein süffiger Text über den Till Eulenspiegel, dessen Leben in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Diese Erzählung verbunden mit der Beschreibung des Lebens des sogenannten Winterkönigs und seiner englischen Gemahlin. Und spätestens jetzt wissen geschichtlich gebildete Lesende, dass da etwas nicht stimmt. Eulenspiegel hat doch viel früher gelebt. Er soll im 14. Jahrhundert seine Streiche gespielt haben, aber doch nicht mehr im 17. Jahrhundert. Auch war die Pest nicht das Hauptproblem der Menschen während dieser Zeit. Wir sehen also, dass der Autor sich alle Freiheiten nimmt und alles wild zusammenmischt, was zu einer spannenden Geschichte gehört. Diese Freiheit will ich niemandem absprechen. Aber es darf dann die Frage erlaubt sein: warum tut er das? Will er uns die Grausamkeit der damaligen Zeit vor Augen führen? Kriege, sehr grausame Exemplare davon, haben wir heute noch genug. Das Leid der Menschen wird uns an jedem Abend pünktlich mit der Tagesschau frei Haus geliefert. Will er uns das Leben eines Schalks erzählen, eines Hofnarren? Warum nicht, warum rausgerissen aus der Zeit? Will er uns die Hexenverfolgung und die der Hexer verdeutlichen? Will er damit Parallelen zu unserer Gegenwart hervorheben?
Ich grübele und komme zu keiner Lösung. Dieses ganze Buch, dieser so sprachgewaltige Roman kann doch nicht nur so für sich stehen. Welchen Bezug hat der Autor im Sinn? Es fehlen am Ende des Werkes auch einige Auflösungen. Was passierte nächtens im Wald, als der Junge seine hochschwangere Mutter samt einer großen Fuhre Mehl begleiten sollte, die Mutter wegen der einsetzenden Wehen ihn dann allein in dem Wald zurückließ? Ist der Tyll ein Wiedergänger? Starb er im Schacht? Offenbar nicht, aber wie konnte er sich retten? Lose Enden. Geschenkt die Zeitsprünge, das vor und zurück in der Erzählung. Über allem bleibt die Frage: Wofür?
Ich kann es nicht beantworten; ich würde es aber gern. Ich kann die Lektüre dieses Romans empfehlen wegen seiner Sprachmächtigkeit, der Darstellung vieler Charaktere, der fulminanten Erzählweise. Nur meinen üblichen Spruch werden Sie hier vermissen.
Gerade hatte ich den Kriminalroman „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ von Oliver Bottini zu Ende gelesen, als ich in einem Fernsehbericht sah, dass in den ostdeutschen Bundesländern ein Kampf ums Ackerland entbrannt ist. Zunehmend wechseln Flächen von mehreren Tausend Hektar den Besitzer. Denn internationale Konzerne und Kapitalfonds haben Äcker und Wiesen als Renditeobjekte entdeckt. 41 % der Agrarbetriebe in Mecklenburg-Vorpommern befinden sich in den Händen von Großinvestoren, ihnen gehören circa 30 % des Bodens. Es werden Preise von bis zu 20.000 € pro Hektar gezahlt. Es entstehen große zusammenhängende Agrarflächen, die sich leichter bewirtschaften lassen, die kleinen Bauern aber keinen Raum für ihre Arbeit und ihre Art der Bewirtschaftung lassen.
Im Grunde handelt von diesem Skandal der genannte Roman. Er spielt zum großen Teil in Rumänien, zum Teil aber auch in Mecklenburg. Am Anfang dachte ich, dass die Geschichte viel zu kompliziert, das Personal der Geschichte viel zu weitschweifig angelegt sei, so dass ein Personenregister am Ende des Romans gerechtfertigt ist. Doch schnell las ich mich in die Geschichte ein. Schnell zieht die Geschichte einen in die Lektüre hinein. Es ist ein Sog, der entsteht und der die Lesenden nicht mehr loslässt.
In Rumänien wird die Tochter eines deutschen Großgrundbesitzers ermordet. Die Polizei hat auch sehr schnell den Verdächtigen identifiziert. Der Kommissar ist ein erfahrener Ermittler, der während der Diktatur schon aktiv im Polizeidienst war. Bald soll er und sein Assistent in den Ruhestand geschickt werden. Dieser Fall wird aber erst einmal noch aufzuklären sein. Die beiden Ermittler geraten selbst in den Strudel, sie müssen um ihr Leben fürchten, weil die Gegenseite sich nicht scheut, buchstäblich über Leichen zu gehen.
Dieser Roman ist sehr klug aufgebaut, er hat eine beachtliche sprachliche Qualität, die durchaus an andere Werke heranreicht, die sich abhebt von der sonst üblichen Kriminalliteratur. Es ist ein Kriminalroman der Sonderklasse, den uns der Autor hier vorlegt.
Und daher komme ich zu dem Schluss, dass ich diesen Roman uneingeschränkt weiterempfehlen kann.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich ihnen empfehlen und lesen Sie diesen Roman.
Dieser schmale Roman hat es in sich.
Er berichtet über eine Person, die der Autor sich scheinbar unabsichtlich aus der Menge herausgegriffen hat. Das ist aber gar nicht wahr. Der Autor hat sich seine Hauptperson, Hugh Person, sehr absichtsvoll ausgesucht. Er berichtet uns das Leben dieses Menschen. Offensicht ungeschickt, nahezu tollpatschig, in Liebesdingen eher unerfahren, ohne besondere äußere Reize ausgestattet und auch nicht als besonders vermögend zu bezeichnen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die Aufenthalte des Amerikaners in der Schweiz. Zunächst mit dem Vater, der bei dem Besuch stirbt, dann weitere spätere Besuche. Insbesondere um einen Autor zu treffen, der ein Star des amerikanischen Verlags ist, für den Person als Lektor arbeitet. In der Schweiz lernt er auch seine spätere Frau kennen, die er umbringen wird. Es wird viel gestorben in diesem Roman: der Autor, die Schwiegermutter und letztlich auch unser Hugh Person.
Viel Stoff für die 150 Seiten der deutschen Übersetzung. Meisterhaft erzählt. Bei einem Gemälde würde ich davon sprechen, dass der Maler mit nur wenigen Strichen ganze Landschaften erschaffen kann. Unser Autor kann es mit wenigen Sätzen. Er schildert Stimmungen, Charaktere und sogar Leidenschaften mit nur wenigen Sätzen.
„Durchsichtige Dinge“ ist ein Spätwerk des großen Vladimir Nabokov.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich ihnen empfehlen und lesen Sie diesen Roman.
Ich bekenne, ein Anhänger des großen niederländischen Autors Cees Nooteboom zu sein. Und daher wollte ich neben seinem literarischen Werk auch seine Reiseliteratur kennenlernen. Der vorangehende Satz ist natürlich schon voller Widersprüche. Denn Nootebooms Reiseliteratur gehört zu seinem literarischen Werk. Sein Reiseführer ist nicht zu vergleichen mit den herkömmlichen Büchern, die einen Ort nach dem anderen abhandeln, die auflisten, was es für Sehenswürdigkeiten gibt, welche Hotels und welche Restaurants möglicherweise empfehlenswert sind. Dies bedeutet für diese Reiseführer immer, dass sie eine sehr geringe Halbwertszeit besitzen. Natürlich wird man die Kathedrale immer noch am gleichen Platz finden und wahrscheinlich auch einen Hinweis auf bedeutende Bilder oder architektonische Feinheiten, mehr aber nicht.
Wenn man dieses Mehr haben möchte, dann muss man zu seinem Buch greifen, denn eigentlich ist das Werk von Nooteboom „Der Umweg nach Santiago“ ein Roman. Die rund vierhundert Seiten stellen einen in Artikeln, die zu unterschiedlicher Zeit – alle in den Jahren zwischen 1981 und 1992 – geschrieben wurden, gegliederten Roman dar. Ein Mann reist durch Spanien, manchmal hat die Leserschaft den Eindruck ziemlich ziellos. Aber an einigen Stellen des Buchs sagt uns der Autor, dass er auf dem Weg zur eigentlichen Hauptstadt Spaniens unterwegs sei, nach Santiago de Compostela.
Zitat: „Meine Reise ist ein Umweg aus lauter zusammengesetzten Umwegen geworden, und sogar von diesen lasse ich mich noch fortlocken.“ Denn er sagt auch, was ihm Reisen bedeutet: „Reisen ist Flüchtigkeit, und das liebe ich, jeder Abschied ist eine natürliche Vorbereitung, man soll sich nicht binden, so ist es nicht vom Schicksal bestimmt.“
Alles was er zwischendrin erlebt, ist ein Nachspüren. Er ist ein Mann unserer Zeit, aber er versetzt sich in die Menschen früherer Zeiten, in den unbekannten Bauern, die unbekannte Nonne oder die literarische Figur des Don Quijote. Nooteboom nimmt die Windmühlen auch als Drachen wahr, denn die Landschaft in der La Mancha hat sich nicht so sehr geändert.
Zitat: „Ich weiß es nicht mehr. Ich stehe da und schaue und höre dasselbe, was die ersten Bewohner im zwölften Jahrhundert gehört haben. Ich bin an so viel mehr Lärm gewöhnt, als sie je gehört haben, geneigt dieses Fehlen von Geräuschen Nichts zu nennen, aber als ich länger lausche, unterscheide ich Nuancen des Nichts, all diese fast nichtexistierenden Geräusche, das ferne Summen der Insekten, den trägen Flügelschlag eines Taubenpaars, den Wind in den Pappeln die zusammen die Stille ausmachen.“
Zitat: „Er ist nicht weniger tot, als wir eines Tages sein werden, doch die Trauer um ihn waltet bereits 700 Jahre am selben Ort, mit derselben in Stein gehauenen Intensität.“
Zitat: „Namenlose Menschen meiner eigenen Spezies lebten ein nicht aufgezeichnetes, nicht wahrgenommenes Leben auf Erden, die nach ihnen Kommenden mussten erst graben, um ihre Spuren zu finden. Keine Ahnung halten Sie davon, dass sie vor Christus lebten, sie saßen da, machten ein Feuer, tranken oder aßen aus dieser Schale. Die Nonnen überholen mich mit einer Geschwindigkeit von einem Jahrhundert pro Minute, und dann bin ich wirklich allein in der spanischen Vorgeschichte.“
Und an anderer Stelle: „Auch uns wird es einst in diese merkwürdige Abstraktion verschlagen, die Vorstellungen, die wir von uns selbst hatten, werden von den Launen einer späteren Zeit verzerrt werden.“
Schließlich: „In Legenden verpacken wir den Widerwillen gegen unsere eigene Relativität.“
Der andere Strang, mit dem sich Nooteboom auseinandersetzt, ist das Faszinosum einer friedlichen Koexistenz zwischen den Arabern und den katholisch geprägten Einwohnern über viele Jahrhunderte. Auch wenn die Artikel teilweise schon nahezu vierzig Jahre alt sind, haben sie nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Das gilt übrigens auch für die Abschnitte, die sich mit den Autonomiebestrebungen der Katalanen und der Basken beschäftigen. Faszinierend, wie unveränderlich gültig, die Analysen unseres Reiseführers sind.
Zitat: „Wir befinden uns immer in Wörtern. Und nicht nur in Wörtern, auch in der Geschichte. Auf dem letzten Bild kondoliert der Präsident der Generalität, der mehr oder weniger unabhängigen katalanischen Regierung, der Witwe. (1981)
Und: „Einer der Gründe, weshalb die Nationalisten 1936 den Aufstand begannen, bestand darin, die in ihren Augen verderblichen Autonomiebestrebungen der einzelnen spanischen Länder im Keim zu ersticken.“
Beispiele zu der Zeit der „arabischen Besetzung“: „Was er in Syrien und Ägypten gelernt hat, übermittelt er jetzt dem Westen, seine Schriften über das kontemplative Leben werden im Mittelalter in jedem Kloster gelesen, Ideen, die in der strengen Verlassenheit der Wüste entstanden waren, fanden ihren Weg in andere, fruchtbarere Gegenden, und von diesen Wüstenartigen hat sich bis heute etwas erhalten, vielleicht nirgendwo heftiger als in Spanien, das nun einmal nie richtig zu Europa gehört hat.“
Oder: „Den bösen Fanatismus der Gaddafis und Khomeinis gab es auch damals schon, der Islam war stets eine fanatische, puristische Religion, aber in Spanien hatte seine Geradlinigkeit an Schärfe verloren.“
Und vielleicht als Trost: „Wer glaubt, die Politik sei heutzutage verwickelt, sollte sich zum Trost einen Abstecher in die Geschichte erlauben.“ „Wir schmeicheln uns, in einer apokalyptischen Zeit zu leben, doch diese Menschen lebten mit der ständigen Drohung, all das würde untergehen, was sie besaßen und waren.“
Schön auch, wie er den ein oder anderen Bekannten in seine Geschichten einfügt, Ortega y Gasset, Kafka, Mulisch oder: „Es sind nicht die Kirchen zu verehren, sondern das Unsichtbare, das in ihnen lebt“, hat Ernst Jünger gesagt.
Zitat: „Das echte Haus von jemandem zu betreten, den es nie gegeben hat, ist keine Kleinigkeit. Milan Kundera hat den Don Quijote den ersten richtigen Roman genannt, und wenn eines der Hauptmerkmale des Romans der Sieg der Fantasie über die Wirklichkeit ist, mit allen dazugehörigen subversiven Möglichkeiten, der Beklemmung dieser so genannten Wirklichkeit zu entrinnen, dann hat das Genie Cervantes für alle Zeiten die Macht dieser Fantasie aufgezeigt, und sei es auch nur, weil er mich jetzt, fast 400 Jahre später, auf das Haus, den Kamin, das Bett, die Küchengeräte einer Person starren lässt, die nur ausgedacht war.“
Über Borges schreibt er an einer Stelle: „Den Nobelpreis hat er nie erhalten, und das ist schade für diesen Preis, doch er verdient etwas Besseres.“ Sollte eines hoffentlich fernen Tages auch Cees Nooteboom ohne diesen Preis von uns gehen, dann kann man diese Aussage euch auf ihn übertragen!
Schön und so tiefsinnig viele seiner eingestreuten Gedanken, wie etwa: „Wenn die Welt lange genug besteht, wird sie zu ihrem eigenen Anachronismus.“ Oder: „Man hört die Stille rauschen.“
Und ein weiteres Lob aus meiner bescheidenen Sicht: Hätte ich seine Ausführungen über Velázquez und insbesondere Zurbarán früher gelesen, wäre ich anders durch eine Ausstellung gewandert, die dem Siglo de Oro gewidmet war und die in der Berliner Gemäldegalerie 2016 zu sehen war. Schade, dass ich nicht gebildeter über diese Erde mich taste. Hätte ich es getan, hätte ich vielleicht auch kurzzeitig Flügel verspürt: „Einen Augenblick lang hatte ich Flügel, auf einer Ausstellung von Francisco de Zurbarán, in Paris, 1988“
„Es gibt keine Konvention, die besagt, dass Könige und Königinnen auf Bildern lachen müssen, aber wenn es so etwas wie das Gegenteil eines Lachens gibt, dann steckt es in der Haut rund um den kleinen roten, mit einem mutwilligen weißen Strich zum Glänzen gebrachten Mund.“
Immer wieder flicht er sehr persönliche Momente ein, die das wahrlich literarische dieses Werks betonen: „Gut, eine Liebesgeschichte wurde leider Gottes aus diesem gemeinsamen schwachen Moment nicht, wir beherrschen uns und setzen, disqualifiziert, den Rundgang in der Schatzkammer fort, nun wieder in der nicht echten Welt, in der ich es besser aushalten kann als meine Mitpilger, der Welt der Kunst, des doppelten Bodens, der kunstvollen Täuschung.“ Oder: „Dies ist einer jene merkwürdigen Nachmittage, an denen man etwas entdeckt. Weil man sein Leben so seltsam gestaltet hat, dass es sich vom Leben anderer Menschen unterscheidet, sieht man etwas, was sie an diesem Nachmittag nicht sehen. Nichts, was noch nicht da gewesen wäre, es war immer schon da, aber es braucht einen alten Mann dafür und große Schlüssel, und man sieht es allein, man hat das Gefühl, dass man belohnt wird, weil man allein da ist, weil die eigene Eigenartigkeit einen dazu geführt hat, an diesem verkehrten, jämmerlichen, von Regen und Wind gestraften Tag in diesem vergessenen Dorf zu sein, deshalb darf man heute, und niemand sonst, etwas aus den Fängen der Zeit ziehen.“
Nie mehr werden mir Sätze aus dem Gedächtnis entgleiten, wenn ich eine Kirche betrete: „Die Urbedeutung von Kirchen ist natürlich, dass sie durch ihre Mauern die drinnen bewahrte Luft von der Außenluft, der nicht geweihten Luft der Welt, trennen. Drinnen entsteht vom Augenblick der Weihe an dieses Geheimnisvolle, der Ort wo nichts Profanes ist, sondern wo Gott sich aufhält und wo seine Schöpfung dargestellt wird.“
Sein Fazit über Spanien, das er liebt: „Es ist ein ganzer Kontinent, der dort hinter den Pyrenäen liegt. Geheimnisvoll, verborgen, unbekannt, ein Gebilde aus Ländern mit jeweils eigener Geschichte, eigener Sprache und Tradition, Jahre sind nötig, um es für sich selbst auszugraben, zu entdecken, mit sich selbst zu besprechen.“
Prägnant seine Analyse, wie Spanien nach der faschistischen Diktatur in die Neuzeit fand: „Alles war nachzuholen, und das ist dann auch geschehen, mit einer Leidenschaft, die das Land atemlos zurückgelassen hat, die gleiche Atemlosigkeit, mit der es auf die großen Feste dieses Jahres zustürmt, ein Rausch, in dem alles in Kauf genommen wird, steigende Preise, ostentativer Materialismus, das Verschwinden von allem, wonach man später unter Mühen wird suchen müssen.
Vielleicht aber bin ich auch nur hoffnungslos altmodisch und habe Heimweh nach den falschen Dingen.“
Nooteboom rät zur Lektüre eines Buches, das man lesen müsse, wenn man etwas von Spanien begreifen wolle; ich rate dazu dieses grandiose Werk zu lesen!
Zitat: „Der Herausgeber, Miguel Moreno, muss an der gleichen Krankheit leiden wie ich, denn er hat nichts unerwähnt gelassen. Nichts ist für einen Spanier so wichtig wie die eigene Stadt, die eigene Gegend. Wer je etwas von Spanien begreifen will, muss das Buch von Gerald Brenan, „Die Geschichte Spaniens“ lesen, in dem die Bedeutung dieser Heimatgefühle so deutlich beschrieben wird: Spanien ist das Land der patria chica. Jedes Dorf, jede Stadt ist der Mittelpunkt intensiven sozialen und politischen Lebens.“
Während der Lektüre dieses Buches hatte ich einige Male Flügel und eine unsagbare Lust, viele der beschriebenen Orte aufzuspüren.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich ihnen empfehle und lesen Sie dieses Werk!
Hören wir doch einmal was der Autor dieser Geschichte selbst sagt: „Es ist die Geschichte einer Imagination von Liebe. Aber wenn es eines Tages veröffentlicht werden sollte, mehr oder weniger so, wie es ist, befreit von Exposition et cetera, dann werden die Leute ebenso wenig wie ich wissen, dass es einfach nur die kleine Geschichte einer Imagination von Liebe ist. Das tun sie in der Regel sowieso nicht, also was ist schon der Unterschied? Ich schreibe Fiktion, und man sagt mir, es sei Autobiographie, ich schreibe eine Autobiographie, und man sagt mir, es sei Fiktion, und da ich folglich so schwer von Begriff bin und die so klug sind, sollen die anderen doch entscheiden, was es nun ist oder nicht ist.“
Das erfährt die Leserin nach rund 150 Seiten. 150 Seiten Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Dazwischen die Geschichte einer Frau aus dem Ostblock, der sich zu der Zeit der Entstehung dieses Romans von Philip Roth namens „Täuschung“ gerade aufzulösen begann (1990).
Nach dem Tod des Autors vor wenigen Tagen, wurde ein Philip Roth Experte im Radio nach einer Einstiegslektüre in das Werk des amerikanischen Autors gefragt. Der Mann nannte nicht diesen Roman, worüber ich sehr froh bin. Denn die Lektüre dieses Romans bedarf gehöriger Anstrengung, bedarf Disziplin und so etwas wie Durchhaltevermögen.
Doch auch dieses Werk zeigt die Meisterschaft dieses Autors ganz eindrucksvoll. Man muss sich nur auf diese mehrfach gebrochene Erzählung, auf die verschiedenen Erzählebenen einlassen.
Dann stimmt man dem Autor zu, dessen letzter Satz dieses Romans die Überschrift meiner kleinen Empfehlung ist.
Lektüre für Fortgeschrittene.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich ihnen empfehle.
In den letzten Jahren habe ich gern die mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten französischen Romane gelesen. Diese begeisterten mich immer auf sehr unterschiedliche Weise, aber immer hatte ich den Eindruck, eine große Lektüre vor mir gehabt zu haben.
Nun liegt der schmale Band von Éric Vuillard „Die Tagesordnung“ vor mir und ich bin recht ratlos, wie ich meine Leseeindrücke zusammenfassen soll.
Der Autor reiht bestimmte Ereignisse, die sich um die Einverleibung Österreichs durch die Nazis drehen, aneinander. Zu Beginn beschreibt er ein Treffen kurz nach der Machtübernahme der Nazis mit deutschen Großindustriellen. Die Nazis brauchen Geld für den geplanten letzten Wahlkampf und die Konzernherren sind großzügig, man verspricht sich etwas von dem neuen Reichskanzler. Dann wechselt das Bild und wir befinden uns im Februar 1938 auf dem Berghof des obersten Nazis, hier wird der österreichische Bundeskanzler „auf Linie gebracht“.
Weitere Bilder folgen aus London, wo der neue deutsche Außenminister bei einem Empfang des britischen Premiers seine Gastgeber hinhält, während die Deutschen in Österreich einmarschieren. Diese Bilder sind immer sehr sorgsam ausgestattet, klug beschrieben und machen die Lektüre leicht. Nur, ach, das ist kein Roman, das ist etwas anderes, das sich der Kategorisierung entzieht. Es ist ein kluges Buch, weil es aufklärt und in unserer Zeit zur Wachsamkeit auffordert. Es ist keine Lektüre, die ich mit dem Prix Goncourt in Verbindung bringen würde.
Man kann das Buch also mit Gewinn lesen, man muss es aber nicht unbedingt. Entscheide jeder selbst.
Ziemlich zu Beginn meiner Lektüre des jetzt zu besprechenden Buches gab es in meiner Heimatstadt einen ganz kurzen Stromausfall. Hätte ich den Roman nicht gerade gelesen, wäre ich weniger besorgt gewesen als in dieser kurzen Zeitspanne von maximal anderthalb Minuten. So ist das mit der Lektüre von Büchern, sie beeinflussen Dich.
Keine Frage, dieser Roman ist spannend. Die schnellen Wechsel der Orte des Geschehens, die kenntnisreiche Darstellung des eigentlichen Plots, die Zeichnung der sich entwickelnden Ereignisse. Das sind alles starke Argumente für die Lektüre dieses Buches, immerhin nahezu 800 Seiten wollen bewältigt sein. Und doch, mir fehlt es an manchen Punkten, die den wahren Wert eines Romans ausmachen. Dazu gleich mehr. Zunächst, worüber schreibe ich eigentlich?
„Blackout“ von Mark Elsberg schildert wie in Europa und später auch in Nordamerika die Lichter ausgehen. Es geht in unserer heutigen Zivilisation nichts ohne elektrische Energie. Eine Zivilisation verendet innerhalb kurzer Zeit im Chaos. Es geht ja nicht nur darum, dass die Fahrstühle nicht mehr funktionieren, die Klospülung ihren Dienst versagt und der Ausfall der Tiefkühlung von Lebensmitteln das ganze Elend unserer arbeitsteiligen auf Wirtschaftswachstum programmierten Konsumgesellschaft offenbart. Wenn Atomkraftwerken aus den gleichen Gründen die Kernschmelze droht, unsere Kommunikation zusammenbricht und eine ärztliche Betreuung in Krankenhäusern nicht mehr gewährleistet ist, bricht der Egoismus aus. Die Menschen verlangen Unsummen für einige Kilogramm Kartoffeln. Benzin wird aus den Autos und Autos werden mit vorgehaltener Waffe geklaut. Chaos und Anarchie binnen Wochenfrist.
Der Autor beschreibt dies sehr anschaulich: „Die meisten Kommunikationsmittel sind ausgefallen. Kein Telefon, kaum Behördenfunk, ein wenig Militär- und Amateurfunk, ein paar Satellitenverbindungen. Im Wesentlichen bestehen die Verbindungen zwischen den nationalen Krisenzentralen, aber die Staaten wissen nur bruchstückhaft, was bei ihnen überhaupt los ist. Nur punktuell dringen Informationen bis in die Zentralen, und das sind ausnahmslos schlechte. Schwarzmärkte florieren, öffentliche Strukturen und Behörden werden abgelöst von privaten Initiativen oder Parallelstrukturen, Polizei und Militär können die öffentliche Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten. Es kommt zur Selbstjustiz. Nach Spanien haben auch in Portugal und Griechenland die Militärs geputscht. In Frankreich gab es allem Anschein nach einen GAU in einem Kernkraftwerk, ebenso in Tschechien, ein Dutzend weiterer Anlagen europaweit sind in kritischer Verfassung. In vielen Ländern gab es Unfälle in Industrieanlagen, vor allem in Chemiefabriken, die teilweise Dutzende, in einem Fall wahrscheinlich Hunderte Todesopfer forderte und schwere Umweltzerstörungen verursachten.“
Mehr verrate ich nicht über den Plot und die Leserinnen merken, dass ich an diesem gar nicht herumkritisiere. Was mir fehlt, ist das literarische Gewicht dieses Romans, die Dialoge sind platt, viele der Personen sind sehr farblos und es sind auch zu viele, die hier mit einer Rolle bedacht werden. Da muss man schon ein großer Rastelli der literarischen Personenführung sein, um keine Person zu vernachlässigen. Da muss man wissen, warum man sie einführt und welche Rolle sie einnehmen soll. Hier hätte der Autor Hilfe eines Lektorats bedurft, hier wäre weniger mehr gewesen.
Wer sich um literarische Tiefe nicht kümmert und einen spannenden und sehr realistischen „Krimi“ lesen möchte, dessen Handlung nicht so schnell aus dem Gedächtnis verschwinden wird, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Der Mann, dessen Aufzeichnungen wir in dem schmalen Roman „Der Tod eines Bienenzüchters“ von Lars Gustafsson lesen werden, ist ein früh pensionierter Lehrer, der am gleichen Tag des gleichen Jahres geboren wurde, wie der Autor.
Viel hinterlässt er uns nicht, er hat bescheiden, von seiner Frau geschieden in einer kleinen Behausung gewohnt. Er hat Bienen gezüchtet und den Honig verkauft. Er spaziert mit seinem alten Hund durch die Gegend und er hat Schmerzen. Den Brief mit den Untersuchungsergebnissen aus dem Krankenhaus öffnet er nicht, er verbrennt diesen vielmehr und lebt weiter in die Tage hinein. In seinen Aufzeichnungen geht es um Erinnerungen an die Kindheit, an seine Frau, seine Freundin und um das Leben überhaupt.
Lars Gustafsson ist ein ganz großer Autor, ein philosophierender Erzähler und ein literarischer Philosoph.
So setzt er sich in so wundervoller Klarheit und Einfachheit mit der Liebe auseinander: „Aber man muss sich natürlich fragen: Wenn wir jemanden lieben, oder besser gesagt uns in jemanden verlieben, in was verlieben wir uns dann eigentlich? Lieben wir unsere Vorstellung von einem Menschen oder den Menschen selbst? Vielleicht können wir mit unseren eigenen Vorstellungen in Beziehung treten? Vielleicht sind wir immer nur in unsere eigenen Vorstellungen verliebt?“
Und noch wundervoller als die Betrachtungen über unsere Beziehungsfähigkeit ist die Geschichte „Als Gott erwachte“. Die Geschichte vom nach 20 Millionen Jahren wieder aufwachenden Gott, nachdem sie in einem fernen Winkel des Universums geschlafen hatte. Diese ist so ungemein vergnüglich. Sie hört nämlich die Gebete der Menschen und erhört diese. So wird der Bitte nach Frieden entsprochen indem „jede Waffe, jedes Projektil, bis hin zu den Schwertern der Eisenzeit in den Museen“ sich im selben Augenblick ebenso zu Gold verwandelt hatte wie die Raketen mit ihren Gefechtsköpfen in den Arsenalen der Länder. Das hat Folgen, ähnlich wie in dem zuvor von mir besprochenen Roman „Blackout“ brechen die Börsen zusammen, stürzt der Goldpreis.
Der Roman ist ein Juwel, ein Lesevergnügen, obwohl hier jemand seinen Tod beschreibt und sich die großen Fragen des Lebens nach dem Warum und dem Wozu stellt.
Und er kommt zu dem Schluss: „Was ich gelernt habe: dass es keinen wirklichen Ausweg aus dem Leben gibt. Man kann die Entscheidung nur hinausschieben, mit Geschick und List. Aber es führt kein Weg hinaus. Es ist ein total geschlossenes System, und am Ausgang ist der Tod. Und der ist natürlich überhaupt kein Ausgang.“
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich ihnen empfehle und lesen Sie dieses wundervolle Werk!
Erstes Geständnis: Lange schon lag das Buch auf dem Stapel der noch zu lesenden Romane. Ich hatte eine gewisse Scheu vor dem Buch. Der Autor ist bekannt als Pornograph, als direkt und schnörkellos auf ein Thema zusteuernd. Der Roman ist zwischenzeitlich dramatisiert worden, er wurde verfilmt und nun wollte ich dann doch diesen Autor kennenlernen!
Zweites Geständnis: Auch von Joris-Karl Huysmans hatte ich noch nichts gelesen. Nicht „Marthe“, nicht „Gegen den Strich“ und auch nicht „Tief unten“.
Drittes Geständnis: Nach der Lektüre des Romans „Unterwerfung“ von Michel Houllebecq habe ich nicht vor, einen Huysmans Roman zu lesen, vielleicht aber einen weiteren unseres französischen Gegenwartsautors.
Dieser Roman hier spielt im Jahre 2022, also ganz nah an unserer Gegenwart. Alles kommt auf ganz leisen Sohlen daher. Der Romanheld ist ein französischer Hochschullehrer, ein – vielleicht der Huysmans Experte. Er ist in den vierziger Jahren seines Lebens und hat am liebsten Affären mit Studentinnen. Auf den genannten leisen Sohlen schleicht sich der französische Alltag in die Erzählung. Kurz vor dem ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl gibt es drei Lager. Dasjenige des Front Nationale, das der Sozialisten und dasjenige der Islamisten. In die Stichwahl gelangen ziemlich gleich auf die Rechten und die Islamisten. An der Hochschule scheint sich zunächst nicht viel zu ändern, aber nachdem sich die Linken in der Stichwahl ebenso auf die Seite der Islamisten schlagen haben, wie die gemäßigte Rechte, wird der neue Präsident ein Moslem. Ganz langsam nun werden Menschen aus dem Hochschuldienst und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens entlassen, so auch unser „Held“. Man sieht die Frauen nicht mehr in kurzen Röcken und der neue Präsident versucht seine Pläne einer Ausdehnung der Europäischen Union rund um das Mittelmeer mit anderen islamischen Staaten voranzutreiben. Unser Held wird mit einer auskömmlichen Pension in den Ruhestand geschickt, aber seine letzte Geliebte, eine Pariserin jüdischen Glaubens geht mit ihren Eltern nach Israel und so bleibt unser Ruheständler im wahrsten Sinne des Wortes unbefriedigt zurück. Er nähert sich dem neuen System, das nun langsam sich ausbreitet, an. Man macht ihm Angebote, an die Universität zurückkehren zu können. Vor allem liebäugelt er mit dem Übertritt zum moslemischen Glauben, könnte er so doch mehrere Frauen gleichzeitig haben.
Im letzten Abschnitt malt er sich aus, wie es sein wird. Es ist der einzige Abschnitt dieses Romans, der im Konjunktiv steht.
Der Titel für diesen Roman taucht im Übrigen erst sehr spät auf. Der neue Rektor der Universität und kurze Zeit später sogar Minister spricht aus, worin das Glück des Menschen wohl vor allem besteht: „Es ist die Unterwerfung“, sagte Rediger leise. „Der nie zuvor mit dieser Kraft zum Ausdruck gebrachte grandiose und zugleich einfache Gedanke, dass der Gipfel des menschlichen Glücks in der absoluten Unterwerfung besteht.“
Hoffen wir, dass der Roman Houllebecqs schlicht Phantasie bleibt. Lassen wir uns weder von der einen noch einer anderen Richtung je unterwerfen!
Um sich mit dem nicht nur in Frankreich gefeierten Autor auseinanderzusetzen, ist die Lektüre dieses Romans ein guter Einstieg.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Robert Seethaler scheint eine gewisse Todessehnsucht zu besitzen. Ob es das ereignislose Leben eines älteren Menschen in den Bergen oder dasjenige eines noch jungen Mannes ist, der in der falschen Zeit sein Leben leben will. Jetzt geht der Autor in seinem neuesten Buch noch weiter und lässt fast ausnahmslos Tote sprechen. Sie liegen alle auf dem Friedhof einer kleinen fiktiven Stadt. Manche sind miteinander verbunden, andere nicht. Die Geschichten sind meist sehr kurz. Die Toten berichten von ihrem Leben und manchmal von dem Todestag. Die meisten von ihnen sind ungläubig. Gott spielt für sie keine Rolle. Manche sind offensichtlich geistig verwirrt, andere eher klar im Kopf. Alle sind auf ihre Weise unglücklich. Das Buch ist voller Melancholie, es ist todtraurig.
Der Pfarrer ist verrückt er verbrennt sich selbst in seiner Kirche. Der Herausgeber der einzigen Lokalzeitung titelt daraufhin: Kirche brennt, Gott lebt!
Der Mann, von dem am Anfang die Rede ist, lebt noch. Er setzte sich auf eine Bank unter einer Birke. Er dachte über die Toten nach. „Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden. Natürlich würden sie vom Leben sprechen. Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.“
Am Ende des Romans „Das Feld“ ist er selbst tot und begraben und fragt sich: „Steht meine Bank noch? Und die Birke?“
Seethaler begreift den Tod als Antithese zum Leben. Aus seinem Werk spricht eine gewisse Todessehnsucht. Es spricht aber auch viel Wärme und manchmal auch sehr viel Liebe daraus. Es enthält wunderbare einfache Sätze mit tiefer Bedeutung:
- „Kinder sind gesund und wissen nichts von ihrem Glück.“
- „Die Kindheit ist der Ort der ersten Male.“
- „Von Anfang an ist das Leben ein einziges Gesundheitsrisiko.“
Ein beglückendes Buch, ein Buch voller Strahlkraft von einem traurigen Autor, der sich die Sätze abzuringen scheint, der vor Schmerzen manchmal zu stöhnen und unter der Last der Worte zusammenzubrechen droht.
Ein sehr lesenswertes und tröstliches Werk.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Ich bekenne, die Kriminalromane von Volker Kutscher gern zu lesen.
Sie haben einen guten erzählerischen Kern, heute nennt man das Plot und sie sind gut recherchiert. Sie passen also in die Zeit, in die der Autor die Handlungen ansiedelt.
Ich bekenne, seinen Roman, „Lunapark“, schon einige Zeit auf meinem Vorratsstapel liegengelassen zu haben.
Meine Begeisterung war abgekühlt, weil sich Kutscher ja vorgenommen hat, seinen Kommissar Rath durch sein berufliches Leben zu begleiten. Und das bedeutet dann zwangsläufig, da seine ersten Romane in der Weimarer Republik angesiedelt sind, dass man in die Nazizeit hineinschliddert. Und ich finde, wir erleben gerade wieder genug Nazis und Vorgänge, die an die Geschichte denken lassen und uns Mahnung zur Wachsamkeit sein sollten, dass man sich nicht unbedingt in einem Krimi, diese Zeit auch noch ins Wohnzimmer holen muss.
Ich bekenne, von dem Roman dennoch angetan zu sein.
Der Autor verzahnt tatsächliche Geschichte mit seinen Erfindungen. Im Hintergrund läuft der sogenannte Röhmputsch und sein „Held“ schlägt sich mit der Gestapo und mit seiner Vergangenheit und mit seiner nicht sonderlich rosig scheinenden Zukunft herum. Die Ermordung von SA-Leuten hat keinen politischen Hintergrund, sondern einen klassisch kriminellen. Eine beängstigende Stimmung kann Kutscher wiedergeben, die fatal daran erinnert, dass in Sachsen heutzutage auch eher Journalisten durch Polizisten behindert als dass Journalisten vor einem rechten Gesocks geschützt werden. Und doch ist die gut geschilderte bedrückende Atmosphäre der Zeit von Juni bis August 1934 doch nur ein Bühnenbild für einen Kriminalroman, der für meinen Geschmack auch schon zu sehr die Inhalte zukünftiger Romane um den Kommissar Rath, der nun bald Oberkommissar sein wird, vorwegnimmt.
Ich bekenne, weiter Kutschers Kriminalromane zu lesen.
Sie üben aber nicht mehr den großen Sog auf mich aus, wie die ersten Romane, die uns nun auch in einer Verfilmung im Fernsehen nähergebracht werden. Übrigens der nächste Band wird im Herbst erscheinen und trägt den Titel, des smarten, aber gnadenlosen Oberschurken Marlow.
Stellen wir uns folgende Geschichte vor: Vor der Wohnungstür wartet ein farbiger Mensch auf uns. Er fragt, ob der Inhaber der gegenüberliegenden Wohnung verreist sei. Der ist unser Halbbruder und nun sind wir neugierig. Der junge Mann behauptet, unser Halbbruder sei sein Großvater. Das wissen wir besser, denn so alt ist unser Halbbruder nun nicht. Der junge Mann legt uns ein Dokument vor, aus dem hervorgeht, dass er den gleichen Familiennamen trägt wie wir. Sollte also unser Vater, der Großvater dieses aus Äthiopien stammenden Mannes sein?
So beginnt ein wahrlich aufregender und intensiv erzählter Familienroman der römischen Autorin Francesca Melandri. Wir benötigen eine gute Ausdauer, um die 600 Seiten des von Esther Hansen ins Deutsche übersetzten Romans zu lesen. Es ist nämlich nicht nur die Geschichte einer Familie, die über einen Zeitraum von rund hundert Jahren erzählt wird, sondern es ist die Geschichte Italiens in dieser Zeit. Die Geschichte eines Landes, das sich dem Faschismus zuwendet und größenwahnsinnig von der Wiederherstellung des alten Römischen Imperiums träumt. Es ist die Geschichte unserer doch auch sehr aufregenden Zeit, mit den Ängsten vor Einwanderern, dem Erstarken der sogenannten nationalen Kräfte und unserer unzulänglichen Aufarbeitung unserer Verstrickungen in Taten, die von unseren Vorfahren begangen wurden.
Es gibt mehrere Personen, die im Mittelpunkt dieses großen Romans stehen. Der demente Vater/Großvater Attilio, der sich mit sehr viel Glück durch das Leben lavierte, ist sicherlich einer von ihnen. Sein in seinem Schatten stehender Bruder Otello, nicht weniger. Die Kinder des Attilio, der Kinder mit mindestens drei Frauen gezeugt hat, so Ilaria, die ein Verhältnis mit einem Parteigänger Berlusconis hat. Attilio hat viele Jahre ein gestresstes Leben als Bigamist geführt. Alle, außer ihm wären daran sicherlich zugrunde gegangen. Er nicht. Er hat sein Lebensmotto gefunden: „Alle, außer mir“. So heißt dann auch die deutsche Übersetzung. Im Original lautet der Titel „Sangue giusto“.
Und dafür brauchen wir den langen Atem, erklärt uns der Roman doch all die versponnenen Ideen der überlegenden Rasse, derjenigen die eben das richtige Blut in ihren Adern haben. Es ist der einzige Mangel dieses großen und großartigen Romans, dass ich mich immer wieder zum Lesen aufraffen musste. War ich dann wieder in der Geschichte versunken, dann spulte sich die Geschichte Italiens, gespiegelt an der Geschichte der Familie Profeti, wie von selbst ab.
„Alle, außer mir“ ist auch das Versprechen, das sich Attilio selbst gibt. Alle sterben, mit denen er einen Teil seines Lebens verbrachte, er nicht. Aber da hat er sich dann doch geirrt. Und eine andere Pointe wird hier auch nicht verraten. Das alles muss man sich erlesen!
Der Roman erzählt manchmal geradezu beiläufig von den unvorstellbaren Kriegsgräueln, wenn man den Roman „Alles hat seine Zeit“ von Ennio Flaiano gelesen hat, dann schockiert es nicht weiter. Der Roman erzählt manchmal geradezu beiläufig von dem großartigen Sex, der manchen Protagonisten in diesem Roman zuteilwird.
Ich kann nur alle ermuntern, die Anstrengung zu wagen und diesen grandiosen Roman zu lesen. Man wird reichlich beschenkt.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Göring gründete 1933 den Preußischen Staatsrat neu. Der Stardirigent Furtwängler und der Jurist Carl Schmitt gehörten zu dem Kreis der Auserwählten. Später werden der Chirurg und frühere Leibarzt Hindenburgs, Sauerbruch, sowie der Schauspieler Gustaf Gründgens ebenfalls zu Staatsräten ernannt.
In der Weimarer Republik war der preußische Staatsrat „ein Vertretungsorgan der preußischen Provinzen gewesen, eine zweite Kammer in Preußen. Er hatte beratende Gesetzgebungsbefugnis; gegen Ende der Weimarer Republik war Konrad Adenauer als Vertreter Rheinpreußens Vorsitzender. Im Mai 1933 nahm Göring als neuer Ministerpräsident Preußens die Umgestaltung des Staatsrats vor.“
In seinem Buch „Die Staatsräte“ unternimmt nun Helmut Lethen den Versuch, das Leben der genannten vier besonders prominenten Mitglieder in der Nazizeit und auch nach deren Ende nachzuzeichnen. Dazwischen streut er fiktive Gespräche der vier ein, sogenannte „Gespenstergespräche“.
Auf diese Weise ist es dem Autor möglich, Zitate aus seinen früheren Werken in dieses Buch einzubeziehen.
Herausgekommen ist ein spannendes Kompendium über einen interessanten Seitenaspekt dieser schrecklichen Zeit.
Dieses Buch ist allerdings nicht leicht zu lesen, es ist kein Roman, aber auch nicht ein wirkliches Sachbuch.
Man muss sich Zeit nehmen und auch investieren, um den Inhalt zu bewältigen. Die Lektüre ist eher für Spezialisten und sehr interessierte Menschen gedacht. Am Ende steht die Erweiterung der Kenntnisse über Personen. Ein mir bis dahin eher unbekannte Seite von Bernhard Minetti wird sichtbar und das Leben des mir bis dahin unbekannten letzten preußischen Finanzministers, Johannes Popitz, rückt in mein Blickfeld.
Stellen Sie sich Daniel Craig und Tom Cruise in ihren besten Tagen vor, kreuzen sie die beiden zur Figur Ethan Bond oder James Hunt und dann stecken Sie das Produkt in einen vollendeten weiblichen Körper, mit einem winzigen Makel: Ihre Superfrau ist blind. Dann haben Sie Jenny Aaron vor sich. Sie ist eine der Protagonisten dieses aufregenden Romans von Andreas Pflüger, der kurz und bündig „Endgültig“ heißt.
Andere ebenso wichtige Protagonisten sind die neue Chefin der Spezialeinheit der Polizei, zu der Jenny bis zu ihrer Erblindung in Folge eines im Einsatz erlittenen Unfalls gehörte. Dazu zählt ihr väterlicher Freund Pavlik, ihr Ex-Geliebter Niko und der Bösewicht Holm. Damit verrate ich nicht den Plot, denn der Autor macht kein Geheimnis daraus wer der Bösewicht ist. Nicht klar sind die Motive, die Geheimnisse, die hier jeder mit sich herumträgt.
Das ist sehr spannend erzählt, da musste ich weiterlesen, konnte das Buch nicht einfach so zur Seite legen. Pflügers Stil ist manchmal geradezu telegramstilartig. Das erhöht das Tempo, steigert die Spannung. Und noch etwas zeichnet den Stil des Autors aus: Er beherrscht Metaphern.
Man kennt manche, sie werden hier aber so zutreffend eingesetzt, dass ich nur den Hut ziehen kann.
- Ein Schiff, das seinen Eisberg sucht.
- Bäume verhandelten mit dem Wind.
Und es gibt einige Erkenntnisse oder Wahrheiten, die so manchem Roman sehr zur Ehre gereichten:
- Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.
- Kein Schmerz ist größer, als sich der Zeit des Glücks zu erinnern, wenn man im Elend ist.
- Ich wusste nicht, ob sie meine Gefühle erwiderte, nicht, wovor ich größere Angst hatte: dass es so war oder ob ich mir etwas vormachte.
- Sollte am Ende noch Zeit sein, will ich mich nicht fragen, warum ich sterben muss, sondern wissen, warum ich gelebt habe.
Am Ende benötigte ich sogar ein Taschentuch, um mir verschämt eine Träne abzuwischen.
Meine klare Empfehlung für die Lektüre dieses Buches.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Jenny Erpenbeck hat sich des Themas vor einiger Zeit angenommen, nun liegen zwei weitere Bücher vor. Es geht um das Verschwinden von Dingen, die zu einer früheren Zeit unser Leben geprägt oder zumindest beeinflusst haben und dann von neuen Erfindungen abgelöst worden sind. Häufig können wir uns nicht einmal mehr daran erinnern, dass es sie überhaupt gab.
Als Kinder haben „wir noch keine Ahnung von dem Schmerz, der einmal kommen würde, wenn man zu bemerken begänne, dass nicht nur die Zeit vergeht, sondern mit ihr gleichzeitig Dinge und Menschen verschwinden.“ Das schreibt einer der beiden Autoren, der Schweizer Martin Meyer (Jahrgang 1951) in seinem gelungenem Aufsatzband „Gerade Gestern“, im Untertitel: „Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten“. Und er bemerkt weiter: „Die Furien des Verschwindens, von denen Hegel hochtönend spricht, sind real, sehr real. Sie machen sich, das weiß ja jedermann, ohne dass man es allzu oft wissen möchte, bei zunehmendem Alter stärker bemerkbar.“
Das andere Buch trägt den Titel: „Die Verwandlung der Dinge“, auch hier ein Untertitel „Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“. Autor ist der Unterfranke Bruno Preisendörfer (Jahrgang 1957).
Beide Bücher sind zutiefst unterhaltsam.
Meyer schreibt kurze Stücke, die sich mit Gewohnheiten, aber auch mit Dingen beschäftigen. Postkarten als Urlaubsgrüße, beispielsweise oder der Bleisatz. Bademoden oder Schlager.
Preisendörfer zieht große Linien der Technik: von der Schiefertafel zum Tablet oder vom Fernsprecher zum Smartphone. Besonders interessant sind die Anmerkungen zu Firmen, die es nicht mehr gibt oder nur noch der Name erhalten geblieben ist.
Es sind zwei Bücher, die so unterschiedlich sie sind, beide ganz viel Lesefutter bieten. Sie machen Spaß und zeigen uns, wie fragil die Hülle ist, die uns umgibt. Alles ist im Wandel.
Und mir bleibt nur ein Motto zu zitieren, das Bruno Preisendörfer seinem Buch voranstellt:
- Alles, was es schon gibt, wenn du auf die Welt kommst, ist normal und üblich und gehört zum selbstverständlichen Funktionieren der Welt dazu.
- Alles, was zwischen deinem 15. Und 35. Lebensjahr erfunden wird, ist neu, aufregend und revolutionär […]
- Alles, was nach deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, richtet sich gegen die natürliche Ordnung der Dinge
Meine klare Empfehlung für die Lektüre beider Bücher.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Beginnen wir mit einigen Zitaten aus dem Roman „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos:
„Wir werden von einer großen Welle getragen, Mr. Perry, ob wir nun wollen oder nicht, einer großen Welle der Expansion und des Fortschritts. In den nächsten paar Jahren wird viel geschehen. All diese Erfindungen – Telefone, die Elektrizität, Stahlbrücken, Fahrzeuge, die nicht mehr von Pferden gezogen werden – führen doch irgendwo hin. Und wir sind aufgerufen, uns daran zu beteiligen, wir stehen an der vordersten Front des Fortschritts…“
„Was wir in dieser Welt brauchen, sind nicht Kaputtmacher, sondern Aufbauer.“
„Es gibt keine gute Gegend, um Arbeit zu finden, junger Mann …Arbeit gibt es natürlich schon, aber …In einem Monat und vier Tagen werd ich fünfundsechzig, und ich schätze, ich hab gearbeitet, seit ich fünf war, aber so was wie gute Arbeit hab ich noch nirgends gesehn.“
„Auf der sonnenbeschienenen Fensterbank saß eine Fliege und rieb mit den Hinterbeinen über die Flügel. Sie putzte sich, bewegte die Vorderbeine wie ein Mensch, der sich die Hände wäscht, strich sich sorgfältig über den wulstigen Kopf und bürstete ihre Haare. Jimmys Hand näherte sich ihr langsam und griff dann blitzschnell zu. Die Fliege summte kribbelnd in seiner Faust. Er tastete mit zwei Fingern nach ihr, hielt sie fest und zerquetschte sie dann langsam zwischen Daumen und Zeigefinger. Er wischte den grauen Brei an der Kannte der Fensterbank ab. Eine heiße Übelkeit durchfuhr ihn. Die arme Fliege – gerade als sie sich so schön geputzt hatte. Lange stand er da und sah durch die schmutzige Fensterscheibe, auf der die Sonne den Staub ein wenig glitzern ließ, hinab in den Luftschacht.“
„Durch die kleinen Löcher in der Krempe ihres Strohhuts tropfte Sonnenlicht auf ihr Gesicht.“
„Sobald sie wieder auf dem Broadway war, fühlte sie sich sehr fröhlich und ausgelassen. Sie stand mitten auf der Straße und wartete auf die Straßenbahn in Richtung Uptown. Gelegentlich zischte ein Taxi vorbei. Vom Fluss her trug der warme Wind das langgezogene Stöhnen einer Dampfschiffsirene herüber. In den Tiefen ihres Inneren bauten Tausende Zwerge hoch aufragende, spröde, glitzernde Türme. Die Straßenbahn kam klingelnd auf den Schienen herangesaust und hielt an. Beim Einsteigen erinnerte sie sich mit einem leichten Schwindelgefühl an den Geruch von Stans schwitzendem Körper in ihren Armen. Sie ließ sich auf einen Sitz fallen und biss sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien. O Gott, es ist schrecklich, verliebt zu sein. Gegenüber saßen zwei Männer mit kinnlosen Fischgesichtern, die einander lachend was erzählten und sich auf die fetten Schenkel klopften.“
Das ist eine kraftvolle und zugleich sehr poetische Sprache. Allein die Mühe, die der Autor auf die Beschreibung von Farben legt, ist beeindruckend. Neben den Grundfarben gibt es viele Nuancen, je nachdem in welchem Licht sie uns erscheinen. Er spricht von schokoladenbraunen Wolken, kittfarbenem Wasser, nilgrüner Seide, orangeroten Lippen, einem kalkweißen Gesicht, goldflussbraunen Augen und knallroten Haaren.
Schnell richtet sich die Leserin auf diese Geschichten ein. Es gibt keine Hauptpersonen, es gibt eine ganze Reihe von Personen, die immer wieder betrachtet werden, die der Autor in den Mittelpunkt seines Interesses rückt, um nur eine Seite später auf eine andere Person sein Augenmerk zu richten. Die Geschichten der einzelnen Personen werden immer wieder fortgesetzt, selbst wenn sie über viele Kapitel nicht mehr aufgetaucht sind. Inzwischen ist auch die Zeit fortgeschritten. Ja, es ist eine Episodenroman, sich kreuzender oder auch parallel verlaufender Geschichten.
Ein kleines Mädchen wird von einer schwächlichen Frau geboren, wir sehen das Mädchen im Schulalter und als jung verheiratete Frau wieder. Erleben ihre Scheidung und so weiter. Sie ist es, die wir oben zitierten, als sie feststellte, dass es schrecklich sei, verliebt zu sein.
Inzwischen sind also in dieser Welt zwanzig oder dreißig Jahre vergangen. Es gibt keine Hauptperson, wohl aber eine Hauptsache: die Stadt New York. Immer wieder die Ankünfte von Fremden, seien sie von Übersee oder aus der amerikanischen Provinz. Immer hinein in den Schmelztiegel. Hier gehen die Uhren anders, vergeht die Zeit schneller. Das ist ein Großstadtroman, der die Stadt in den Mittelpunkt der Erzählung stellt. Ein Umschlagplatz für Geschichten, für Schicksale. Das Personal taucht auf und wieder ab. Die Lebenswege einzelner Menschen dieser Erzählung kreuzen sich, laufen manchmal parallel, um dann wieder in ganz verschiedene Richtungen auseinander zu verlaufen. Jimmy, der Junge, der die Fliege zermalmte, ist in dieser Stadt geboren, dann einige Jahre mit der Mutter in Europa lebend, mit ihr zurückgekehrt, verliert sie früh und trifft dann auf Ellen, dem jungen Mädchen von oben. Die ist mittlerweile Schauspielerin, der erste Weltkrieg hat begonnen, die einen wollen nach Europa, um einmal Krieg zu erleben, die anderen wollen als Journalisten darüber berichten und wieder andere sehen Chancen, Gewinne an der Börse zu erzielen oder fürchten sich vor den Verlusten.
Das ist ein Roman, der Szenen aus einer großen Stadt bündelt.
Das ist ein großartig übersetzter Roman (Dirk van Gunsteren). „Manhattan Transfer“ ist eine U-Bahn-Station in New York, ein Knotenpunkt, wo man eigentlich nicht aussteigt, sondern umsteigt, um an seinen eigentlichen Zielort zu gelangen. So ähnlich geht es der Leserin bei der Lektüre dieses grandiosen Romans: Die Geschichten sind das Ziel, so wie es oft der Weg ist. Ein Meisterwerk! Ein Lektüre-Muss.
Ich empfehle die Lektüre dieses Romans dringend!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Ganz am Anfang dieses sehr bemerkenswerten Buches, welches ich ausführlich rühmen möchte, hat die Autorin Judith Schalansky in einer Vorbemerkung auf zwei Seiten einige „Gewinne und Verluste“ aufgelistet, die sich in der Zeit der Erstellung des Buches ereigneten. Die Raumsonde Cassini verglühte ebenso wie das letzte männliche Breitmaulnashorn eingeschläfert werden musste. Es wurden aber viele neue Zeichnungen Piranesis und das bereits als ausgestorben gegoltene Blauaugentäubchen entdeckt.
Die Autorin will uns also mit auf dem Weg geben, dass wir immer Verluste zu beklagen haben werden, aber auch so manch Neues oder vermeintlich Vergangenes aufgespürt wird. Wofür sie das „Verzeichnis einiger Verluste“ geschrieben hat, verrät sie auch in einem Vorwort: „Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren. Die Frage, was wohl werden wird, dürfte kaum jünger sein als die Menschheit selbst, besteht doch eine so unabdingbare wie beunruhigende Eigenschaft der Zukunft darin, dass sie sich der Vorhersehbarkeit entzieht und damit auch Zeitpunkt und Umstände des Todes im Dunkeln lässt. … Letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was übrig geblieben ist. … So handelt dieser Band gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und lässt erahnen, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt.“
Vor uns liegen dann zwölf Kurzgeschichten, jede umfasst 16 Seiten. Die einzelnen Geschichten werden durch schwarze Seiten voneinander getrennt. Dreht man die Seite vor dem jeweiligen Beginn einer Geschichte ein wenig im Licht hin und her wird ein Bild sichtbar, das auf den Gegenstand der folgenden Geschichte verweist. Zum Beginn wird jeweils kurz dargestellt, was an gesichertem Wissen vorhanden ist und dann folgen die Geschichten. Alle verschieden im Ton. In sehr unterschiedlicher Erzählhaltung verfasst. Manche haben nur ganz am Rande mit dem geschilderten Verlust zu tun, andere sind „mittendrin“.
Ich kann hier nicht alle Geschichten würdigen, obwohl sie es ausnahmslos verdient hätten. Besonders preisen will ich die Erzählung „Kaspischer Tiger“. Hier wird vom Kampf zwischen einem Löwen und eben einem Tiger im Colosseum Roms zur Zeit des Kaisers Claudius berichtet. Frau Schalansky beschreibt diesen Kampf so unfassbar anschaulich, als wäre sie dabei gewesen und ich saß neben ihr und sah das grässliche Schauspiel mit eigenen Augen.
Eine andere Geschichte handelt von Sapphos Liebesliedern, die nur in Fragmenten noch erhalten sind. Sie ordnet diese Lyrikerin mit einer kurzen Beschreibung ein: „Buddha und Konfuzius sind noch nicht geboren, die Idee der Demokratie und das Wort Philosophie noch nicht erdacht, aber Eros, Aphrodites Knecht, regiert bereits mit unnachgiebiger Hand; ist nicht nur ein Gott, einer der ältesten und mächtigsten, sondern eine Krankheit mit unklaren Symptomen, die einen aus heiterem Himmel trifft, eine Naturgewalt, die über einen hereinbricht, ein Sturm, der das Meer aufpeitscht und selbst Eichen entwurzelt, ein wildes, unbezwingbares Tier, das einen jählings anfällt, unbändige Lust entfacht und entsetzliche Qualen verursacht – süßbittere, verzehrende Leidenschaft.“
In vielen Geschichten schimmert auch immer die Angst vor dem eigenen Tod durch. So sagt eine ihrer Protagonistinnen: „Den Tod kannte ich noch nicht. Dass Menschen sterben, dass ich selbst eines Tages sterben würde, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft.“
Ein Meisterstück möchte ich noch herausheben. Sie berichtet über die sieben Bücher des Mani. Ich gestehe, nicht gewusst zu haben, dass der Manichäismus in der späten Antike mit Anhängern auf drei Kontinenten eine Weltreligion darstellte. Wie die Autorin ihre Geschichte aber anlegt, in welchem geradezu atemlosen Ton diese Erzählung vorgetragen wird, konnte ich nur meinen Hut ziehen und mich in großer Ehrfurcht vor so viel Können verneigen.
Wundervoll, wie sie die Wanderung von der Quelle des Flusses Ryck bis zu dessen Mündung in ihrer Heimatstadt Greifswald beschreibt. So haben romantische Dichter ein Idyll beschrieben, allerdings besaßen wahrscheinlich die wenigsten die ausgeprägten Kenntnisse über die einheimische Flora und Fauna, wie Frau Schalansky. Der hier zu beklagende Verlust ist übrigens ein Gemälde des Greifswalder Hafens von Caspar David Friedrich.
Das Buch selbst hat keinen Schutzumschlag, es fühlt sich sehr weich an. Es ist der greifbare Beweis, dass wir uns über den Verlust des analogen Buches in den nächsten Jahren keine Gedanken zu machen brauchen.
Ich bin kein Freund der Kurzgeschichten, dieser Band allerdings hat mich dies vergessen lassen. Völlig zu Recht ist er mit dem Raabe Preis 2018 ausgezeichnet worden.
Meine klare Empfehlung für die Lektüre dieses Buches.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
In der Kunst ist alles erlaubt.
Ein Kriminalfilm kann damit beginnen, die frevelhafte Tat groß ins Bild zu setzen und die Täterin/den Täter für uns Zuschauende sichtbar zu machen. Man fragt dann nicht mehr danach, wer es getan hat, sondern warum die Tat verübt wurde.
Ein Roman darf in der Darstellung seiner Geschichte die Perspektive wechseln, er darf von einer Zeitebene auf eine andere springen. So kann er im Hier und Jetzt beginnen, Geschichten aus der Vergangenheit ausbreiten, wieder in die Gegenwart, meinetwegen auch in eine Zukunft springen und so weiter.
Er kann auch konsequent chronologisch vorgehen, dann allerdings doch dem Zeitstrahl folgend nach vorn.
Geht es auch nach hinten, also konsequent zurück in die Vergangenheit?
Diese Frage beantwortet Inger-Maria Mahlke in ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Archipel“. Der startet im Jahre 2015 und wird von dort in die Vergangenheit abgespult.
Ich sage es gleich: dieses Experiment ist nach meinem Eindruck völlig missraten.
Ständig musste ich mich in dem Personenregister, schön, dass es eins gibt, umschauen, wer denn nun diese Figur wieder ist, die in die Geschichte eintritt. Die Geschichte – eine Geschichte zweier Familien über rund hundert Jahre und der politischen Verhältnisse auf der Insel Teneriffa – wird ständig gegen den Strich gebürstet. Der Roman hätte durchaus Potential für eine starke Familiensaga, hätte genug von den Jahren des Spanischen Bürgerkriegs zu berichten und stattdessen verheddert er sich im Wirrwarr einer falsch aufgezogenen Zeitreihe.
Mir machte die Lektüre des Romans keine Freude, sie war anstrengend und irgendwie zeitraubend.
Der Roman hat aber auch weitere Schwächen, die ich nicht verheimlichen will. Stilistisch ist die Art und Weise der Erzählung auch kein Lesevergnügen. Ich kam mit diesem kolloquialen Erzählstil nicht klar.
Nur ein oder zwei kurze Beispiele:
„Und Julio Baute kann nicht anders, als jedem und jeder einzeln ins Gesicht zu blicken, und erkennt niemanden. Hat er früher auch nicht, an der Endstation Menschen erkannt, aber Julio kann nicht anders, er muss starren.“ Oder „Am Tanque de Abajo fehlt noch immer eine Ecke, weiße Schmetterlinge über der Lache davor.“
Das ist einfach schlechtes Deutsch, das ist stillos und durch nichts gerechtfertigt, weil die Erzählstimme immer die gleiche bleibt, man keinen besonderen Sprachstil einer erzählenden Figur zuordnen muss.
Auch störte mich, dass teilweise die spanischen Begriffe im Original belassen wurden, andere wiederum übersetzt wurden. Eine gewisse Stringenz wäre hier vorteilhaft gewesen!
Ein letztes Zitat: „Sidney … hat erneut festgestellt, dass er Yeats unerträglich findet, Nobelpreis hin oder her.“
So ging es mir auch: Ich habe festgestellt, dass ich Mahlke unerträglich finde, Deutscher Buchpreis hin oder her!“
Ich betone gern noch einmal, dass dieser Roman ein erhebliches Potential enthält, aber leider wurde zu keiner Zeit der Versuch unternommen, den erzählerischen Schatz zu bergen.
Mir tut es leid, aber ich kann die Lektüre dieses Romans schlicht nicht empfehlen. Ich rate eher zur weiträumigen Umschiffung des Archipels!
Der junge Mann ist für sein Alter viel zu lang und leider auch zu schwer. Ein wenig altklug ist er schon und das kommt bei den Kunden der Tankstelle, bei der er in den Ferien arbeitet, gut an.
An dieser Tankstelle, wir befinden uns in den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wird man natürlich noch bedient, nach dem Kühlwasser und dem Reifendruck gefragt und selbstverständlich reinigt der Tankwart auch die Scheibe. Gerade im Sommer, wenn die vielen Insekten, die es damals noch gab, die Sicht während des Fahrens sehr erschwerten.
An dieser Tankstelle lässt sich auch der „Tscho“ bedienen, der einen Lastwagen fährt, der in seiner Freizeit alte Autos wieder auf die Reifen verhilft, sprich aus Unfallautos, wieder gebrauchsfähige Modelle herstellt. Der immer vom Tankstelleninhaber persönlich bedient wird, es sei denn, die beiden haben etwas zu besprechen, dann darf der junge Mann ran und als er die Windschutzscheibe gerade gesäubert hat, lächelt ihn die Elsa, die Frau vom Tscho an. Nun ist es um unseren knapp vierzehn Jahre alten Helden geschehen. Er verliebt sich in die junge Frau so, wie man sich nun eben einmal nur verlieben kann.
Jetzt beschließt unser Held, abzunehmen, Elsa ein paar Brocken Englisch beizubringen und alles, aber auch alles für dieses Wesen von einem anderen Stern zu unternehmen.
Wie es dann dazu kommt, dass er Tscho auf einer Fernreise im Lastwagen, bis nach Thessaloniki begleiten darf, was sich alles während der Tour und an deren Ende ereignet, welche familiäre Last der junge Mann mit sich rumschleppt, ob er abnimmt nach seinem Entschluss und was aus der Liebe so wird, verrate ich hier nicht. Denn Wolf Haas kann das in seinem grandiosen Roman „Junger Mann“ so viel besser, so viel geistreicher, so viel hintergründiger und so viel witziger, dass ich den Roman nicht aus der Hand legen wollte.
Die Lektüre dieses Romans macht schlicht glücklich, lässt Sonnenschein auch an trüben Tagen in den Raum und verbreitet einfach ein unverschämt gutes Gefühl.
Sie ahnen es:
Meine klare Empfehlung für die Lektüre dieses Buches.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Vor einiger Zeit las ich den Roman „Herrn Dames Aufzeichnungen“ der Franziska Gräfin zu Reventlow. Ich war von dem Werk nicht sonderlich begeistert. Jetzt nahm ich einen noch schmaleren Band der Autorin in die Hand und amüsierte mich.
„Der Geldkomplex“ schildert das selbst erlebte Schicksal einer immer „klammen“ Frau, die diesen kleinen Roman dann auch folgerichtig ihren Gläubigern zueignete.
Die Heldin dieser Erzählung taucht vor ihren Gläubigern unter, verkriecht sich in einem Sanatorium, wo ein Anhänger der Ideen des Doktor Freud sie analysieren möchte, um sie von ihrem Geldkomplex zu befreien. In diesem Sanatorium herrscht eine gewisse „Zauberbergatmosphäre“ – interessanterweise hat die Reventlow ihren Roman vor dem des großen Thomas Mann geschrieben. Man kann die beiden Bücher auch nicht miteinander vergleichen, nur diese Atmosphäre eines Sanatoriums mit einigen sehr kuriosen Patienten ist sehr ähnlich.
Nun macht die Heldin, wie auch im wahren Leben die Autorin eine Erbschaft dadurch, dass der Vater des Gatten das Zeitliche segnet. Und ja, man erbt nach längerem Hin und Her, aber erstens nicht so viel wie erhofft und zweitens geht auch dann noch alles schief. Der Roman ist mit sehr schönen stimmigen Beschreibungen angereichert. So verpasst unsere Heldin die Abfahrt eines Schiffes, „da es jeder Tradition zuwider fahrplanmäßig abgefahren war“. Oder sie räsoniert über Gelegenheiten, Gemeinheiten zu begehen, die sich finanziell auszahlen würden, aber „…die wirklich rentablen Gemeinheiten kommen immer nur in Romanen vor.“
So bleibt unsere Heldin auf ihren Schulden sitzen und häuft eher weitere an.
Der Erzählung ist in der Ausgabe des Launenweber Verlags noch eine schöne Zusammenfassung des Lebens der Gräfin von Gunna Wendt angefügt, die über die Autorin auch schon ein Buch schrieb.
Es dreht sich alles um das Geld. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen“ so wird in dem Nachwort Gräfin zu Reventlow zitiert. Und noch ein Zitat aus einem anderen Roman der Autorin: „Die beste Vorsorge fürs Alter ist jedenfalls, dass man sich jetzt nichts entgehen lässt, was Freude macht, so intensiv wie möglich lebt.“
Die Lektüre dieses schmalen Bandes macht Freude.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Florian Illies hat es getan. Er hat seinem klugen Buch „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ eine Fortsetzung folgen lassen. „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“. Ich kann es ihm nicht verübeln. Denn er erzählt ebenso geschmeidig, wie schon in dem ersten Band von den großen und den kleinen Ereignissen, die sich 1913 zugetragen haben.
Und ich freue mich, aus meiner Rezension über den ersten Band zitieren zu dürfen: „Was der Mann in ein Sachbuch gepackt hat, ist in Wahrheit ein Roman. Mitwirkende sind viele Geistesgrößen des letzten Jahrhunderts. Schnitzler und Freud, Marc und Macke. Picasso und Matisse. Rilke, Trakl und Kafka. Und so könnte ich weitere Namen nennen. Er geht mit ihnen durch das Jahr. Eine synchronoptische Schau, wie es der 1913 geborene Werner Stein später mit seinem sogenannten Kulturfahrplan vormachen wird. Nur Illies kleidet es in Sätze. Er erfindet kleine Geschichten, er malt Gemälde. Es ist einfach eine große Lust, diesen Abschnitten zu folgen. Manchmal nur einzelnen Sätzen, manchmal doch ein oder sogar zwei Seiten zu einem Thema, einer Person, einer Ausstellung, einem Bild.
Es ist keine Kulturgeschichte, es sind Kulturgeschichten.
Es ist eine Ansammlung kluger Sätze und ebensolcher Einsichten.“
Und wieder konnte ich viel lernen über mir bekannte Personen oder Dinge, aber eben auch über mir bis dato völlig unbekannte.
Die Erfindung der Kleinbildkamera etwa oder Srinivasa Ramanujan, dem Mathematiker, dessen Name mit einigen Theorien verbunden ist, zum Beispiel der Primzahltheorie. Die Patentanmeldung für den Reißverschluss. Die Geschichte von Richard Norris Williams, der den Untergang der Titanic stundenlang im eiskalten Wasser schwimmend überlebte, der sich gegen den Ratschlag der Ärzte, seine Beine amputieren zu lassen, im Jahre 1913 US-Universitätsmeister im Tennis wird und kurz darauf Wimbledon und die US – Open gewinnt. Wahnsinn!
Illies sollte gewisse Wortspielereien allerdings lassen, die sind unter dem Niveau seiner Geschichten. So der Satz „Die Wagners, eine Familie voll Wahn und ohne Fried.“
Und noch etwas: extrem ist schon der Superlativ; ein „am extremsten“ kann es also nicht geben!
Genug genölt! Was den Reiz, die Faszination der Geschichten, die er erzählt ausmacht, lässt sich an dem folgenden Beispiel illustrieren: „Am 11. Oktober ist Franz Kafka in München. Er kommt von Riva am Gardasee und fährt am nächsten Tag weiter nach Prag. Was macht er an diesem langen Tag? Ist er im Technikmuseum wie kurz zuvor Marcel Duchamp? Hat er sich die El-Greco- Ausstellung in der Alten Pinakothek angesehen? War er im Englischen Garten spazieren wie eine Woche zuvor Hugo von Hofmannsthal und Rilke? War er im Kino? Hat er an Felice gedacht oder mehr an seinen Sommerflirt aus Riva? Aber vielleicht liegt er auch einfach nur apathisch da auf seinem Bett im Hotel Marienbad und überlegt hin und her, ob er nicht doch das Zimmer wechseln sollte, weil man den Aufzug so laut hört. Ein paar Straßen weiter schreibt Thomas Mann an den ersten Seiten des Zauberberg und Oswald Spengler am Untergang des Abendlandes.“
Ein wundervolles Buch, ein Schatzkästlein toller Geschichten und der Geschichte.
Sie ahnen, was nun folgt: Meine klare Empfehlung für die Lektüre dieses Buches.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Auf Seite 79 meiner Taschenbuchausgabe taucht zum ersten Mal der Vorname des Erzählers dieser Geschichte auf, Max! Auf Seite 104 erfahren wir, dass er Maximilian Aue heißt. Jurist ist und kurze Zeit danach auch promoviert sein wird. Dass diese Geschichte einen langen Atem hat, weiß man natürlich schon, wenn man den Ziegelstein in die Hand nimmt. Rund 1360 Seiten hat diese Geschichte mit diesem langen Atem, der allerdings entsetzlich stinkt.
Jonathan Littell breitet die Geschichte vor uns aus. Geschickt verpackt, mit weitem Spannungsbogen, obwohl wir von Anfang an wissen, dass dieser Dr. Aue ein Nazi und Kriegsverbrecher ist. Ein SS-Scherge, der das Ende des Krieges überlebt und anschließend in Frankreich untertaucht und sich dort eine bürgerliche Existenz aufbaut.
Der Roman „Die Wohlgesinnten“ ist über weite Strecken grandios gelungen, fulminant erzählt und dennoch ein übles Machwerk.
Wir begleiten den Dr. Aue durch das Kriegsgeschehen, nehmen an der Ermordung der Juden in der Ukraine teil, wir sind im Kessel von Stalingrad, wir besichtigen die Tötungsfabrik Auschwitz und sind schließlich in den letzten Kriegstagen in Berlin dabei, als das gloriose 1000jährige Reich in Schutt und Asche zerfällt.
Nicht nur das, wir kommen einigen Nazigrößen ganz nah und auch damit nicht genug, wir begleiten den Psychopathen Aue auf seinen Traumreisen. Den Homosexuellen, den Mann, der sich geschworen hat, nur seine Zwillingsschwester zu lieben, mit der ihm ein inzestuöses Verhältnis verbindet.
Der Mann, der in seinen Albträumen stets und ständig von Fäkalien träumt, der ein schwerer Alkoholiker zu sein scheint, der gern und ausführlich mit anderen philosophiert und der schließlich vor einigen heimtückischen Morden nicht zurückschreckt.
Nein, diese Geschichte brauchte die Welt nicht. Sie kommt nämlich auf leisen Pfoten daher, wie die Katzen einer der vielen undurchsichtigen Charaktere in diesem Roman. Alles nur Opfer, Schuld sind die anderen. Man selbst kann nichts dafür und das Wenige, was man bewusst getan hat, versucht man im Alkohol zu ersäufen und schließlich hat man ja die Ausrede, dass Krieg gewesen ist.
Nein, diesen Roman hat die Welt nicht gebraucht!
Was für eine ganz andere Art, sich mit der eigenen oder besser der Vergangenheit der Eltern und Großeltern auseinanderzusetzen, wählt die deutsch-amerikanische Illustratorin Nora Krug mit ihrem Buch „Heimat“.
Ich schreibe Buch, weil sich das Werk einer Kategorisierung entzieht. Es ist kein Roman, keine Autobiographie, kein Bilderbuch, keine „Graphic Novel“. Es ist etwas unerhört Eigenständiges. Sie nennt es selbst im Untertitel „Ein deutsches Familienalbum“
Am Anfang berichtet sie von einem Gespräch in New York, als sie auf der Dachterrasse eines Hochhauses eine alte Frau trifft, die dem Holocaust entgehen konnte, weil wahrscheinlich eine der Aufseherinnen sich in sie verliebt hatte. Auf der nächsten Seite sieht man neun Fotografien von KZ-Aufseherinnen. Ein Satz der alten Frau in New York kann der Auslöser für das Buch gewesen sein. „Sie machen auf mich den Eindruck, als seien Sie von liebenden Eltern aufgezogen worden.“
Sie spürt dem Leben der Eltern, Nachkriegskinder, und den Leben der Großeltern nach. Sie spürt aber auch nach, wie sich ihr Leben, verändert hat nach vielen Jahren in den USA: „Nach meinen zwölf Jahren in Amerika, fühle ich mich deutscher als jemals zuvor.“
Daher enthält das Buch Seiten, die mit „Aus dem Notizbuch einer heimwehkranken Auswanderin – Katalog deutscher Dinge“ überschrieben sind. Da findet sich der Wald und das Pilzsammeln ebenso wie die Leitz-Ordner. Das Buch enthält so unendlich mehr, die Akte ihres Großvaters Willy, Nazi, aber nicht mehr. Mitläufer oder mehr?
Auf der Frontseite des Buches steht eine Frau mit dem Rücken zum Betrachter auf einer Erhebung, hält einen Stock in der Hand und schaut über eine Ortschaft und Wälder in die Ferne, wo ein brennendes Flugzeug zu sehen ist.
Das Bild erinnert natürlich an das Gemälde von Caspar David Friedrich „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Nora Krug hat mehr als bloß Wolken gesehen und sie hat darüber hinaus ein wunderbares Buch geschaffen, das man nicht unbedingt von der ersten bis zur letzten Seite lesen muss, sondern immer wieder aufschlagen kann, weil sich der Blick sofort festsaugt und den Lesenden in die Geschichte des Großvaters, seines im Kriege gefallenen Bruders und anderer Personen hineinzieht. Übrigens der Katalog deutscher Dinge endet mit dem Alleskleber Uhu und ihr Buch mit dem Satz: „Obwohl Uhu der stärkste Kleber ist, den es gibt, kann er Bruchstellen nicht verdecken.“
Stöbern Sie in dem Buch, vielleicht bringt es Sie auf die Idee, mehr über Ihre Familie zu erfahren. Dieses Buch sei allen sehr ans Herz gelegt!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Was für ein fulminanter Roman!
Da hat einer lange an der Geschichte und an den Sätzen gedrechselt. Denn: „Was dann nachher so schön fliegt“, wie lange ist darauf rumgebrütet worden.
So zitiert der Autor Hilmar Klute den Dichter Peter Rühmkorf und macht den ersten Teil des Satzes zum Titel seines Romans.
Dessen Held heißt Volker Winterberg. Volker arbeitet 1986 als Zivildienstleistender in einem Altenheim in Bochum. Er will ein berühmter Dichter werden und tatsächlich tut sich Einiges in seinem noch jungen Poetenleben. Volker hat eine Einladung zu einem Wettbewerb für Jungautoren der Berliner Festspiele erhalten. Der Wettbewerb bietet den jungen Künstlerinnen und Künstlern die Gelegenheit einige Gedichte vorzustellen und an Workshops mit Leuten vom Fach teilzunehmen.
Also wird Volker sich einen Tag Urlaub nehmen und für ein Wochenende nach West-Berlin reisen. In dem bescheidenen Gepäck sein Notizbuch, in dem er alle Ideen und die Entwürfe seiner Gedichte sammelt, um sie später zu bearbeiten, damit sie dann eines Tages so schön fliegen können.
In diesem Büchlein sind auch Aufzeichnungen eines Trips nach Paris, den er kurz vor Beginn seiner Zivildienstzeit gemacht hatte. Wir werden die Einzelheiten und das Gedicht zu dieser Reise im Roman ausführlich kennenlernen.
Wir lernen auch ganz viel über Volkers Arbeit im Altenheim, über die „professionellen“ Kolleginnen und Kollegen und dem Leiter der Einrichtung. Auch einige alte Menschen, mit denen Volker es zu tun hat, werden auf eine wundervoll stimmige Weise uns Lesenden nähergebracht.
Natürlich auch seine Zeit (ein Wochenende) im wilden West-Berlin. Die Beschreibung geht einem alten Westberliner besonders unter die Haut, wenn da noch einmal Kneipen und Cafés vor dem geistigen Auge zum Leben erweckt werden.
Und natürlich gibt es eine Liebesgeschichte, die vielleicht gar keine ist, vielleicht ist sie aber auch das, was wir allzu häufig mit einer solchen verwechseln.
Hilmar Klute schichtet seinen Roman sehr geschickt auf vier Ebenen, die sich abwechseln und ineinanderschieben.
Die Arbeit im Altenheim, der kurze Ausflug nach Paris, die erträumten Teilnahmen an Sitzungen der Gruppe 47 und seine Aufenthalte in West-Berlin. Einmal zu dem erwähnten Wettbewerb und noch ein zweites Mal einige Zeit später.
Über diesen zweiten Besuch und dem was dann folgt, berichte ich hier nicht, denn man muss diesen Roman selbst lesen!
Dieser Roman enthält ganz viele wundervolle Sätze und Wendungen. So beispielsweise die Eloge auf den großen Bruno Ganz und seine Kunst, einen Text vorzulesen. In den erträumten Berichten über die Tagungen der Gruppe 47 wird Günter Grass zum Fürsprecher einer „Künstlerin“ mit einem Plädoyer, das genau den Grass Ton trifft. Man meint, seine sonore Stimme zu hören.
Einer von Volkers „Pfleglingen“ sagt ihm einmal: „Ich bewundere alle jungen Leute, die hier herkommen und nicht zur Bundeswehr gehen. Krieg ist Scheiße. Krieg macht alle kaputt, auch diejenigen, die davonkommen.“ Und Klute fügt dann an: „Es muss eine Qual gewesen sein damals, aus dem Krieg zurück in das zerbombte und vergessenssüchtige Deutschland zu kommen und Dinge erlebt zu haben, die man niemandem erzählen konnte.“ Volker versteht sich als Zivildienstleistender, er kümmert sich um die Alten, ein wenig, zumindest: „Meine Aufgabe sah ich darin, in diese Routine ein paar Girlanden des Wohlbehagens zu Flechten.“ Und da ist diese feine Sprache des Romans, denn auf Girlanden des Wohlbehagens kommt man nicht einfach so; da hat man „rumgebrütet“.
Und wie wohltuend einfach, die Beschreibung des Kleinstadtlebens: „Was fängt man an, wenn man durch eine Kleinstadt geht, die nichts zu bieten hat außer einem friedlichen Alltagsleben, das die Menschen hier langmütig machte; wer es zu eintönig findet, kann ja weggehen, alles ist ganz zwanglos.“
Und aus der Abteilung der wundervollen Metaphern nur einige Beispiele: „Er sah aus wie ein Glas Milch, dass keiner trinken mochte.“
Oder der überaus poetische Absatz mit feiner Metapher: „An Samstagen übernahm ich hin und wieder noch die Frühschicht. Die Station kam mir dann immer ein bisschen feierlicher vor, so als freuten sich auch der Tod und seine hässliche Nichte, die Gebrechlichkeit, auf ein geruhsames Wochenende.“ … „Es gab so etwas wie die Ruhe der Arbeit, die Zufriedenheit des Werktätigen, und ich musste zugeben: mir gefiel das.“
Leider gibt es Metaphern nicht zu kaufen, aber auch hierüber macht sich unser Autor Gedanken: „Ich konnte beobachten, wie er bei besonders riskanten Metaphern wissend nickte, so als hätten die beiden kürzlich in Charlottenburg einen besonders feinen Metaphernladen ausfindig gemacht, dort edelste Metaphern verkostet und nun seien sie ausgewiesene Virtuosen im Metaphernabschmecken.“
Und dieser Roman steckt voller kluger Ideen und Sätzen: „Die Leute beklatschten sie ein bisschen mitleidig, die Unverstandenen werden immer bemitleidet, das ist in der Regel einfacher, als sich der Mühe des Begreifenwollens zu unterziehen.“
Und noch einmal zu der poetischen Sprache und den wundervoll ausgewogenen Metaphern: „Ich war glücklich, dass sie nicht gegangen war. Glücklich, nicht erleichtert. Erleichterung ist das Glück der Halbherzigen.“
„Hyperventilieren – für bestimmte Wörter müsste es ein Abschiebegesetz geben.“
„Es ist tröstlich, wenn der Herbst noch nicht mit der Faust auf die Welt schlägt, sondern lieber ein bisschen Sommernachbereitung macht, mit schönen langen Schatten an den Hauswänden, …“
„Die wehenden Gardinen hinter den auf Kippe gelegten Schlafzimmerfenstern, es war jetzt die Zeit zum Lüften.“
„Wenn Liebe nur der Kummer, des einen ist, dann ist es eine vergiftete Liebe.“
„Wie albern einem die Worte im Mund kugeln, wenn man weiß, dass man Dinge sagen muss, für die man im Augenblick keinen Mut aufbringt.“
„Man muss nämlich wissen, welche Wege man zuwachsen lassen kann und welche unbedingt offen bleiben müssen, verstehen Sie?“
Wer so viel Mühe hat walten lassen, wer so lange an allem gefeilt und darauf rumgebrütet hat, muss sich nicht mehr wundern, wenn sein Werk sich zu einem Höhenflug aufgemacht hat.
Ja, natürlich: Lesen Sie diesen Roman!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Mitte August des Jahres 1956 erhält der weltberühmte Schriftsteller Lion Feuchtwanger ein Telegramm aus Ost-Berlin, in dem er zur Teilnahme an einem Staatsakt zu Ehren des Dichters Bert Brecht eingeladen wird, der Tage zuvor verstorben war.
Die Nachricht vom Tode seines Freundes und Konkurrenten setzt den 14 Jahre älteren Mann in seiner Villa am Strand des Pazifiks ein wenig außerhalb von Los Angelos in Aufruhr. Zu allem Überfluss ist Marta, seine Frau ebenso verreist wie seine Sekretärin.
Lion, allein zu Hause.
Und so vergeht der eine Tag in dem Haus am Passeo Miramar mit ganz vielen Rückblenden. Ereignisse, die fast alle mit Brecht zu tun haben, aber ebenso mit den Werken Feuchtwangers. Die sich mit der Flucht vor den Nazis und Gedanken an seinen gerade entstehenden Roman beschäftigen. Seinen Problemen mit der Einbürgerungsbehörde, noch immer sind er und seine Frau Marta keine US-Bürger. Aber es interessiert ihn schon nicht mehr wirklich, weil er das Land sowieso nicht mehr zu verlassen gedenkt, also auch nicht an dem Staatsakt im Theater am Schiffbauerdamm teilnehmen will.
Der Tag geht vorüber, Szenen seines Lebens ziehen an ihm vorbei, wie die Wolken am Himmel. Er fühlt sich krank, sein Magen rebelliert, er spürt, dass diese Todesnachricht auch so etwas wie ein Hinweis auf sein nicht mehr allzu fernes Ende ist.
Als er am Abend, obwohl Marta ihm sein Essen für die Zeit ihrer Abwesenheit vorbereitet hat, zu einem Strandrestaurant geht, stellt er fest, dass der spanische Name der Straße, an der sein Haus liegt, nunmehr auch einen amerikanischen Namen erhalten hat: „Sunset“.
So heißt der fiktive Roman, den Klaus Modick schon vor einigen Jahren geschrieben hat. Und Modicks Meisterschaft besteht ja gerade darin, Menschen, die einst existierten in einen bestimmten Zeitraum zu stellen und geschickt tatsächliche Begebenheiten und Erdachtes miteinander zu verbinden.
Das ist ihm im Falle seines Romans sehr überzeugend gelungen.
Daher empfehle ich die Lektüre dieses schmalen Bandes durchaus.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Brinkebüll findet der Lesende nicht auf der Landkarte, aber Brinkebüll, dieser erdachte Ort, wird so lebendig geschildert, dass man einen ähnlichen Ort mit ein wenig Mühe sicherlich finden kann. Natürlich ist er da oben im Norden angesiedelt, wo die Leute Plattdeutsch sprechen, wo es alles so ruhig, so gemütlich zugeht. Oder besser gesagt: zuging.
Denn Dörte Hansen schildert in ihrem Roman „Mittagsstunde“ die Vergangenheit. So war es mal in diesem Dorf und in vielen anderen Dörfern. Um Husum und um Kiel. Und fangen so nicht auch die Märchen an: Es war einmal?
Ja, es war einmal ein junger Mann, der aus dem Krieg zu seiner Verlobten Ella zurückkam. Die war dann sehr schnell schwanger. Das Mädchen, das Ella zur Welt bringt, ist ein wenig sonderbar. Später wird sie durch das Dorf mit ihren Holzpantinen klappern und dabei die Leute in ihrem Mittagsschlaf stören – in ihrer Mittagsstunde. Und sie wird immer davon sprechen, dass die Welt untergehen wird. Sie bekommt selbst einen Sohn, Ingwer, für den sie aber keinerlei Muttergefühle entwickelt. Ingwer wird von den Großeltern aufgezogen, wird nach Kiel zum Studium gehen und kehrt als Professor für ein Sabbat-Jahr zurück, um seine „Eltern“ inzwischen hochbetagt, zu pflegen.
Brinkebüll hat sich verändert, es gab eine Flurbereinigung – Ingwer ist so etwas, wie das Kind dieser Bereinigung -, es gab das Abholzen der alten Alleebäume, es gibt nicht mehr die vielen kleinen Bauernhöfe, sondern nur mehr wenige große. Man trifft sich auch nicht mehr im Dorfgasthaus von Sönke, Ingwers Großvater, der seinen Enkel ja als ersehnten Sohn betrachtet. Und Sönke hat das Ziel, mit Ella die Gnadenhochzeit zu feiern.
Und Ingwer, bald fünfzig Jahre alt, räsoniert über sein Leben in einer Dreiecksbeziehung und weiß, dass er so richtig viel auch nicht auf die Reihe bekommen hat. Aber ihm fällt auf, dass sich das Dorf und sein Bewohner völlig verändert hatten.
Sie gingen eben nicht mehr zum Feierabendbier in den Dorfkrug. „Die Leute hatten sich das abgewöhnt wie ihre Mittagsstunde, es legte sich jetzt kaum noch jemand hin tagsüber.“
Und: „Ingwer schienen, wenn er durch das Dorf ging, nur noch Dinge einzufallen, die verschwunden waren.“
Also wieder ein Buch über das Verschwinden von Dingen, von Gebräuchen, von Kultur.
Dieser Roman ist voller genauer Beobachtung, voller Humor und führt sehr intelligent bestimmte Teile zusammen. Ingwers eigentliche Mutter, Marret, verschwindet eines Tages einfach aus Brinkebüll.
Gern hätte ich gewusst, was aus der klugen Klassenkameradin Ingwers wurde, der jüngsten Tochter des Bäckers Boysen. Aber nun ja, es gibt eben auch immer Spuren, die sich ins Nichts verlaufen.
Ich wage jetzt mal einen großen Satz, den ich nicht mehr verifizieren muss. In einem der wundervollen Dramen Cechovs fragt eine Figur, was denn in hundert oder zweihundert Jahren von ihnen noch übrig sein wird und kann diese Frage nicht so recht beantworten.
Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Roman „das Zeug“ zum Überdauern hat.
In jedem Falle ist dieser Roman ein großes Lesevergnügen, eine Reise in eine ferne und doch noch so nahe Vergangenheit.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
„Die griechischen Mythen neu zu erzählen heißt, in riesige Fußstapfen zu treten. …Es existiert ein einzigartiger Schatz erhaltener Quellen, die eine Chronologie der griechischen Mythen von der Erschaffung des Universums und der Geburt der Götter bis hin zum Ende ihrer Einmischung in die Angelegenheiten der Menschen nachzeichnen. Sie beginnen mit Homer …Überragt werden sie alle vom römischen Dichter Ovid, dessen Metamorphosen von den Sterblichen, Nymphen und anderen erzählen, die von den Göttern als Strafe oder aus Mitleid in Tiere, Pflanzen, Flüsse oder sogar Steine verwandelt wurden. … Ovid fügte freimütig hinzu, strich und erfand, und dies hat mich ermutigt, ebenfalls – sollen wir sagen einfallsreich? – in meinen Nacherzählungen zu sein.“
Das gesteht Stephen Fry am Ende seines großartigen Buches mit dem Titel „Mythos – was uns die Götter heute sagen“.
In der Tat, Fry rollt die Geschichte der verschiedenen Göttergeschlechter von Anfang an aus. Erklärt launig Begriffe und deren Ableitungen bis hinein in unseren heutigen Wortschatz. Es beginnt mit dem Chaos, den primordialen Gottheiten. Es folgen die Titanen und schließlich die uns heute noch halbwegs vertrauten Götter der Antike, der nächsten Generation. Die Geschichten, ob nun die Kastration des Uranos durch dessen Sohn Kronos oder dessen Sturz durch Zeus, werden in moderner Sprache erzählt, geistreich kommentiert und somit garantiert niemals langweilig.
Dann kommen wir Menschen ins Spiel, als Spielzeuge der Götter, aber weil Prometheus uns das Feuer schenkt, werden sich diese Spielzeuge emanzipieren, übermütig und größenwahnsinnig werden.
Ein großer Bogen wird gespannt und gegen Ende darf man philosophieren, ob das Schließen der Büchse der Pandora bevor Elpis sie verlassen konnte, für uns Menschen nun ein Segen oder ein Fluch ist.
„Für manche untermauert der Pandora-Mythos, wie schrecklich der Fluch des Zeus war. Alles Übel der Welt, so sagen sie, wurde von ihm geschickt, um uns zu plagen, und er verweigerte uns sogar den Trost der Hoffnung. … Andere meinen, dass Elpis nicht nur für Hoffnung steht, sondern auch für Erwartung, ja mehr als das, für die Erwartung des Schlimmsten. Vorahnung in anderen Worten, Schrecken, ein Gefühl für den drohenden Untergang. Diese Interpretation des Pandora-Mythos legt nahe, dass die letzte Plage, die in der Büchse verschlossen wurde, die schlimmste von allen war und dass ohne sie dem Menschen wenigstens die Ahnung davon erspart blieb, wie schrecklich sein Schicksal und wie sinnlos grausam seine Existenz ist. Mit anderen Worten: Solange Elpis sicher weggeschlossen ist, sind wir wie Epimetheus in der Lage, in schönster Ignoranz von einem Tag auf den anderen zu leben, ohne den Schatten der Pein, des Schmerzes und des unausweichlichen Scheiterns, der über jedem von uns schwebt, zu spüren. Eine solche Interpretation des Mythos ist, auf eine finstere Art und Weise, sogar optimistisch.“
Ich merke gerade, dass ich mit den Zitaten den Eindruck erwecken könnte, dieses Buch sei eine staubtrockene Abhandlung über die letzten Dinge der Menschheit. Dem ist nicht so, es ist vielmehr ein von Witz und gut erzählten Episoden geradezu überlaufender Erzählband.
Man muss ihn gelesen haben.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Der Plot ist nicht schlecht: Kinderarbeit in den Minen des Kongo. Dort wo man Coltan abbaut. Blut klebt an diesem Erz, das für unsere moderne Kommunikationswelt so dringend benötigt wird. Und eine afrikanische Künstlerin will aufdecken, dass das gewonnene Erz gar nicht so fair abgebaut wird, wie die Berliner Firma immer wieder behauptet. Vor der Eröffnung einer Ausstellung wird ihr neben ihrem Kunstobjekt die Kehle durchgeschnitten.
Das ist natürlich ein Fall für unsere Radioreporterin Emma Vonderwehr. Und so nimmt die Erzählung schnell Fahrt auf und irgendwann bringt die tüchtige Frau sich und Familienmitglieder in Lebensgefahr und ihr Ex, der ermittelnde Kommissar, ist besorgt und immer noch sehr bemüht um sie und … Ach, lesen sie doch einfach selbst.
Zur Unterhaltung, zur Ablenkung ist der Kriminalroman „Berliner Blut“ der Journalistin Mechthild Lanfermann gut geeignet. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.
„Sein Schäfchen ins Trockene zu bringen, heißt nicht, mit dem Schäferhund befreundet zu sein. Sondern den Stall und das Land zu besitzen.“
Diese Erklärung gibt die Schriftstellerin Anke Stelling in ihrem Roman „Schäfchen im Trockenen“ auf Seite 94 ab. Ihre Hauptfigur Resi ist Schriftstellerin, wie sie. Resi ist mit einem bildenden Künstler verheiratet und die beiden haben vier Kinder zwischen vierzehn und vier Jahren. Sie leben in einer Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Diese Wohnung haben sie von Freunden überlassen bekommen, die wiederum mit anderen Freunden zusammen in ein Haus gezogen sind, dessen Bau von der Freundesgruppe gemeinsam finanziert worden ist. Nun hat Resi eine Kopie eines Schreibens des eigentlichen Hauptmieters an den Vermieter erhalten. Aus diesem Brief geht hervor, dass man die Wohnung kündige. Resi und ihrer Familie bleiben drei Monate, um aus „ihrer“ Wohnung auszuziehen und es ist sicher, dass sie eine vergleichbare Wohnung in dem angesagten Bezirk nicht zu ähnlich guten Konditionen finden werden.
Die Kündigung der Wohnung und damit der „Resi Familie“ ist die Quittung für einen Artikel und ein Buch, die Resi veröffentlichte und in dem sie sich über das neue Haus und deren Bewohnern, ihren Freundinnen und Freunden, offensichtlich zu lustig gemacht hat.
Die Autorin Anke Stelling tut so, als ob wir in den Aufzeichnungen der Autorin Resi lesen würden, die diese an ihr ältestes Kind richtet. Bea bekommt hier eine volle Pulle Leben mit auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden.
Denn Resi hat niemand gewarnt, wie ein Leben mit Kindern und Familie alles ändert: „Davon hat mir keiner erzählt: wie es wirklich ist mit Kindern. Wie demütigend, ihnen kein Vorbild zu sein. Vom Wahnsinn des Familienlebens, dem Gefängnis der Ehe, dem Elend der Elternschaft.“
Anke Stelling ist ein guter, ein sehr guter Roman über das Leben von den kleinen oder zumindest kleineren Leuten gelungen, die sich etwas hart erarbeiten müssen, denen man wahrscheinlich bis an ihr Ende den Unterschied anmerken wird zwischen reich und Mittelklasse und arm. Ihr ist ein lebendiges Bild der gestressten Paare gelungen, die alles richtig machen wollen und vielleicht gerade deshalb genauso viele Fehler begehen wie deren Eltern. Die Autorin hat genau aufgepasst, sehr scharf beobachtet und mit viel Witz diesen kleinen Kosmos der „Resi Familie“ vor uns Lesenden ausgebreitet.
Ich wüsste gern, wie die Geschichte weitergeht, wie sich die Kinder entwickeln, wie die Ehe zwischen Sven und Resi und …!
Also eine klare Leseempfehlung!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Ich bekenne es gern immer wieder, dass ich die Romane des Holländers Cees Nooteboom sehr schätze. Seitdem ich seine Reiseschilderungen aus und über Spanien las, mag ich auch diesen Teil seiner Arbeit sehr. Der Suhrkamp Verlag hat vor einigen Jahren einen Sammelband über seine Notizen über ferne Länder herausgegeben. Dieses Buch trägt den Titel „Schiffstagebuch“. Es berichtet von einer Schiffsreise nach Montevideo, einem Aufenthalt in Indien, einer Reise nach Australien, einer nach Mexiko, einer Schiffsreise entlang der afrikanischen Küste, einer Tour nach Spitzbergen und einer Wiederbegegnung mit Bali.
Und wie immer bei Nooteboom sind es die präzisen Beobachtungen der Menschen, die Schilderungen von Museumsbesuchen und nicht zuletzt die profunde Kenntnis über Land und Leute, die diese Berichte zu Literatur formen.
Seine kurzen Bemerkungen über die Flüchtigkeit seiner Begegnungen beeindrucken mich immer wieder: „In der Ferne sehe ich im Hafen unser Schiff als weißes Zeichen, dass ich hier nur vorübergehend bin, doch für diese Erkenntnis brauche ich kein Schiff.“
Er betrachtet in Argentien in einem Museum Fotos von Einheimischen: „Unter dem Foto von dem Boot mit den beiden Menschen und dem schiefen Segel stand: ‚Die Europäer verändern alle ihre Gewohnheiten: Nahrung, Kleidung, nur nicht ihre Wasserfahrzeuge.‘ Aber doch ihr Schicksal. Der Untergang dieser Menschen hatte begonnen (1898). Wohin die Yámana auf diesen Fotos im Buch und im Museum blickten, war eine Zukunft, die es nicht geben sollte.“
Er beschreibt das auch mir bekannte Gefühl beim Lesen einer Lokalzeitung: „Fremde Städte haben ihr eigenes Gesellschaftsspiel, man kennt weder die Regeln noch die Spieler und bewegt sich hindurch als Fremdkörper, der man ist, lässt sich von Geheimnissen umspülen, liest die Lokalzeitung mit der lokalen Erregung, den Intrigen der kleinen und großen Politik, und genießt, dass man zu alldem keine Meinung haben muss.“
Und es sind diese kurzen Sätze, die seine Bücher so lesenswert machen, so wenn er das Grün einer Gegend zu beschreiben versucht: „Es ist grell, es ist gemein, es schneidet in die Augen, es ist barbarisch, es ist wild, es ist unbeschreiblich, weil es nicht beschrieben werden will, …“
Oder diese Weisheit: „Wiederholung ist ein Versuch der zyklischen Zeit, in die Nähe der Ewigkeit zu gelangen, an manchen Orten gelingt das besser als an anderen.“
Man darf, kann, nein sollte auch dieses Reisebuch lesen.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Es ist ein schmaler Roman, gerade 160 Seiten. Da kann man nicht Kapitel damit verschwenden, die Landschaft oder das gerade herrschende Wetter ausführlich zu beschreiben. Da muss man auf den Punkt kommen. Und genau das ist der Erzählstil dieses Romans von Susan Hill mit dem deutschen Titel „Stummes Echo“, wobei mir der Originaltitel besser gefällt „The Beacon“. So heißt das Anwesen oder besser der Hof einer englischen Familie irgendwo auf dem englischen Lande. Die Eltern haben vier Kinder und der Roman erzählt auf wenigen Seiten von deren Leben. Einem eintönigen Landleben ohne Höhepunkte, ohne große Perspektiven. Im Mittelpunkt der Geschichte steht zunächst May, später auch deren Bruder Frank. Nach dem Tod zweier Säuglinge im Kindbett und zwei Brüdern, Colin und Frank, kommt sie auf die Welt und einige Jahre später noch eine Schwester, Berenice.
Die Geschwindigkeit der Erzählung kommt vielleicht einfach am besten mit einem Beispiel zur Geltung: „Zwei Tage vor Kriegsausbruch lag Bertha kurz in heftigen Wehen und brachte Colin zur Welt, acht Pfund schwer und strotzend vor Gesundheit. Kaum ein Jahr später wurde Frank geboren. Jetzt waren sie selbst eine Familie und schauten nicht mehr zurück, auch wenn Bertha jedes Ostern und Weihnachten auf den Friedhof ging, um Blumen auf die Kindergräber zu legen. In den Jahren als sie krank war und zuerst ans Haus und dann ans Bett gefesselt, hatte May diese Aufgabe übernommen, weil man sie darum bat und weil es schon immer so gemacht worden war, wie so vieles in diesem mit Gewohnheiten und Bräuchen und ein paar Ritualen angefüllten Leben.“
Der Vater stirbt, schließlich auch die Mutter und man kommt im Beacon zusammen.
Denn: „Im Übrigen verliefen die Tage in einem beruhigenden Gleichmaß, und die Zeit floss dahin wie das Wasser im Fluss.“
Was ich jetzt ausgelassen habe, ist die Geschichte, die sich zwischen den Geschwistern abspielt. Welche Art von Erinnerung nimmt man aus seiner Kindheit mit ins Leben. Wie kommen die Geschwister in der großen weiten Welt zurecht? Was einte sie und was bringt sie auseinander. Was bestimmt darüber, was aus einem Menschen wird. Welche Einflüsse sind dafür verantwortlich an einer Weggabelung wie abzubiegen?
Dieser kleine Roman, so still er daherkommt, so unaufgeregt schließlich die Leben der Personen verlaufen, stellt ganz große Fragen und ist ein kleines Meisterwerk.
Eine verdienstvolle Entdeckung des kleinen Kampa Verlags, dieses auch äußerlich so schlichte, aber schöne Werk, den deutschsprachigen Lesenden zu präsentieren. Eine klare Leseempfehlung und vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Zur Vorbereitung einer Reise nach Kuba, so ein Bekannter von mir, könne man gut die Kriminalromane von Leonardo Padura lesen.
Also fange ich mit dem ersten Roman aus dem Havanna Quartett des Autors an: „Ein perfektes Leben“.
Da begegnet dem Lesenden der Teniente Mario Conde. Der Mann hat zwei gescheiterte Beziehungen hinter sich, trinkt zu viel und raucht noch mehr. Der Krimi spielt in den letzten Jahren des letzten Jahrhunderts kurz nach Silvester. Ein hochrangiger Mann aus der Industrie wird von seiner Frau als vermisst gemeldet. Abends noch auf einem Fest zum Jahreswechsel ist er am nächsten Morgen verschwunden. Conde kennt den Vermissten und auch dessen Frau. Mit ihr ging er in die gleiche Klasse der Oberstufe des Gymnasiums, während der Verschwundene schon vor dem Abitur stand. Conde war, wie alle anderen Jungs seiner Klasse in diese Frau verliebt, die aber damals schon mit ihrem späteren Ehemann zusammen war. Also keine leichte Aufgabe, in einem solchen Umfeld, in das man doch irgendwie sehr nah verstrickt ist, zu ermitteln.
Ich verrate natürlich nicht, was sich in den folgenden Tagen so abspielt, aber man lernt tatsächlich viel über die Verhältnisse in dem sozialistischen Land Kuba.
Und ich mochte den Stil des Autors, die lakonische Art der Beschreibung von der Veränderung der Menschen, die man einst gekannt und in manchen Fällen sogar begehrte. Es ist für Conde immer wieder ein Eintauchen in die Vergangenheit. Und natürlich wird der Fall aufgeklärt, aber nun muss man selbst zum Buch greifen und lesen!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
„Machandel“ ist der Name eines fiktiven Dorfes in Mecklenburg-Vorpommern, es ist auch der norddeutsche Name des Wacholders. Und das Dorf steht im Mittelpunkt des Familienromans von Regina Scheer, ebenso wie das Märchen vom Machandelbaum. Über dieses Thema promoviert Clara und da sie eine der Erzählerinnen des Romans ist, traktiert sie uns Lesende immer wieder mit einer leichten Variation des Märchens und erzeugt damit ein zu viel an Bedeutungsschwere. Clara und ihr Mann finden in dem Ort, dem Geburtsort ihres älteren Bruders Jan, einen alten leerstehenden Katen, den sie schließlich kaufen und zu ihrer Sommeridylle machen.
In dem Ort finden sie sich ein, weil Jan aus der DDR ausreisen darf und sich von Freunden in dem Dorf verabschieden will. Der Vater der Geschwister ist ein hoher SED-Funktionär, Hans Langner, hat in der Nazizeit im KZ gesesssen, am Todesmarsch teilgenommen und schließlich als geflohener Gefangener Unterschlupf in dem Dorf gefunden, eine um viele Jahre jüngere Frau kennengelernt, die ihn pflegte und Mutter von Jan und Clara wurde. Hans ist eine weitere Erzählstimme, hinzukommen weitere Stimmen, so dass beim Lesenden langsam eine Geschichte entsteht, ein größeres Bild als bei den einzelnen Erzählenden. Die Nazizeit, die Zeit der DDR, die Wendezeit und fast schon die Zeit im Hier und Jetzt. Ein verwegenes Unterfangen auf rund 470 Seiten.
Für einen Lesenden aus Westberlin oder der alten Bundesrepublik zum Teil nicht wirklich nachvollziehbar. Zum Teil im larmoyanten Ton, zum Teil aus einer naiven Erzählhaltung geschrieben, resultiert bei mir ein sehr uneinheitliches Bild dieses Romans.
Es ist nicht der große literarische Wurf, es ist der Versuch einer Aufarbeitung, sicherlich auch mit sehr vielen autobiographischen Zügen.
Ich tat mich manchmal bei der Lektüre schwer, bohrte mich mühselig durch manche Kapitel, konnte andere wiederum sehr gut aufsaugen.
Die Lektüre lässt mich stellenweise recht ratlos zurück. Ich war nicht so besonders eingenommen von ihr, aber alle mögen sich selbst ein Bild machen und zu dem Roman greifen.
Die Bibliothek ist das Universum, aus unendlich vielen Sechsecken bestehend, mit unendlich vielen Büchern, die alle gleich viele Seiten und Schriftzeichen in allen Sprachen dieser Welt enthalten. Alles ist schon irgendwo, irgendwie erfasst und vielleicht braucht es Jahrhunderte oder mehr Zeit, um das richtige Buch zu finden, was immer das richtige Buch sein mag.
Ich kann die Erzählung von Jorge Luis Borges „Die Bibliothek von Babel“ nicht besser zusammenfassen.
Man muss diese Kurzgeschichte schon selber lesen, um sich dann in der Weite des Raumes dieser Bibliothek zu verirren.
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.
Der Roman beginnt mit dem nachfolgend zitierten Absatze und dieser Beginn verspricht nicht zu viel, er fordert etwas von dem Lesenden: Geduld und Aufmerksamkeit und Muße und die Fähigkeit, sich auf eine Geschichte einzulassen.
Der Roman „Die Strudelhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ von Heimito von Doderer beginnt so:
„Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte.“
Diese Mary wird also ein Bein verlieren, ihr Mann wird im Laufe der Geschichte sterben und ein Doktor Negria wird vielleicht der Liebhaber der schönen, später einbeinigen, Mary? Ich verrate nichts, wenn ich hier andeute, dass der Doktor zwar hier und da auftaucht, aber keine Rolle spielen wird und auch Mary wird es nur in einem sehr begrenzten Umfang. Warum nun der Nachname des Ehepaares K. uns verborgen bleibt, der Doktor Negria, obwohl Randfigur uns mit Vor- und Zunamen vorgestellt wird, bleibt ein Geheimnis des Autors. Warum hingegen Melzer (Leutnant, Major und Amtsrat) immerhin eine Titelfigur nur konsequent mit seinem Nachnamen in Erscheinung tritt, verrät uns der Autor: er kennt den Vornamen einfach nicht.
Überhaupt die Namen. Doderer macht sich hier sicher auch über sich selbst lustig, wenn er einer seiner vielen Nebenfiguren, die einen Roman bespricht, sagen lässt: „Sonst fahren sie gleich mit den ausgefallensten Namen auf, die Schriftsteller.“ In der Tat: Siebenstein und Stangeler, Grauermann, Zihal, Wedderkopp und Rokitzer. Und der Rittmeister Eulenfeld, den er wie folgt charakterisiert: „Sie gehörte überdies zu jenen sehr zahlreichen Wiener Frauen, in deren Leben der Rittmeister von Eulenfeld hineinspielte und das hat noch keiner wohl bekommen; weshalb denn auch Kajetan seinen alten Saufbruder oft den ‚Zerrüttmeister‘ zu nennen pflegte.“
Den Inhalt dieses umfangreichen Romans, der im Wesentlichen in den Jahren 1911 und 1925 spielt, kann ich nicht zusammenfassen. Es ist die Geschichte von Menschen, deren Lebenswege sich immer wieder kreuzen, die sich besonders gern an der Strudelhofstiege begegnen, „jene Strudelhofstiege zu Wien ist eine Treppenanlage, welche die Boltzmanngasse – erst in der Republik von 1918 wurde sie nach dem großen Mathematiker benannt – mit der Liechtensteinstraße verbindet und die Mitte dieses Teils der Strudelhofgasse darstellt.“
Es ist die Geschichte von Menschen, die gemeinsam Abende in ernsten Gesprächen verbringen. Es ist natürlich von Liebe die Rede, aber so recht ein Liebesroman ist es nicht. Eine Verwechslungskomödie, ein kleiner Betrugsversuch und immer wieder das Thema, wie passen Frauen und Männer zusammen.
Der Roman, meisterlich komponiert, ist ein Fest für alle, die gern gelungene Metaphern lesen. Die sich an Beschreibungen von Menschen und Natur ergötzen können. Denen soll hier ein wenig Appetit gemacht werden:
- „… dessen einer Schornstein eine reinblaue Rauchfahne im leisen Luftzug abstreichen ließ wie eine festliche Flagge, der kommenden mittäglichen Tafelfreuden wegen aufgezogen.“
- „Der Abend begann oben sein rötliches Licht zu filtern und trat in einer breiten glühenden Pforte zwischen die Äste.“
- Astas Wesen war an diesem Morgen von Lustigkeiten überfleckt wie der dunkle Waldboden hier von den Sonnenkringeln.
Doderer spielt mit uns Lesenden. So wie er in seinem Romanbeginn den Unfall der Mary K. verrät, lässt er uns ahnen, wann es geschehen wird. Mary stolpert an dem besagten Tage schon über einen Läufer im Treppenhaus und da ist der Lesende bereits eingestellt, dass heute dieser Unfall passieren wird. Doderer berichtet, und er kann ein Leben seiner Figuren in wenigen Sätzen skizzieren, schon von einem späteren Selbstmord einer Figur, wo diese doch noch ganz am Anfang ihres aufregenden Lebens steht: „…und dahinter erst tauchte das recht ennuyierte und trübselige Gesicht auf, weit ätherischer als Etelka je gelebt hat, die in Wirklichkeit damals eine ganz gesunde Dirn vorstellte (in ihrem späteren Leben hat die Frau Konsul Grauermann allerdings bis zum Selbstmord an Schlaflosigkeit gelitten und am Ende jenen Selbstmord auch wirklich begangen).“
Wir sind also fast immer auf bestimmte Ereignisse vorbereitet. Nichts erwischt uns sozusagen eiskalt.
Ist dieser Roman ein Großstadtroman? Der Wien-Roman? Manche Passage könnte dies nahelegen:
„Man denke, es war 1910, ein Spätsommertag.
Melzer ließ sich mit Plaisir von der vielfältigen Bewegung hier umwimmeln. Hätten wir ihm dabei ganz genau hinter Rock und Hemd und durch Herz und Nieren gesehen: ich vermeine, wir hätten entdeckt, dass sein Vergnügen am vielfältig durcheinanderschießenden und fädelnden großstädtischen Verkehr einen unbewussten Beigeschmack von ;das gibt’s eben trotz alledem‘ hatte; und dass dieses Gehen oder Laufen, Stehen, Eilen und Promenieren der Menschen hier und die mehr als lebhafte Mischung von schmuckem Pferdefuhrwerk und brummenden Automobilen auf ihn lebensbestärkend wirkte. Nun es war auch ein durchaus dazu geeignetes Bild. Die flutende Sonne überreichlich jedwede Einzelheit mit Gold grundierend, die blaue Fahne des Himmels hochfliegend über dem ‚Graben‘, und bei der Buchhandlung an der Ecke, der Turm von St. Stephan wie mit einem Riesenschritte ins Bild tretend.“
Und eben auch wieder nicht; ich sprach es bereits an, dass dieser Roman sich in keine Gattung stecken lässt. Er ist aber dennoch auch ein veritabler Liebesroman: „Eine Neigung, die man schlechthin Liebe nennt – Primzahl des Lebens.“
Er spart dabei auch die Erotik nicht aus, bleibt aber distanziert. So stellt sich Mary vor, dass sie, wäre sie einen anderen Weg gegangen als ihren Oskar zu heiraten, hätte sie sich nämlich mit Melzer eingelassen, dann: „Später hätte sie ihn betrogen, auch das wusste sie heute. Wegen seiner Gleichmäßigkeit.“
Eros darf – wie bereits geschrieben – auch auftreten:
„Und fraßen sich – so fühlt‘ es Melzer – immerfort küssend durch den aus einem ganzen Sommer aufgehäuften süßen Brei bis zum Tor des Schlaraffenlandes der Liebe.“
„Er saß klein auf dem Teppich und blieb klein und fühlte, was es zu besitzen das nicht geheure Glück besaß, in langen Wanderzügen über eine jetzt offene Grenze hereingewogen, ganze Volks-Stämme der Aphrodite: das Volk der Hände, zartgegliedert und saitenkundig, …das Volk der Brüste, so viele ihrer waren aus den vielen Liebesnächten mit Grete in den unterschiedlichen Jahren, zahllose, immer anders, in diesem Schatten, in jenem Lichte, in dieser Rundung, in jener springenden Kraft, wenn das Hemd fiel.“
Und eine seiner Hauptfiguren René, obwohl auch dieser irgendwann uns irgendwie aus den Seiten des Romans zu entgleiten scheint, charakterisiert er:
„Er hatte, nach dem Überschreiten der Schwelle zwischen dem Knaben- und dem Jünglingsalter, schon so etwas wie eine mechanistische Sicherheit im Umgange mit weiblichen Wesen erlangt, mit welchen er übrigens im springenden Punkte nahezu vertraut war.“
Den Wegen, die wir im Laufe unseres Lebens betreten oder eben nicht, den Kreuzungen, wo wir uns entscheiden, welche Richtung wir einschlagen, widmet der Autor sehr viel Aufmerksamkeit:
„… der geschwinde seine Kreuzungen im Innern befuhr (… trópoi, wie’s die alten Griechen nannten, die Wende-Stellen, und das eben war für sie gleichbedeutend mit unserem Worte ‚Charakter‘) …
„… er lässt dasjenige, worauf es ankommt, …, aufleuchten an den Weichen oder Wechseln die jener Schnellzug befährt, in sein angemessenes Gleis gleitend (das sind eben die Wendepunkte oder Trópoi, wie’s die Alten nannten). An den Wechseln leuchten die Lichtlein. Man sieht das gradaus weiterlaufende Gleis als eine Möglichkeit, die damals bestanden hat, oder ebenso die Weiche, die für uns nicht auf ‚Offen‘ gestellt war, und so fuhren wir geräuschvoll vorbei und weiter. Man sieht’s. Aber jetzt erst.“
Man sieht es erst später. Manchmal zu spät? Doderer belehrt seine Lesenden, sich einzulassen: „Er muss sich darauf einlassen. Leben besteht darin, dass man sich einlässt: sich selbst hineinlässt.“
Unser Autor hat einen Blick auch für sehr alltägliche Dinge und Ereignisse. So charakterisiert er die Sitzordnung im Café: „In Wien geht man ins Café, um sich zurückzuziehen, und jeder setzt sich, inselbildend, soweit wie möglich von jedem anderen.“
Ihn zeichnet eine gute Portion Humor aus, auch Selbstironie: „In einem besseren Roman wären jetzt die Gedanken des einsamen Reisenden während seiner Fahrt nach Wien zu erzählen und notfalls aus der betreffenden Figur herauszubeuteln und hervorzuhaspeln. Bei Melzer ist das wirklich unmöglich; von Gedanken keine Spur; weder jetzt noch später, nicht einmal als Major. Zum ersten Mal hat er sich unseres Wissens was gedacht bei einem schon sehr vorgeschrittenen und ernsten Anlasse seines Lebens, den wir noch kennen lernen werden: und dabei hat er’s gründlich besorgt; er hat sein Pulver nicht vorzeitig verschossen in kleinen Beweglichkeiten und Geistreicheleien.“ Er charakterisiert damit den Melzer, lenkt den Lesenden aber auch schon wieder auf ein späteres Ereignis hin, wo Melzer sehr wohl nachdenkt und handelt! Er macht sich lustig über seine Figur, die einen gewissen Anstand an den Tag legt, im Gegensatz zu anderen in dieser Geschichte: „… indem er sich an den Satz hielt, dass, wo ein Körper im Raume sei, nicht gleichzeitig ein anderer sein könne, was in der Physik stimmen mag: in den Fahrplänen des erotischen Kleinbahnverkehrs mit Kurzstreckentarif steht’s ganz anders verzeichnet.“
Dieser Roman ist von hoher Genauigkeit. Da wird präzise erklärt, was man tut, nichts wird dem Zufall überlassen:
„Mit Mimi auf den Gang getreten, zog er sorgfältig die Türe zu, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass er seine Schlüssel in der Tasche trug.“
„Der Chauffeur warf seinen leinenen Arbeitskittel als Schutz gegen Blutflecke über die Polsterung.“
Dem scharfsichtigen Beobachter entgeht nichts:
„Die Mahlzeiten, je mehr hier jeder zu verbergen hatte, wurden um so heiterer, als man sich ständig gedrängt fühlte, die Oberfläche durch immer neue Wellchen des Gelächters zu zerflirren, damit nicht der ruhige Spiegel verräterisch den Grund herauftreten lasse…“
„Es gibt Menschen, welche den ganzen Tag die Zeitungen in der Hand haben, die man aber höchlich überrascht, wenn man ihnen etwas von dem sagt, was darinsteht: sie haben davon nichts gesehen, nichts gelesen.“
Wenn am Ende sich doch sehr vieles zum Guten wendet, macht der Autor sich darüber auch lustig:
„Es erscheint meines Erachtens unter den angegebenen Umständen … mindestens erstaunlich, dass so viele bessere Romane, wenn sie gut ausgehen, mit dem Einander-Kriegen der betr. Parteien schließen. Man scheint das also für einen Schluss zu halten und nicht für einen Anfang (des Romans nämlich, was diesfällig in die Sprache der Paula Pichler übersetzt ‚des Ölends‘ heißen müsste).“
Denn: „Wesentlich bleibt doch, dass die Ehe nie eine Lösung bilden kann, sondern immer nur die Aufstellung eines Problems, unter dessen neues Zeichen das betreffende Paar jetzt tritt …“
An einer Stelle schildert der Autor die Düfte des Waldes und schwärmt von einer ambrosischen Nacht. Die Fülle des Personals mögen diese Nächte gar nie erlebt haben, dennoch ist dieser Roman eben eine ambrosische Lektüre.
Dieser Roman ist auch ein gutes Stück ein Panoptikum verzweifelter Gestalten, irgendwie. In vielen seiner Figuren steckt auch eine Grundangst: „Und so musste er denn jene Augenblicke leiden, die niemand erspart bleiben, der eigentlich gelebt hat: die tiefe Angst nämlich, nicht eigentlich gelebt zu haben.“
Dieser Roman ist ein großes Stück Literatur, sprachgewaltig, köstlich und ungemein unterhaltsam.
Als ich vor einiger Zeit an der Strudelhofstiege stand, wusste ich nicht, was für ein großes Leseabenteuer mir bevorstehen würde.
Lesen Sie diesen Roman!
Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.