Der Kampf um die Moderne

Was für eine große Idee, den Kampf um die Durchsetzung moderner Kunst in Berlin, in Deutschland, in einem Roman darzustellen! Auf der einen Seite Hugo von Tschudi, der aus der Schweiz stammende Kunstliebhaber und Direktor der Nationalgalerie in Berlin, und auf der anderen Seite Wilhelm II.

Der hatte mit seiner Rinnsteinrede für einen Skandal gesorgt. Die Kunst dürfe nicht in den Rinnstein niedersteigen. Und die Deutschnationalen hatten ihm vehement zugestimmt. In die Nationalgalerie gehörten nicht Gemälde ausländischer Maler, schon gar nicht Franzosen.

Was für ein Romanstoff also.

Nun liegt die Lektüre des Romans „Tschudi“ von „Mariam Kühsel-Hussaini“ hinter mir und ich bin ein wenig enttäuscht. Da wäre so viel mehr drin gewesen.

Einige Schwächen des Romans kann ich nicht verschweigen. Allem voran ist der Roman nicht wirklich ein Roman. Vielmehr ist es das Manuskript zu einem Hörspiel oder besser noch einem Hörbild. Kurze Szenen, manchmal ohne direkten Zusammenhang, fließen am Lesenden vorbei. Die Figuren werden teilweise sehr schematisch dargestellt. Harry Graf Kessler ist eine unsympathische Figur, basta. Max Liebermann ein freundlicher, liebenswerter Charakter. Anton von Werner ein Intrigant.

Tschudi, ein Messias, der leider an der unheilbaren Wolfskrankheit leidet, und Wilhelm ein durch seine körperlichen Gebrechen psychisch kranker Mann.

Das ist zu einfach gestrickt, ein Roman darf ruhig vielschichtiger sein.

Letzte Schwäche dieses Romans oder vielmehr der Autorin ist ihre „Adjektivitis“. Hinzu kommt, dass sie manchmal mit deren Gebrauch sehr schräge Bilder produziert. „…mit der weiten breiten Stirn und den leiselauten Augen…“ oder „…gefüllt mit einem Vakuum aus Traurigkeit…“ oder „… die kahle zarte harte Stirn…“ oder „…die nass-tupfig wischende Hand…“ oder „…von schlafendem Geäst umtaut…“.

Auch gibt es Ungenauigkeiten anderer Art: Walther Rathenau fährt durch Berlin und seine Gedanken schweifen umher „…eine Art Blutgruppe…“ und „…die Raumzeit krümmen…“. Beide Begriffe konnte er Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht kennen und folglich verwenden. Die Blutgruppen wurden 1900 entdeckt, aber erst einige Jahre später publiziert; die Raumkrümmung 1908 und auch erst ein wenig später veröffentlicht.

Nun hat dieses Werk aber auch seine fesselnden Seiten. Vor allem, wenn die Autorin zarte erotische Momente schildert. Da vibriert der Text und das Können der Schriftstellerin tritt in den Vordergrund.

Das größte Verdienst dieses Romans besteht aber vor allem darin, dass ich Lust bekam, die wundervollen Bilder mir wieder anzusehen, die Tschudi in der Nationalgalerie versammelt hat. Manets Doppelporträt des Jules Guillemet und seiner Frau, gemalt „Im Wintergarten“ des Malers Johann Georges Otto Rosen. Ein Ausschnitt des Gemäldes prangt neben dem giftgrünen Titel auf dem Buchumschlag. Monets „Ansicht von Vétheuil“ oder Leistikows „Grunewaldsee“. Um dieses Gemälde baut die Autorin eines ihrer vielen schönen Hörbilder.

Trotz aller einschränkenden Kritik las ich dieses Buch gern, es verschafft den Lesenden einen Eindruck von einer wahrlich sehr aufregenden Zeit. Es vermittelt die Gewissheit, dass sich Neues zwar verzögern, aber niemals aufhalten lässt. Das ist keine gering zu schätzende Botschaft in unserer Zeit.

Ein Buch über Nähe und Liebe

Die Witwe Addie läutet eines Tages beim Witwer Louis, ihrem Nachbarn, und fragt, ob er bei ihr fürderhin die Nächte verbringen möchte.

So beginnt eine wundervolle Geschichte über zwei Menschen, die mutig genug sind, sich auf ein Abenteuer einzulassen, die wissen, dass sie für einige Zeit zum Gesprächsthema in der kleinen Stadt in Colorado werden. Sie schlafen anfangs nicht miteinander, sondern nebeneinander. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten. Sie kommen sich dabei immer näher, gehen auf der Hauptstraße des Ortes untergehakt spazieren, kehren in ein Restaurant ein und die Leute gewöhnen sich an das Paar.

Der Klatsch bleibt den Kindern der beiden, Addie hat einen Sohn, Gene, ihre Tochter kam als junges Mädchen ums Leben, Louis hat eine Tochter.

Die Ehe von Gene kriselt gewaltig und er bringt seinen Sohn Jamie für den Sommer zu seiner Addie. Jamie ist sehr verängstigt, er befürchtet, dass sich seine Eltern trennen werden. Es gelingt Addie und Louis den kleinen Jungen zu stabilisieren. Er bekommt einen Hund und er blüht in der Umgebung der beiden alten Leute auf.

Die Beziehung zwischen seiner Mutter und Louis ist Gene überhaupt nicht recht und er stellt seiner Mutter ein Ultimatum.

Mehr verrate ich nicht.

Nur so viel: dieser Roman – „Unsere Seelen bei Nacht“ – ist von dem großartigen US-amerikanischen Schriftsteller Kent Haruf verfasst worden, leider sein letztes Werk vor seinem Tode.

Seine Romane bleiben.

Dies ist eine unbedingte Leseempfehlung!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Willkommen in West-Berlin

Sven Regener hat vor einiger Zeit, ja der Roman liegt schon einige Zeit bei mir herum, „Wiener Straße“ geschrieben.

Der Roman spielt im guten alten Westberliner Bezirk Kreuzberg im Jahre 1980. Smog aus den Ofenheizungen aus dem Bezirk und natürlich aus dem Osten Berlins wabert durch die Szenerie.

Es geht um Kunst. Um besetzte Häuser, um Familienbeziehungen, um die kleine Welt rund um die Kneipe „Café Einfall“ in der Wiener Straße. Um besetzte Häuser und hier und da auch um Liebe.

Da sind sie wieder, die Gestalten des Regner Universums. Auch Herr Lehmann ist schon, aus Bremen kommend, dabei.

Eine Ausstellung wird von den Künstlern vorbereitet, die den Titel „Haut der Stadt“ tragen wird. Erwin oder eigentlich eher Herr Lehmann wird bei der Vernissage Wein der Marke Chateau Strunziger in Plastikbechern ausschenken. Ein Kontaktbereichsbeamter hat seinen Auftritt und am nächsten Tag werden alle wieder im Einfall sitzen und das Leben geht weiter.

Und getreu der Kreuzberger Philosophie „hätte (es) ein schöner Morgen werden können, aber es geht alles immer nur so und so lange gut, dachte Frank, dann wird es doof.“

Die Freunde dieses Romans freuen sich auf weitere Werke, die ja auch schon vorliegen und gelesen werden wollen.

Diesen Roman kann man getrost lesen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Buch über das Altern und das Sterben

Olive Kitteridge steht im Mittelpunkt des Romans „Die langen Abende“ von Elizabeth Strout. Im Original heißt das Buch „Olive, again“, weil es einen Vorläuferroman gibt, mit dem Titel „Mit Blick aufs Meer“, der es offenbar vielen Menschen angetan hatte. Ich gebe zu, dieses Buch nicht gelesen zu haben.

Ich will es nicht verhehlen: mir hat der Roman nicht sonderlich gefallen, allerdings fand ich ihn auch nicht misslungen. Jedoch habe ich Zweifel, ob der Begriff Roman zielführend ist. Für mich las sich vieles in diesem Buch wie eine Geschichtensammlung. Das Buch wird durch die Figur der Olive zusammengehalten, manche Kapitel wiederholen mehrfach, wer Henry und wer Jack waren – es waren ihre beiden Ehemänner. Manche Kapitel erzählen Geschichten von anderen Menschen, meist in ähnlichem Alter wie Olive, aber die Personen tauchen später nicht mehr auf. Was aus ihnen geworden ist, bleibt ein Rätsel.

So mäandert der Text durch mehr als ein Jahrzehnt. Olive, zu Beginn der Erzählung schon eine alte Frau, die Jack bald heiraten wird, ist am Ende zum zweiten Male schon einige Zeit Witwe und lebt in einem Altenheim in ihrem eigenen Appartement.

Was den Lesenden die ganze Zeit begleitet, ist der Gedanke an die Endlichkeit der menschlichen Existenz, das Ausklammern der Gedanken an den eigenen Tod. Doch die Wahrnehmung, dass ein Ende näherkommt, bricht dann über uns, hier Olive, ein.

„Und obwohl ihr schon zwei Ehemänner gestorben waren, wurde ihr jetzt erst vollends klar, dass dies auch ihr, Olive, bevorstand. Auch sie würde sterben. Es verblüffte sie, es schien ihr unfasslich. Irgendwie hatte sie es vorher nie richtig geglaubt.“

Die Erzählungen machen deutlich, dass Altern nichts für „Warmduscher“ ist; mit den Schwächen jedweder Art, muss man erst einmal umzugehen lernen.

Die Übersetzung von Sabine Roth gefiel mir nicht immer, man muss nicht einen Satz wie den folgenden „konstruieren“: „…aber auf dieser Bank bei der Tür war sie noch nie gesessen; …“.

Vielleicht liegt meine Mäkelei auch daran, dass ich erst unlängst ein wunderbares Buch über das Altern und das Sterben gelesen habe – „Unsere Seelen bei Nacht“ von Kent Haruf.

Ein schmaler Band aus dem Universum Balzacs

Was ist nicht alles schon über die Anfänge von Romanen geschrieben worden? Der folgende Beginn hat es in sich: „Eines der grauenerregendsten Schauspiele von der Welt ist zweifellos der Anblick der Pariser Bevölkerung in ihrer Gesamtheit: dies Volk ist furchtbar anzuschauen, abgezehrt, gelb, zermürbt. Paris ist eine weite Flur, über die unaufhörlich ein Sturm von Süchten fegt; darunter wogen wie ein Saatfeld die Menschen, die der Tod hier rascher als anderswo mit seiner Sense fasst und die doch immer wieder in gleicher Dichte sprießen; ihre verzerrten, zerquälten Gesichter strömen durch alle Poren den Geist, die Wünsche, die Gifte aus, von denen ihre Hirne bis zum Platzen angefüllt sind; nein, Gesichter sind es nicht, sondern es sind nur Masken, Masken der Schwäche, Masken der Kraft, Masken des Elends, Masken der Freude, Masken der Heuchelei; alle aber tragen den Ausdruck der Erschöpfung und sind mit dem Stigma lechzender Gier unauslöschlich gezeichnet. Was wollen sie alle? Gold oder Genuss?“

So zieht sich die „Einleitung“ noch einige Seiten hin und hielte man nicht den schmalen Band in den Händen, wähnte man sich am Beginn eines umfangreichen Romans, eines Sittengemäldes von Paris.

Wenn die eigentliche Erzählung beginnt, liegt schon fast ein Viertel des Romans hinter uns. Was folgt ist die Geschichte einer rasenden Liebe, eines Rausches und am Ende bleibt die Schöne tot zurück.

Honoré de Balzac vermag in seinen Romanen so fesselnd zu erzählen, dass man auch diesen schmalen Band nicht eher aus der Hand legen will, als bis der Vorhang sich gesenkt hat. Sicherlich ist „Das Mädchen mit den Goldaugen“ nicht der beste Roman des Dichters der Menschlichen Komödie, aber lesenswert ist er allemal.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Das kurze, allzu kurze Leben eines Genies

In einer anderen Zeit, als der, in der wir jetzt alle zu leben gezwungen sind, wäre ich jetzt wieder einmal in Wien. Angereist mit dem Rad an der Donau entlang, weil der Weg zwischen Passau und der österreichischen Hauptstadt noch ein Teil des Donauradwegs ist, den ich mir noch nicht erschlossen habe. Aber das ist eine andere Geschichte.

In Wien wäre ich in der Albertina und würde mir die wundervolle Sammlung der Bilder Egon Schieles ansehen. Egon Schiele, dieses Genie, der in den wenigen Jahren, die ihm zur Verfügung standen, so unvorstellbar herausragende Gemälde geschaffen hat. Der ein Opfer der Spanischen Grippe 1918 wurde, jener Pandemie, die mehr Tote zurückließ als der gerade zu Ende gegangene 1. Weltkrieg.

In der Reihe Wienands Künstlerbiographien liegt ein schmaler Band über das Leben und das Werk des Malers Egon Schiele vor. Geschrieben hat es Martina Padberg.

Wenn ich wieder in Wien sein werde, lenke ich nun noch schneller meinen Weg in die Albertina.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Kunst des L(i)ebens

In der Zeit der Corona Pandemie kommen gerade jetzt verstärkt Stimmen zu Gehör, die Lockerungen fordern, weil sie die Abriegelung der Menschen, deren verordnete Quarantäne als Qual, als Willkür brandmarken.

Nicht nur denen, aber eben auch ihnen sei die Lektüre des „Klassikers“ von Erich Fromm empfohlen, „Die Kunst des Liebens“.

„Sich zu konzentrieren ist in unserer Kultur noch weit schwieriger, wo alles der Konzentrationsfähigkeit entgegenzuwirken scheint. Der wichtigste Schritt dazu ist zu lernen, mit sich selbst allein zu sein, ohne zu lesen, Radio zu hören, zu rauchen oder zu trinken. Tatsächlich bedeutet sich konzentrieren zu können dasselbe, wie mit sich allein sein zu können – und eben diese Fähigkeit ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben.“

Fromm gibt dem Kapitalismus die Schuld daran, dass Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich auf den anderen einzulassen, ihm zuzuhören. Wir sind nicht in der Lage, uns auf unser Gegenüber zu konzentrieren.

„Liebe ist zwangsweise eine Randerscheinung in der heutigen westlichen Gesellschaft, und das nicht so sehr, weil viele Tätigkeiten eine liebevolle Einstellung ausschließen, sondern weil in unserer hauptsächlich auf Produktion eingestellten, nach Gebrauchsgütern gierenden Gesellschaft nur der Nonkonformist sich erfolgreich gegen diesen Geist zur Wehr setzen kann. Wem also die Liebe als einzige vernünftige Lösung des Problems der menschlichen Existenz am Herzen liegt, der muss zu dem Schluss kommen, dass in unserer Gesellschaftsstruktur wichtige und radikale Veränderungen vorgenommen werden müssen, wenn die Liebe zu einem gesellschaftlichen Phänomen werden und nicht eine höchst individuelle Randerscheinung bleiben soll.“

Gerade in Zeiten, wo Entscheidungen darüber anstehen, wie und welche Bereiche der Wirtschaft finanziell unterstützt werden sollen, ist die Lektüre dieser Abhandlung sehr angeraten.

Und als Schlussbemerkung ein Gedanke von Paracelsus, den Fromm seinem Aufsatz als Motto vorangestellt hat: „Wer nichts weiß, liebt nichts. Wer nichts tun kann, versteht nichts. Wer nichts versteht, ist nichts wert. Aber wer versteht, der liebt, bemerkt und sieht auch …. Je mehr Erkenntnis einem Ding innewohnt, desto größer ist die Liebe …. Wer meint, alle Früchte würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif, versteht nichts von den Trauben.“

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Indien

Ich sage es gleich: ich habe etwas gegen Literatur, in der die Erzählstimme von einem Kind übernommen wird, das altklug daher plaudert, zugleich aber eine naive Anmutung verströmt.

Beispiel gefällig? „Wo steckt er bloß all die Worte hin, die sein Kopf produziert?“

Die Frage ist berechtigt, sogar tiefschürfend, allerdings brauche ich nicht das Pseudokindergeplapper. Als Lesender bin ich verstimmt und diese Verstimmung nimmt mich gegen den Roman „Das Museum der Welt“ von Christopher Kloebele ein.

Die Idee, sich mit den bayerischen Entdeckern Schlangintweit auseinanderzusetzen, ist sehr gut. Deren Leistung ist in einem gewissen Maße mit derjenigen des Preußen Humboldt zu vergleichen. Sie haben den indischen Subkontinent erforscht, sind in Gebiete vorgedrungen, die vor ihnen noch kein Europäer gesehen hatte. Sie haben das bereiste Land kartografiert, es vermessen, viele Daten gesammelt. Ochsenfrösche, ganze Bäume – die Münchner Brüder Schlagintweit brachten eine Menge mit von ihrer Indien-Expedition (1854 – 1858).

Und natürlich ist es spannend, deren Reiserouten zu folgen. Deren Verstrickungen im Weltgeschehen zu verstehen. Die Kolonialmacht England, die streng darauf bedacht war, an ihrer Vormachtstellung nicht rühren zu lassen. Der Wunsch Deutschlands, auch ein Stück von Kolonialkuchen abzubekommen.

Um diese Geschichte zu erzählen, erfindet Kloebele einen sprachbegabten Waisenjungen, eben jenen altklugen Dampfplauderer, der den Brüdern als Dolmetscher helfen soll. Nur von den Verstrickungen der drei Brüder in die Weltpolitik erfahren die Lesenden weniger als von der Suche des Jungen nach seiner Herkunft.

Nein, ich schreibe so etwas ungern, dieser Roman ist nicht gelungen, er ist kein großer Wurf. Das ist schade, denn der historische Stoff hätte mehr hergegeben. Adolph der mittlere der drei Brüder wird geköpft, er kommt nicht zurück nach Berlin. Seine Geschichte liest sich so, als habe er sich geradezu für das Waisenkind geopfert.

Ach, wie schade!

Und ein Hinweis an den Verlag: wenn man sich entschließt, dem Buch eine Karte beizugeben, aus der man die Reiserouten der Brüder innerhalb Indiens ablesen kann, dann sollte eine solche Karte auch ohne Vergrößerungsglas lesbar sein.

Ach, wie schade!

Sizilien

Mit den wundervollen Kriminalromanen des seligen Andrea Camilleri reise ich in Gedanken bei jeder Lektüre nach Sizilien. Nunmehr schon im dreizehnten Fall des unvergleichlichen Commissario Montalbano. Das „Ritual der Rache“ heißt dieser klug aufgebaute und spannende Roman.

Am Ende des Romans lässt der Autor seinen Commissario sinnieren, dass er kein Gott sei, der alles einzurichten vermag, „sondern nur ein elender Puppenspieler in einem armseligen Puppenspiel. Ein Puppenspieler, der sich abmühte, dass die Vorstellung nach bestem Wissen und Können funktionierte. Und bei jeder Vorstellung, die er zu ihrem Ende brachte, wurde die Anstrengung größer, mit jedem Mal schwerer. Wie lange würde er das noch durchhalten?“

In seinem Kommissariat ist nämlich der Betriebsfrieden arg gestört und Montalbano muss sich einiges überlegen, seinen Freund und Stellvertreter wieder auf Kurs zu bringen, einen Mord aus dem Hintergrund aufzuklären und seine nicht immer ganz reibungslose Fernbeziehung am Leben zu halten.

Viel zu tun also, für einen nicht mehr ganz jungen Kriminalisten.

Aber es gibt zum Ausgleich wundervolle Gerichte, entweder in einer Trattoria seines Vertrauens oder von seiner Haushälterin zubereitet.

Und demnächst begebe ich mich wieder nach Sizilien und genieße den vierzehnten Fall!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Das Geld

Erste Anmerkung: Zurzeit ist Wirecard in aller Munde. Die Aktie dieses Finanzdienstleisters erreichte ziemliche Höhen. Nun stellt sich heraus, dass es große Lücken im Kapital der Firma gibt. Die Insolvenz ist unausweichlich, die Vorstände werden verhaftet. Anleger erleiden erhebliche Verluste.

Zweite Anmerkung: Riskieren wir einen kurzen Blick auf die Entwicklung des Geldes, wie wir es heute kennen. 8000 vor Christi Geburt entwickelt sich der Tauschhandel. 3000 v. Chr. finden die Sumerer Erleichterung beim Handeln durch die Einführung von Silberschekeln. Kaurischneckengehäuse und Goldmünzen folgen. Später Papiergeld. Im Jahre 1409 n. Chr. entsteht in Brügge die erste Börse. 1637 entwickelt sich die sogenannte Tulpenmanie zur ersten modernen Finanzkrise. (Alle Daten entnahm ich der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 27./28. Juni 2020)

Die dritte Vorbemerkung führt mich an das zu besprechende Buch heran: Der Roman spiegelt die antisemitischen Strömungen in Frankreich um das Jahr 1865 wider. Teilweise schwer erträglich und es ist schrecklich zu sagen, 150 Jahre später klingt manches noch genauso. Der Antisemitismus zeigt nach wie vor seine hässliche Fratze.

Der Romantitel ist schlicht: „Das Geld“. Der Autor ist kein Geringerer als Emile Zola. Der Roman ist eine Einführung in die Volkswirtschaft. Er ist eine Auseinandersetzung zwischen den kommunistischen Idealen und dem Kapitalismus. Er ist eine fesselnde Beschreibung der Gier der Menschen, immer mehr zu bekommen, Grenzen nicht zu akzeptieren.

Er ist auch ein Liebesroman, es gibt mehrere Paare, deren Schicksale die Lesenden verfolgen. Der Roman, ich kann es nicht verhehlen, hat einige Längen, aber er bleibt eine spannende und unterhaltsame und wenn man an Wirecard und die Bankenpleiten vor wenigen Jahren denkt aktuelle Lektüre.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Mord in Clärchens Ballhaus

Der Ballhaus Mörder“ ist der siebte Roman von Susanne Goga, in dem sie ihren Oberkommissar Leo Wechsler ermitteln lässt.

Der Fall ist kompliziert und wird garniert durch Unstimmigkeiten, die sich zwischen Leo und seinem Freund und Mitarbeiter Walther entwickeln.

Ein wenig spielt auch die Zeitgeschichte, wir befinden uns im Jahre 1928, in dem Roman eine Rolle.

Der Plot ist stimmig und wird routiniert erzählt.

Durchaus ein Kriminalroman zum entspannen und genießen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Bericht vom jungen, femininen und schwarzen Amerika

Das Buch ist eine Autobiographie, kein Roman und dennoch liest sich dieser Bericht über die Kindheits- und Jugendjahre von Maya Angelou doch wie ein großer Roman.

Kurz zusammengefasst kann ich notieren, dass die Autorin und ihr ein Jahr älterer Bruder lange Zeit bei der Mutter des Vaters der Kinder aufwachsen. In dem Krämerladen der Großmutter mitten in einer Baumwollregion des US-Bundesstaates Arkansas Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.

„In Stamps war die Rassentrennung so total, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht wirklich wussten, wie Weiße aussahen. Sie wussten nur, dass man sie fürchten musste, und diese Furcht schloss die Feindschaft der Machtlosen gegen die Mächtigen, der Armen gegen die Reichen, der Arbeiter gegen die Besitzenden und der Zerlumpten gegen die Wohlgekleideten mit ein.“

Die Großmutter will ihre Enkel „auf den Lebensweg führen, den sie und ihre Generation, ja alle Schwarzen vor uns, als sicher erfahren hatten. Der Gedanke, dass man überhaupt mit Weißen sprechen könnte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, war ihr fremd. Und offen durfte man ganz sicher nicht mit ihnen reden.“

Diese Zeilen lesend, frage ich mich, ob dieser Text wohl tatsächlich vor nunmehr 50 Jahren geschrieben worden sein kann. Die Bilder von dem ermordeten Farbigen, von den Protesten und dem sich mit Bibel präsentierenden Präsidentendarsteller sind noch so frisch.

Maya wird, zehn Jahre alt, Opfer einer Vergewaltigung durch den Freund ihrer Mutter. Die Lektüre dieses Teils ihrer Geschichte ist bewegend, erschütternd und geht dem Lesenden an die Nieren, sie macht auch deutlich, warum vergewaltigte Kinder so häufig schweigen.

Ebenso bezeugen die farbenfrohen Schilderungen der Gottesdienste das große Potential dieser Schriftstellerin.

Als der Bruder eines Abends viel später als erlaubt nach Hause kommt, schildert Angelou die Sorge ihrer Großmutter wie folgt: „Ihre hastigen Bewegungen in der Küche und der angstvolle Ausdruck in ihren einsamen Augen zeigten deutlich ihre Furcht. Schwarze Frauen im Süden, die für die Erziehung von Söhnen, Enkeln oder Neffen verantwortlich sind, tragen ihr Herz in der Schlinge. Jedes Abweichen von den Regeln kann der Bote einer schrecklichen Nachricht sein. Das ist der Grund, warum die schwarzen Südstaatler bis zur heutigen Generation zu Amerikas Erzkonservativen gehören.“

Es gäbe noch so viel zu beschreiben und zu zitieren, aber nur noch so viel sei erwähnt. Die Geschwister ziehen zu ihrer Mutter, die in Kalifornien lebt. Maya wird noch viele Erlebnisse in den nächsten Jahren ihrer Jugend haben. Sie wird mit siebzehn einen Sohn zur Welt bringen, dem dieses großartige Buch auch gewidmet ist.

Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ ist der Titel dieses herausragenden Werkes. Man muss es gelesen haben!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Eine persönliche Entdeckung

Als vor wenigen Jahren im Guggolz Verlag der Roman „Frommes Elend“ des Finnen Frans Eemil Sillanpää erschien, erwarb ich das Buch, nachdem ich einige Buchbesprechungen gelesen hatte. Es lag auf meinem Stapel und rutsche bis jetzt immer wieder nach unten, weil andere Bücher mir wichtiger erschienen.

Welch ein Fehler!

Zunächst aber nicht warum, sondern worum geht es in diesem Roman?

Sillanpää breitet das Leben des „Toivola-Jussi, oder Juha, oder Janne – den Kirchenbüchern nach lautete sein Name Johan Abraham Benjamissohn“ vor uns Lesenden aus. Und er beginnt damit, uns dessen Ende zu schildern: Der sechzig Jährige Jussi wird als Aufständischer im finnischen Bürgerkrieg 1918 erschossen.

Danach erzählt der Roman die Entwicklung dieses Mannes bis zu diesem Ende. Ein armer Kerl gezeugt von einem Hofbesitzer, der Haus und Hof im Alkohol verliert. Jussis Mutter stirbt bald nach dem Tod ihres Mannes und das Kind lebt zunächst bei Verwandten, wird dann Holzfäller, später Knecht, heiratet selbst, bekommt mit seiner Frau einige Kinder, verdingt sich als Katenbewohner bei dem Gutsherrn, auf dessen Land die Kate steht. Verliert seine Frau, einige seiner Kinder und wird schließlich „Aufständischer“ mit beschriebenem Ausgang der Geschichte.

Eine trostlose, ganz düstere Geschichte, zu dessen Lektüre die Musik von Sibelius gut passt.

Was diesen Roman zu einem großen Leseereignis macht, ist die Sprache des Autors; geradezu ein bestimmter „Sound“, der den Lesenden gefangen nimmt. Hoch poetisch, und gleichsam klar.

Das will ich mit wenigen Zitaten belegen.

Jussi ist gerade auf der Welt und der Autor beschreibt das so: „Da liegt nun, der kleine Körper, mit all seinen Bestandteilen, auch er strebt unbewusst vorwärts auf dem Meer der Zeiten, in seine weit entfernte Männlichkeit, in das noch weiter entfernte Alter und in den unbekannten Tod, nach dem alles wieder beim Alten ist: Das Ufer des Zeitenmeeres ist auch nicht in Sicht.“

Das Kind wächst heran und an verschiedenen Stellen finden sich Aussagen über das Kindsein und die Erziehung: „Das Leben von Kindern ist wild und voller Erlebnisse; an jedem Abend ging auch eine ganze ereignisreiche Lebensphase zu Ende, und dieser Ereignisreichtum erzeugt dann später ein Gefühl, als ob dieser Lebensabschnitt irgendwie länger gewesen wäre als die späteren, zeitlich genauso langen Abschnitte.…

Die Erwachsenen waren eines der geheimnisvollen Rätsel der Natur, und immer auch ein wenig zum Fürchten, weil sie Kinder ab und zu ‚erzogen‘.…

Die sogenannte Erziehung war die einzige Begebenheit, bei der ein Erwachsener einem Kind für kurze Zeit seine volle Aufmerksamkeit schenkte, und der einzige Umstand, bei dem das Kind dem Erwachsenen sogar einen kleinen Genuss bereiten konnte.“

Die Hungersnot von 1866 bis 1868 beschreibt Sillanpää wie folgt: „Wie die helle Sonne nach einer einzelnen Frostnacht aufgeht, ging der Frühling des Jahres 1868 früh und wunderschön über dem Tod auf, der gewütet hatte und immer noch wütete. Beziehungsweise wütete er damals gar nicht, seine Stimme war nicht zu hören. Ab und zu ließ er aus kleinen Gruppen einen abgemagerten Mann in einer Schneewehenfalte neben einem Zaun liegen oder linderte die Strapazen einer Frau, die von ihrem Mann verlassen worden war, indem er in der Waldhütte das Leben ihres letzten zarten Kindes auslöschte.“

Und egal, ob er einfach nur einen friedlichen Sonntag in einem finnischen Dorf beschreibt, über Glück, Geld oder Heirat schreibt oder schlicht über das Leben an sich philosophiert, immer ist es literarisch ausgefeilt und durchkomponiert.

„An einem herbstlichen Sonntagabend wohnt der Atmosphäre des wohlhabenden Dorfes der Geist zufriedenen Ausruhens inne.

Reich werden ist doch die eigenartigste Art irdischen Glücks, doch Glück bedeutet immer auch eine Prüfung.

Das Geld, das er besaß, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; es wollte immer für irgendetwas ausgegeben werden.

Oft war man gezwungen, zu heiraten, um dann von den scharfen Zähnen der ‚Lebenswirklichkeit‘ zerfressen zu werden.

Aber allen Lastern ist es gemein, dass sie im entscheidenden Moment den Menschen dazu bringen, alle schon früher einmal erfahrenen Folgen vollkommen zu vergessen; genauso verhält es sich mit dem Laster des Freiheitsgenusses.

Unter solchen Umständen kommt es zu keinen großen, völligen Zusammenbrüchen, wie in besser entwickelten Verhältnissen. Es kommt nur zu leichten Schubsern, die den Gang des Lebens gewissermaßen von einer Stufe auf die nächste verschieben. Wenn der Schubser vorüber ist, erinnert man sich nicht einmal mehr daran, sondern macht auf der neuen Stufe weiter. Denn es ist ja das gleiche Leben in all seinen Ausformungen, und in dieser Hinsicht gibt es nichts Unbedingtes, außer, dass man es leben muss.“

Nach der Lektüre dieses Romans wunderte es mich nicht, dass Sillanpää, dessen Leben eher tragisch verlief, für diesen Roman 1939 den Nobelpreis für Literatur zuerkannt bekam.

Der mir vorliegenden Romanausgabe sind Erläuterungen, später gestrichene Kapitel des Romans und ein Nachwort von Thomas Brunnsteiner angefügt.

Ich kann diesen Roman nur wärmstens empfehlen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Das 14. Jahrhundert

Wie kann man die Geschichte eines Jahrhunderts darstellen? Sicherlich chronologisch, sicherlich geographisch konzentriert auf wenige besonders wichtige Landstriche. Barbara Tuchman hat in ihrer Geschichte des dramatischen 14. Jahrhunderts, „Der ferne Spiegel“, noch einen weiteren Kunstgriff angewandt: sie greift auf eine Schlüsselperson zurück, auf einen Adligen, der allerdings auch nur gut vierzig Jahre aktiver Teil der Historie sein konnte. Sie erklärt eingangs ihres Werkes, warum sie diesen Kunstgriff einsetzt und – ich gestehe – mir leuchtete der Griff nicht ein. Enguerrand de Coucy VII. ist eine Randfigur der Geschichte, der Mehrwert, ihn immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen, erscheint mir überflüssig. Und noch ein wenig Mäkelei: Zeitsprünge sind bei der Darstellung der Geschichte einer größeren Zeitspanne unvermeidbar, gleichwohl aber lästig. Frische Mispeln wird man bei einem Galadiner in Frankreich im Dezember eines Jahres sicherlich nicht auf der Tafel vorgefunden haben und leider haben manche Zeitgenossen den gleichen Nachnamen und sollten daher durch ihre Vornamen unterschieden werden (Villani!).

Doch nun zu diesem knapp 700 seitigem Band, den ich schon lange in meinem Regal aufgereiht hatte, den ich jetzt las, weil ich demnächst einen anderen Band, der die Geschichte Burgunds beschreibt, lesen möchte.

Tuchman ist eine Meisterin der Abschweifung, was dieses Buch so lesenswert macht. Es beschreibt die soziale Lage der Bevölkerung, die Prunksucht des Adels, das langsame Aussterben der Idee des Rittertums. Die verschiedenen Ausbrüche der Pest in diesem Jahrhundert und die Morgenröte neuer Ideen und Erfindungen.

Zu Beginn schildert uns die Autorin die Widersprüchlichkeiten dieser Epoche: „Man kann also getrost davon ausgehen, dass jede Feststellung über das Mittelalter mit einer gegenteiligen Behauptung einhergeht. Die Frauen waren in der Überzahl, weil die Männer im Krieg getötet wurden; die Männer waren in der Überzahl, weil die Frauen im Kindbett starben. Die einfachen Leute waren mit der Bibel vertraut, nein, sie waren es nicht. Die Adligen waren von der Besteuerung ausgenommen; sie zahlten Steuern wie jeder andere auch. Die französischen Bauern waren verdreckt und stanken und lebten von Brot und Zwiebeln; die französischen Bauern aßen Schweinefleisch, Wild und Geflügel und nahmen im dörflichen Badehaus gern regelmäßig ihr Bad. Diese Liste könnte ins Unendliche fortgesetzt werden.“

Sie leitet nach längeren Schilderungen von historischen Ereignissen immer gern einige daraus abgeleitete Weisheiten oder allgemeine Erkenntnisse ab, die für uns heute lebende Menschen durchaus von großer Relevanz sind. Hier nur einige wenige aneinandergereihte Beispiele:

„Das Normale macht keine Schlagzeilen.

Tuchmansches Gesetz: Allein die Tatsache der Berichterstattung vervielfältigt die äußerliche Bedeutung irgendeines bedauerlichen Ereignisses um das Fünf- bis Zehnfache (oder um irgendeine Zahl, die der Leser einsetzen mag).

Der ökonomische und der sinnliche Mensch sind ununterdrückbar.

Wenn die Kluft zwischen dem Ideal und der Realität zu groß wird, bricht das System zusammen.

Was der Mensch hasst, das fürchtet er.

In Individuen wie in Nationen schweigt die Zufriedenheit, und das verschiebt die Gewichte der historischen Überlieferung.“

Natürlich zieht Tuchman auch eine Bilanz, die auf dieses Jahrhundert speziell gemünzt ist: „Hemmungslosigkeit war charakteristisch für die Herrscher der Zeit, und es scheint, als seien in diesen Jahren bizarre Ausbrüche von Gewalttätigkeit häufiger geworden, vielleicht in der Folge des Schwarzen Todes und dem Gefühl der Unsicherheit des Lebens.“

Und: „Was den Rittern des 14. Jahrhunderts fehlte, war der Sinn für Neuerungen. Sie hielten an den überlieferten Traditionen fest und machten sich wenig Gedanken über eine neue Taktik.……Das Unwissen über den Feind war eine Eigenheit jener Zeit; die Verachtung dieses Feindes eine Eigenheit ihrer Mentalität.“

Was bleibt für uns Lesende? Ganz viel Information!

Ich kannte beispielsweise Nicolas Oresme nicht, der eine Veröffentlichung mit dem Satz beginnt: „Die Erde ist rund wie ein Ball“.

Oder die Geschichte der Violante Visconti, ein Stoff für einen Roman. Sie heiratet Lionel von England, jung verwitwet ehelicht sie den Marquis von Montferrat, erneut Witwe heiratet sie einen Vetter, der von Violantes Bruder ermordet wird. Erst 31jährig stirbt sie.

Schließlich: Die Kosten der Doppelhochzeit 1385 (Wilhelm von Bayern heiratet Margarete von Burgund und Johann von Burgund heiratet Margarete von Bayern) „beliefen sich auf 112000 Pfund, was einem Viertel der Einkünfte des flämisch-burgundischen Staates in dieser Zeit tiefen gesellschaftlichen Haders und Mangels gleichkam.“

Was mir bleibt ist aus dem Nachwort von Johannes Saltzwedel zu zitieren: „Den Gewinn an Wissen, mitunter sogar an Weisheit, haben ihre Lesenden – bis heute.“

Der Liebesroman

Mit der Lektüre des Romans „Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ von Carlo Fruttero und Franco Lucentini schlägt man mehrere Fliegen mit einer Klappe.

Die Lesenden tauchen in die wunderschöne Stadt Venedig ein; denn dieser Roman ist ein Reiseführer. Einen Stadtplan aus Papier oder einen der digitalen Art vor sich, folgt man den vielen schmalen Wegen in die einzelnen Bezirke der Lagunenstadt. Ein kurzer Besuch einer Glasbläserei auf Murano ist auch noch zu schaffen. Man kehrt in kleine Cafés ein, besucht natürlich Harry‘s Bar und begegnet vielen Kunstschätzen der Serenissima.

Die Lesenden erfahren, mehr nebenbei, einiges über Kunstschmuggel. Die weibliche Hauptperson, die Principessa, ist Kunstexpertin eines englischen Auktionshauses, immer auf der Suche nach den großen Gemälden früherer Meister.

Die Lesenden haben das große Vergnügen, einen fulminanten Liebesroman in den Händen zu halten.

„Der erste Blick, der erste Kuss, die erste Liebesnacht sind nichts im Vergleich zum ersten gemeinsamen Lachen.“

So beginnt eine Liebesgeschichte, die aus der Zeit fällt, die keine Zeit mehr kennt und doch nur wenige Tagen dauern wird, zwischen der verheirateten Kunstexpertin und dem Reiseleiter David Ashver Silvera, der seine Reisegruppe im Stich lassen wird, um die wenigen kostbaren Tage und Nächte mit der schönen Prinzessin zu verleben. Er gesteht ihr mit einem grashalmfeinen Lächeln: „Nicht hier zu sein, wäre das Unerträglichste von allem.“ Wenn dieser „mystery man“ verlegen ist oder aus anderen Gründen eine Frage nicht beantworten, eine Bemerkung nicht kommentieren will, sagt er durch eine Gebärde begleitet, einfach „Ah…“.

Und man muss selbst einmal in Venedig gewesen sein, um diese Sonnenuntergangsschilderung nachvollziehen zu können: „Ich hatte auch seine unbestimmte Gebärde nachgeahmt, die er macht, wenn er „ah…“ sagt, und er musste lachen und drückte mich fester an sich. Dann küssten wir uns – leidenschaftlich, wie man sagt – bis nach San Pietro in Volta. Als wir uns voneinander lösten, waren der Wind und das Motorengeräusch schwächer geworden, die Möwen verschwunden, die Sonne war zur Hälfte im Wasser versunken. Die ganze Lagune zu unserer Rechten hatte sich bis zu den fernen Sandbänken und bis zu den letzten Brackwasserflächen hin kupfergrün und golden, ockergelb, tiefrot verfärbt.“

Sie weiß so wenig über ihn, sie ahnt nur, dass ihn Geheimnisse umgeben. Sie weiß auch, dass diese Liebe nur von kurzer Dauer sein wird. Er sagt ihr, als sie auf das Thema „Zeit“ zu sprechen kommen: „Es ist eine Art Apostrophe, eine Schmähung der Zeit und ihrer Pyramiden, die nur dazu da sind, uns daran zu erinnern, dass wir nicht unsterblich sind, dass für uns alles wechselt und verschwindet.“

Das Geheimnis, das David umgibt, wird gelüftet, hier aber nicht verraten. Der Mann muss weiter, das ist sein Schicksal, sein auf ihm lastender Fluch.

Und wir Lesenden bleiben staunend zurück, mit einem grashalmfeinen Lächeln um den Mund und einem „ah…“ auf den Lippen.

Ich kann diesen Roman nur wärmstens empfehlen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Brücke

In der Regel stehen im Mittelpunkt von Romanen Menschen, seltener Tiere und noch seltener ein Bauwerk. Ivo Andrić stellt in seinem Buch „Die Brücke über die Drina“ eben diese in den Mittelpunkt der Handlung.

Lange Zeit konnte man in dem kleinen Ort Višegrad nur mit Hilfe einer Fähre von einem Ufer der Drina zum anderen Ufer gelangen. Das änderte sich, als im 16. Jahrhundert auf Geheiß des Großwesirs Mehmed Pascha Sokoli, der als kleiner Junge aus einem Dorf in der Nähe von Višegrad nach Istanbul verschleppt worden war, der Brückenbau innerhalb von fünf Jahren erfolgte. Und ich merke, dass ich ins Nacherzählen komme und die vielen Nebengeschichten, die diesen Roman zu einer Chronik eines Ortes an der Naht zwischen zwei Religionen, zweier Kulturen macht, gerne ausbreiten möchte. Das geht natürlich nicht!

„Denn ohne Zweifel haben sich die Menschen, seit sie auf Erden wandeln und hierher reisen und Hindernisse überwinden, schon immer vorgestellt, wie es wäre, wenn an dieser Stelle ein Übergang geschaffen würde, so wie alle Reisenden immer von einem guten Weg, sicheren Reisegefährten und einer warmen Herberge träumen. Nur trägt nicht der Wunsch eines jeden Früchte, noch ist jede Vorstellung von einem Willen und einer Kraft begleitet, die die Wünsche verwirklicht.“ Der Wesir hat die Kraft und die Macht, seinen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Aber ihm ereilt ein Schicksal, das man niemanden wünscht. Er wird ermordet. Diese Nachricht wird aber im großen Türkischen Reich nicht verbreitet. „Denn im Türkischen Reich war es nicht gestattet, schlechte Nachrichten und Unglücksfälle zu verbreiten, auch dann nicht, wenn sie im Nachbarlande geschehen waren, wieviel weniger aber, wenn es sich um eigenes Unglück handelte.“

Als die Brücke fertig gestellt ist, wird sie zum Treffpunkt der Menschen. Andrić muss sich nur auf ihr aufhalten und den Menschen zuhören, ihre Schicksale erzählen und uns Lesende damit in seinen Bann schlagen.

In der Mitte der Brücke befindet sich eine Art Balustrade, wo man sich niederlassen kann, einen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen kann. Auf dieser Kapija spielt sich alles ab. Die große Plattform auf dem Mittelpfeiler diente den männlichen Bewohnern der Stadt Višegrad über Jahrhunderte als Treffpunkt, als eigentlicher Lebensmittelpunkt.

„So lernte auf der Kapija, zwischen Himmel. Fluss und Erde, Generation auf Generation, nicht im Übermaß zu beklagen, was das trübe Wasser fortträgt. Dort nahm sie die unbewusste Philosophie der Stadt auf: dass das Leben ein unfassbares Wunder ist, denn unaufhörlich verbraucht und verströmt es, und dennoch dauert es an und steht fest ‚wie die Brücke über die Drina‘.“

So erlebt der Ort, wie ganz Europa zum Beispiel die Pest und wir lernen viel aus der Lektüre dieses Romans, zum Beispiel, dass „…Mohammed seinen Gläubigen für das Verhalten während einer Seuche gegeben hatte: ‚Solange die Krankheit an einem Orte herrscht, gehet nicht dorthin, denn ihr könntet euch anstecken; seid ihr aber an dem Orte, wo die Krankheit herrscht, gehet nicht fort aus diesem Ort, denn ihr könntet andere anstecken.‘

Aber da sich die Menschen auch an die heilsamsten Lehren selbst dann nicht halten, wenn sie vom Abgesandten Gottes ausgehen, falls sie nicht durch die ‚Kraft der Obrigkeit‘ dazu gezwungen werden, beschränkte oder unterbrach die Regierung, sobald eine Seuche ausbrach, völlig jeglichen Post- und Reiseverkehr.“

Die Jahrhunderte vergehen und Bosnien wird von Österreich-Ungarn besetzt. Die Menschen merken nicht viel von der Okkupation oder vielleicht doch mehr.

„Das Leben … erhielt ein gleichmäßiges Tempo und ein bis dahin unbekanntes Gleichgewicht, jenes Gleichgewicht, nach dem jedes Leben überall und seit jeher strebt, aber nur selten, teilweise oder vorübergehend erreicht.“

Dann fällt im gar nicht weit entfernten Sarajewo der österreichische Thronfolger einem Attentat zum Opfer und kurze Zeit später bricht über Europa der große Krieg aus. Als die Österreicher sich aus der Stadt zurückziehen, sprengen sie einen Brückenpfeiler in die Luft und unterbrechen damit den Übergang über die Drina.

Andrić hat an einer Stelle des Romans den Beginn aller Brückenbauten erzählt: „Als Allah der Allmächtige, sein Name sei gelobt, diese Welt geschaffen hatte, da war die Erde eben und glatt wie die schönste gravierte Platte. Das ärgerte den Teufel, der den Menschen dieses Gottesgeschenk neidete. Und solange die Erde noch so war, wie sie aus Gottes Händen hervorgegangen, feucht und weich wie ein ungebranntes Gefäß, da schlich er sich hinzu und zerkratzte mit seinen Nägeln das Gesicht von Gottes Erde, soviel und so tief er konnte. So sind, wie die Geschichte erzählt, die tiefen Flüsse und Abgründe entstanden, die eine Gegend von der anderen trennen und die Menschen voneinander absondern und sie hindern, auf der Erde zu reisen, die ihnen Gott als Garten zu ihrer Ernährung und Erhaltung gegeben hat. Allah tat es leid, als er sah, was dieser Verfluchte getan, aber da er nicht von Neuem an die Arbeit gehen konnte, die der Teufel mit seiner Hand verunreinigt hatte, da schickte er seine Engel aus, dass sie den Menschen hülfen und es ihnen leichter machten. Als die Engel sahen, wie die armen Menschen diese Abgründe und Tiefen nicht überschreiten und ihren Geschäften nachgehen konnten, sondern sich quälten und vergeblich einander von einem Ufer zum anderen anschauten und sich zuriefen, da breiteten sie an diesen Stellen ihre Flügel aus, und die Leute begannen, über diese Flügel hinwegzugehen. So lernten die Menschen von den Engeln Gottes, wie man Brücken baut. Nun, daher gilt es, nach einem Brunnen, als das zweitgrößte Werk, eine Brücke zu bauen, und die größte Sünde, Hand an sie zu legen, denn jede Brücke, von jenem Steg über den Gebirgsbach bis zu diesem Bauwerk Mehmed Paschas, hat ihren Engel, der sie schützt und hält, solange es ihr von Gott beschieden ist zu stehen.‘“

Die Sprengung eines Brückenpfeilers spielte damit, wie jeder Krieg, dem Teufel in die Karten.

Ivo Andrić lässt sehr viele Menschenschicksale im Laufe der Chronik von knapp vierhundertfünfzig Jahren auf uns Lesende einwirken. Die Pfählung eines Mannes, der den Bau der Brücke sabotieren will, bis hin zu dem Schicksal Alihodschas, der kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs gegen die ganze neue Zeit mit Worten ankämpft und unter anderem sagt, „ … es sei nicht wichtig, wieviel Zeit der Mensch spare, sondern was er mit dieser ersparten Zeit beginne; wenn er sie schlecht verwende, dann sei es besser, er habe sie nicht.“

Ivo Andrić erhielt für sein literarisches Werk 1961 den Nobelpreis für Literatur.

Dieser Roman ist äußerst lesenswert!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Kuba im Herbst

Der letzte Teil des Havanna Quartetts spielt im Herbst 1989. Leonardo Padura überschreibt den Roman mit „Herbstlandschaft“, die deutsche Übersetzung wählt einen anderen, auch treffenden, Titel „Das Meer der Illusionen“.

Herbst auf Kuba ist auch die Zeit von Wirbelstürmen und so einen erwartet unser Teniente Mario Conde, nicht nur den realen, sondern auch den in seinem Kopf. Er wird 36 Jahre alt und wird nur noch einen Fall aufklären müssen und im Gegenzug die Entlassung aus dem Polizeidienst erhalten.

Auf dem Dach seines Hauses sucht er nach den Anzeichen für das Eintreffen des Wirbelsturms: „Das hartnäckige Fortbestehen bestimmter Gebäude über das Leben ihrer Erbauer hinaus, die Tatsache, dass sie allen, auch den heftigsten Wirbelstürmen standhielten, den Hurrikanen oder Zyklonen oder Taifunen oder Tornados, war für ihn der einzig wirkliche Daseinsgrund. Denn was würde von ihm selbst übrigbleiben, wenn er sich in diesem Moment in die Lüfte erheben würde, so wie jene Taube, die er sich einmal ausgedacht hatte? Ewiges Vergessen, lautete die Antwort, völlige Leere wie die all der namenlosen Menschen, die über die gewundene Calzada gingen, beladen mit Plastiktüten und Hoffnungen oder mit leeren Händen und Köpfen…“

Der Mord, der aufzuklären ist, ist fast nebensächlich in dem Beziehungsgeflecht, das im Rahmen der Ermittlungen aufgedeckt wird.

Wichtig ist allein, die Darstellung der kubanischen Verhältnisse. Wichtig ist, was am Ende zurückbleibt.

Und wieder stelle ich fest, dass diese Kriminalromane des Leonardo Padura weit mehr sind als eine Antwort auf die Frage nach dem Täter. Das macht sie so lesenswert und besonders!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Reiseberichte de luxe

„Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser.“ Dieser Satz steht in dem ersten Reisebericht des Buches „Die Dame mit dem Einhorn“ von Cees Nooteboom. Der Leser Nooteboom ist ein besonders belesener Spaziergänger, er besucht Orte in Europa, um eine dort stattfindende Ausstellung zu besichtigen: „Wer regelmäßig zu solchen Veranstaltungen geht, kennt das: den Eifer zu Beginn, das Verweilen vor den ersten Ausstellungsstücken, bis man allmählich, sich selbst verachtend, das Tempo mit der Ausrede steigert, man sei gesättigt.“ Selbst wenn dann im Katalog einige Werke gar nicht aufgeführt werden, „…sehe ich sie deutlich vor mir ‚im Palast meiner Erinnerung‘, wie Augustinus das nennt.“

So reisen wir mit Nooteboom unter anderem nach Mantua und Florenz, nach Wien und Berlin, machen immer wieder in Paris Station und genießen Ausstellungen, absolvieren Besuche in Zoologischen Gärten und besuchen den großen Friedhof Père Lachaise oder eben die wundervolle Tapisserie des Musée national du Moyen Âge in Paris. Der Titel dieses Sammelbandes ist Teil dieser Wandteppichsammlung. Nooteboom beschreibt die Teile, die fünf Sinne und Teil sechs „Mon seul désir“ in einem kurzen Kapitel so meisterlich, dass sie auch, obwohl sie nur im Palast meiner Erinnerung erhalten sind, sofort bildhaft werden.

Wie so häufig in seinen Texten beschäftigt sich der Autor, einer meiner Lieblingsschriftsteller, mit der Zeit und unserem kurzen Leben: „In einem jüngst erschienenen Buch über den Manierismus in der Literatur (Claude-Gilbert Dubois: Le Maniérisme) bezeichnet der Autor die übertriebene Beschäftigung mit der Zeit als eines der Merkmale des Manieristen. Nachdem er zunächst den Manieristen mit der teuflischen Bedächtigkeit des Wissenschaftlers – die ich hier auf eine einzige Zeile reduzieren muss – als den Nachgeborenen einer großen Zeit skizziert, der sich angesichts der großen Vorbilder ebendieser Zeit seiner Nichtswürdigkeit bewusst wird und aus dem Nichts dieser Nichtswürdigkeit seine Eigenart herausbildet, behauptet er, dass in diesem Sinne alle Manieristen auf der Suche nach der verlorenen Zeit seien. Nicht irgendeiner persönlichen, anekdotischen verlorenen Zeit, sondern der einer ‚Ewigkeit, reglos und schön wie ein Traum aus Stein‘, in der die verlorene Zeit und die ewige Zeit einander abwechselnd unentwegt umbringen, weil sich die theologischen Konzeptionen einer ‚ewigen‘ Zeit mit der soziologischen Wirklichkeit nicht mehr in Einklang bringen lassen: Die Renaissance hat nun einmal die sich bewegende Zeit erfunden. Nicht länger misst der Lauf der unsterblichen Sterne die Zeit, sondern die jüngst erfundene Uhr des Menschen. Der Manierist gerät zwischen seine neue Zeit, die sich bewegt und sterben wird, und seine alte, ewige, unbewegliche Zeit, und die Folge ist ein großes Seufzen und Wehklagen über das Vergängliche und Ephemere. Er taumelt hin und her zwischen dem leidenschaftlich erlebten Augenblick der ewigen Zeit, den man miterleben darf, und der Meditation über die Zeit, die selbst stirbt und zum Vorwand dafür wird, sich Todessehnsüchten hinzugeben. Und, um zu meiner eingangs aufgestellten Behauptung zurückzukehren: Für jemanden, der diese widersprüchlichen Strömungen in sich selbst wühlen spürt, gibt es kaum eine Stadt, die Meditationen darüber stärker anfacht als Florenz, wo die Vergänglichkeit und die Vergangenheit sich so solide und sichtbar gemacht haben, dass sie die Ewigkeit mit einem superioren Widerspruch fortgesetzt heraufbeschwören.“

So muss man schreiben können! Nur wenige Menschen können dies: Cees Nooteboom ist einer von ihnen! Und zu dem großen Thema Zeit wird er anderer Stelle schreiben: „Zeit ist nur eine Interpretation. Es gibt viel davon, wir haben nicht viel davon.“

Und dann schafft er es manchmal, mit nur einem Satz, ein ganz neues Kapitel aufzuschlagen: „Von allen Dingen ist Leere wohl am schwersten zu beschreiben.“

Zurück zum Père Lachaise: Hier besucht er an Allerheiligen einige Gräber, natürlich das von Proust. Er findet auch die Gräber von Balzac und der Piaf. Am eindrucksvollsten aber die Grabplatte mit der liegenden Skulptur des Victor Noir. Keine Sorge, man muss diesen Namen nicht kennen, aber unser „Reiseführer“ bringt uns den Mann näher.

Die Texte stammen aus den sechziger bis zu den mittleren neunziger Jahren. Sie sind unterschiedlich, schon auf Grund des Entstehungsjahres. Was alle Texte vereint, ist deren Intelligenz, deren Herausforderung an die Lesenden, ein Fremdwörterbuch zu Rate zu ziehen oder über einen Maler nachzulesen. Die Belohnung ist gewaltig und erzeugt die große Lust, den einen oder anderen Ort selbst zu besuchen oder wiederzusehen.

Eine grandiose Lektüre, unbedingt lesenswert!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Klingsor

Der erste Weltkrieg ist vorbei, die Welt hat sich verändert. Das spürt der Maler Klingsor und arbeitet wie ein Berserker. Er isst wenig, trinkt viel und ab und an vergnügt er sich mit Frauen. „Klingsors letzter Sommer“ ist eine knappe Erzählung von Hermann Hesse, expressionistisch, wie die Bilder, die Klingsor malt.

Der Ausflug mit einigen Bekannten in ein Bergdorf beginnt mit einer furiosen Schilderung der Natur des Tessins: „Sie sanken in der Morgenstunde, zwischen den stark duftenden Spiräen und umzittert von den noch betauten Spinngeweben der Waldränder, durch den steilen warmen Wald hinab ins Tal von Pampambio, wo vom Sommertag betäubt an der gelben Straße grelle gelbe Häuser schliefen, vornübergeneigt und halbtot, und am versiegten Bach die weißen metallenen Weiden hingen mit schweren Flügeln über den goldenen Wiesen. Farbig schwamm die Karawane der Freunde auf der rosigen Straße durch das dampfende Talgrün: die Männer weiß und gelb in Leinen und Seide, die Frauen weiß und rosa, der herrliche veronesergrüne Sonnenschirm Ersilias funkelte wie Kleinod im Zauberring.“

Am Ende, der Sommer ist vorbei, malt Klingsor ein Selbstbildnis, es wird sein letztes Werk sein. Seine zehn Leben, die er als Junge zu haben glaubte, sind aufgebraucht.

Eine schmale und doch lesenswerte Erzählung.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Commissario Montalbanos vierzehnter Fall

Die Tage des Zweifels“ ist der Titel der deutschen Übersetzung des Kriminalromans von Andrea Camilleri. Der Fall ist spannend und ein wenig verzwickt, aber für mich steht inzwischen vielmehr die Lebensschilderung des Commissarios im Mittelpunkt. Der Mann ist ein Gourmet, sicherlich auch ein Gourmand. Er raucht und trinkt definitiv zu viel. Seine Fernbeziehung mit Livia ist anstrengend, sie wäre wahrscheinlich schon längst beendet, wohnten die zwei zusammen. Er schreibt sich selbst Briefe, um sich über den Stand der Ermittlungen klar zu werden, er hält innig Zwiesprache mit sich und ja, dann verliebt er sich in eine sehr junge, vielleicht zu junge Frau.

Der Vorgesetzte nervt, aber was soll man machen, man liebt den Beruf und Sizilien und das Leben.

Ein Lesevergnügen, zumal Camilleri seinen Helden auch noch als literarisch gebildet darstellt und somit augenzwinkernd den Lesenden auch noch Lektüreanregungen mit auf dem Weg gibt.

So, jetzt gönne ich mir eine Caponata und ein Glas kühlen Grillo.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Roman über die Augsburger Puppenkiste

Ein gewagtes Unterfangen: einen Roman über die Augsburger Puppenkiste zu schreiben! Die Lesenden wundern sich über den zweifarbigen Druck. Ich fühlte mich an die Gestaltung der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende erinnert. Die Zeichnungen von Matthias Beckmann in diesem Roman „Herzfaden“ von Thomas Hettche tragen dazu bei, an ein Kinderbuch zu denken, und auch der Ton der Erzählung tut dies.

Ziemlich spät in der Erzählung lässt der Autor seine Hauptperson die folgenden Sätze über „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende sagen: „Ein bisschen ist es wie der „Kleine Prinz“, man weiß nicht recht, ob es ein Buch für Kinder oder Erwachsene ist. Und beim Lesen kam es mir plötzlich so vor, als ob es Geschichten für Kinder oder Erwachsene gar nicht gäbe.“

Wichtig allein ist der Herzfaden, der beim Marionettenspiel vom Spielenden zum Zuschauenden geknüpft ist, erklärt der Vater der Hauptfigur an einer anderen Stelle in diesem Roman. Und so ist es, ergänze ich, auch mit den Büchern, die wir lesen. Wenn ein unsichtbarer Faden vom Roman zum Lesenden geht, dann ist es egal, welches Genre der Roman gerne sein will. Es kommt darauf an, dass dieser Herzfaden sich spannt.

Die Hauptfigur ist Hannelore Marschall, die die von ihrem Vater Walter Oehmichen gegründete Puppenkiste weiterführt. Die Erzählung beginnt im Krieg Nazideutschlands, sie macht die Grausamkeit des Krieges, das ganze Leid, dass durch die Nazis über Deutschland und die Welt gebracht wird greifbar und es ist der Erzählkunst des Autors zu verdanken, dass die Geschichte auf einem schmalen Grat im Gleichgewicht gehalten wird.

Und wer schon einige Jahre auf dem Buckel hat, der freut sich über eine Wiederbegegnung mit dem Urmel, dem Lukas und Jim Knopf, dem geht das Lied „eine Insel mit zwei Bergen…“ nicht so schnell aus dem Kopf.

Am Ende kommt der Lesende wieder in der heutigen Zeit an und zieht den Hut vor dem Autor, bedankt sich für die Geschichte und empfiehlt sie gerne weiter.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Surrealer Schaum

Mir hatte jemand den Roman „Die Gischt der Tage“ von Boris Vian empfohlen. Nun habe ich die Lektüre hinter mich gebracht und muss gestehen, dass ich mit dem Roman nicht wirklich „warm geworden“ bin.

An der Übersetzung von Frank Heibert lag es gewiss nicht, die ist großartig, wie auch sein Nachwort, in dem er uns Einblicke in die Arbeit der Übersetzung gewährt, noch unterstreicht.

Der Roman schildert die Liebesgeschichte zwischen Colin und Chloé. Er schildert auch die Liebesgeschichten von Chick und Alise sowie von Nicolas und Isis.

Ein kurzer Ausschnitt mag den surrealen Stil des Romans verdeutlichen: „Collin stieg die Treppe hinauf, die von bunten, nicht zu öffnenden Fenstern ein bisschen Licht bekam, und befand sich im ersten Stock. Vor ihn hob sich eine schwarze Tür vom kalten Stein der Wand ab. Er trat ein, ohne zu klingeln, füllte ein Formular aus und gab es beim Amtsdiener ab, der es leerte, zu einer kleinen Kugel knüllte und in den Lauf einer präparierten Pistole drückte. Dann zielte er sorgfältig auf einen in die Nachbarwand praktizierten Schalter, drückte ab, während er sich mit der linken Hand das rechte Ohr zuhielt, und der Schuss ging los. Dann lud er in aller Ruhe seine Pistole für den nächsten Besucher nach.“

Zu diesem Zeitpunkt ist von dem Vermögen über das Colin verfügte nicht mehr viel vorhanden. Erstens hat er ein Teil seines Geldes seinem Freund Chick überlassen, damit dieser Alise heiraten kann und zweitens zehrt die Behandlung der schwer erkrankten Chloé sein Vermögen auf. Er hat allerdings im Unterschied zu Chick seine Geliebte längst geheiratet und die beiden leben glücklich miteinander bis zu dem Moment, wo die Krankheit über Chloé hereinbricht.

Chick gibt das Geld für Werke des großen Denkers Jean-Sol Partre aus. Ja, das soll Sartre sein. 1946 hat Vian diesen Roman geschrieben und wie man in Wikipedia nachlesen kann, „gewann Vian 1944 Anschluss an Intellektuellenkreise in Paris und gehörte u. a. einige Zeit zum engeren Zirkel um Jean-Paul Sartre, bis dieser ihn durch eine Liebelei mit seiner (Vians) Frau und sein autoritäres Gehabe verdross“.

Ich verrate nicht den dramatischen Höhepunkt des Romans, aber ich kann nur raten, sich warm anzuziehen.

An einer Stelle des Romans findet die Lesenden den Satz: “Dort, wo sich die Flüsse ins Meer stürzen, bildet sich eine schwer zu überwindende Brandung, und das Treibgut tanzt in dem emporgischtenden Aufruhr.“

Wer sich nicht davor fürchtet in dieser Brandung unterzugehen, lese diesen Roman.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Über einen wundervollen Roman

Kent Haruf gehört zu meinen Lieblingsautoren. Er schafft es die Lesenden innerhalb weniger Minuten in seine Romane hineinzuziehen. Du lebst mit seinen Figuren in dem erdachten kleinen Ort Holt in Colorado. Manchmal tauchen Figuren aus anderen Romanen wieder auf, manchmal nur am Rande.

So auch dieses Mal in dem Roman „Kostbare Tage“. Dad Lewis ist schwer krank und wird sehr bald sterben. Er lässt sich von seiner Frau Mary noch einmal zu Orten fahren, die ihm etwas bedeuteten. Und an einem dieser Orte erinnert er sich an die alten Farmerbrüder, die ein junges Mädchen bei sich aufnahmen und sich um sie und ihr kleines Kind kümmerten.

Und die Lesenden wissen natürlich um wen es sich handelt und denken an diese Romangestalten ebenso zurück, wie Menschen das normalerweise nur tun, wenn sie an reale Figuren denken.

In diesem Roman begegnen wir wieder sehr vielen neuen Menschen, die alle ihre Geschichten mit sich tragen, die Verwundungen, aber auch gute Erinnerungen haben.

Es geht um Konflikte zwischen Vater und Sohn, nicht nur bei dem sterbenden Dad Lewis, sondern auch bei dem neuen Pfarrer.

Wir begegnen sehr starken Frauengestalten, die mit ihren jeweiligen Lebensgeschichten souverän umgehen. Aber Verletzungen haben sie alle. Und wenn dann gegen Ende des Romans Dad Lewis gestorben sein wird, würde ich gern noch eine Weile in Holt bleiben und den anderen Menschen, die mir begegnet sind, bei ihrer weiteren Entwicklung zuschauen.

Ich konnte den Roman nicht aus der Hand legen. Ich kann die Lektüre uneingeschränkt allen empfehlen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Babylon Berlin und der Ort Marlow

Die Romane von Volker Kutscher habe ich immer gern gelesen. Seine Figuren sind voller Leben, die Geschichten spannend und vielschichtig und am Ende der Lektüre wartet der Lesende dann ungeduldig auf den nächsten Band.

Kein Wunder, dass diese Romane „verfilmt“ werden. Nun haben die bisherigen drei Staffeln nicht allzu viel mit den Romanen zu tun, aber gelungen sind die Drehbücher auch und alles, was ich auf die Romane bezogen habe, gilt auch für die Verfilmungen.

Lange habe ich auf die Lektüre des siebten Romans gewartet, weil ich gerne eine Taschenbuchausgabe käuflich erwerben wollte. Der Verlag hat sich damit aber Zeit gelassen, verständlich durch die zusätzliche Werbung der Filme. Nun aber las ich „Marlow“ und bin weiterhin begeistert von Kutschers Fähigkeiten viele Bälle in der Luft zu halten und beim Auffangen auch alle wieder einzusammeln.

Wie immer bei diesen Kriminalromanen kann ich nicht allzu viel über den Inhalt preisgeben. Nur so viel: erneut gelingt es dem Autor, die zunehmend beklemmender werdende Atmosphäre in Nazideutschland spürbar werden zu lassen. Dieser Roman spielt – jedenfalls die Haupthandlung – im Jahre 1935.

Wie immer geht der Herr Rath sehr eigene Wege, wie immer verheddert er sich und es gibt einige Geschichten, die nicht zu Ende erzählt werden. Denn: Fortsetzung folgt!

Ich empfehle die Lektüre dieses Romans gerne.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Kommissar Rath und die Olympischen Spiele 1936

Gut, dass ich gerade erst den siebten Band von Volker Kutscher der Reihe um den Kommissar Rath gelesen hatte. Einzelheiten, die zum Verständnis des nunmehr achten Bandes „Olympia“ erheblich beitragen, wären mir nicht mehr präsent gewesen.

Das Personaltableau ist im Laufe der Zeit doch erheblich angewachsen. Manche Personen waren mir zumindest entfallen, die nun eine größere Rolle spielen. Der Autor muss aufpassen, dass er einem Jongleur ähnlich, alle Bälle in der Luft hält.

Das gelingt ihm erstaunlich gut, auch wenn manche Wendungen, ein wenig unwahrscheinlich erscheinen, aber so ist das nun einmal, wenn man ein ehrgeiziges Projekt verfolgt.

Kutscher hat sich vorgenommen, den Lesenden die Entwicklung Deutschlands von einem Rechtsstaat in ein Terrorregime vorzustellen. Da wird es für die Polizei, die ja dem Recht zum Siege verhelfen will, immer schwerer, wenn der Staat selbst von Schurken regiert wird.

Olympia in Berlin hatte die Funktion, das Nazireich in einem glanzvollen Licht erscheinen zu lassen. Alles, was da stören könnte, wird vertuscht, wird Kommunisten in die Schuhe geschoben oder irgendwie der „jüdischen Weltverschwörung“. Denn nach Außen darf die braune Lackierung keinen Kratzer bekommen.

Unser Oberschurke Marlow spielt auch eine Rolle, zwar nicht direkt, aber doch schon sichtbar. Der Pflegesohn Friedrich wird vom Autor liebevoll in den Vordergrund geschrieben, ich gehe davon aus, dass man im nächsten Band noch mehr über ihn lesen wird.

Und alles andere, was in diesem sehr lesenswerten Kriminalroman sonst noch so geschieht, müssen die Lesenden durch eigene Lektüre herausbekommen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Report eines Hausmeisters

„Ich werde also Paul Christian Frédéric Hansen heißen. Dänischer geht es kaum. Das Bodenrecht, das Abstammungsrecht und was weiß ich noch alles für Rechte, allen voran aber das Zufallsrecht haben mir die französische Staatsbürgerschaft beschert.“

So führt der Autor Jean-Paul Dubois seinen Erzähler in dem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ ein. Dieser Satz stammt aus dem Roman vom Vater des Erzählers, Johanes, der als Pastor tätig ist und damit die Verfehlungen jedes einzelnen zu mildern versuchte. Pauls Mutter, hat von ihren Eltern ein kleines Programmkino in Toulouse geerbt, das sie auch betreibt und damit in gewisser Weise den Kontrapunkt zur Theologie des Vaters bildet.

Der Roman spielt auf zwei Ebenen: die erste ist Pauls Lebenserzählung, die zweite schildert seinen Alltag im kanadischen Gefängnis, in dem er eine zweijährige Haftstrafe verbüßen muss. Sie handelt auch von seinem Zellengenossen, einem Biker, der sich kaum die Haare schneiden lassen kann, der aber zu furchteinflößend ist, dass Paul von diesem Respekt, den die Mitgefangenen diesem Muskelprotz zollen, profitiert.

Erst im Verlauf der Geschichte wird sich herausstellen, warum Paul im Gefängnis sitzt und wie sein Leben sich schließlich bis zu seiner Entlassung aus dem Gefängnis gestaltet. Viele Jahre hat er als Hausmeister, als Mann für alle Fälle, einer Wohnanlage in Montreal gearbeitet. Immer wieder kehren seine Gedanken zu dieser Zeit zurück. Der Roman wird hier der Report eines Hausmeisters.

Im Rahmen dieser Erzählung werden ganz nebenbei einige Daten genannt, die in der Geschichte nicht unwesentlich sind. Die Studentenproteste im Jahre 1968 in Frankreich, die Abstimmung über die Unabhängigkeit Quebecs von Kanada 1980, der 4. November 2008, an dem in den USA Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde.

Am Ende lesen wir, wie Paul zu seinen dänischen Vorfahren zurückkehrt. Er hat sein Leben bis hierhin gelebt. Und jeder tut dies nun einmal auf seine Weise.

Der Roman erhielt den Prix Goncourt 2019.

Ich empfehle die Lektüre durchaus.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit

Wie anfangen? Womit beginnen? Vielleicht mit Wertach.

Ich kenne den Ort, den höchstgelegenen Marktflecken Deutschlands, schon sehr lange. Meine Frau, meine Söhne und ich haben im Allgäu viele Jahre unsere Ferien verbracht. Meist wohnten wir in Haslach. Die Haltestation der Bahn war, obwohl in Haslach gelegen, als „Wertach/Haslach“ bezeichnet.

Der Ort lag gut fünf Kilometer von Haslach entfernt. Alles, was ich von Wertach im Gedächtnis behielt, war ein Käse: Anno 1874 erfanden die Gebrüder Josef und Anton Kramer den ersten königlich patentierten Käse der Welt, den „Bergbauern Weißlacker“.

Wertach als Geburtsort von Winfried Georg Sebald, der sich selbst immer als W. G. Sebald bezeichnete, war mir nicht in Erinnerung. Vielleicht hat die Gemeinde sich auch erst nach seinem Tod im Jahre 2001 seiner erinnert. Tatsächlich wurde erst nach seinem Tode der Sebald-Wanderweg ins Leben gerufen, er führt von Oberjoch nach Wertach.

Wie anfangen? Womit beginnen? Vielleicht mit dem Autor.

Auf Sebald machte mich neulich ein Literaturpodcast aufmerksam, der über ein „Reisebuch“ berichtete und dabei auf berühmte Vorbilder verwies. Unter anderem eben auf W. G. Sebald. Ich erinnerte mich, vor Jahren ein Buch von ihm gekauft zu haben, das in der Reihe Süddeutsche Zeitung Bibliothek in einem Nachdruck erschienen war. „Austerlitz“. Es ist ohne Gattungsbezeichnung und es war ein Buch unter vielen in meiner Bibliothek, welches seiner Entdeckung entgegenfieberte.

Wie anfangen? Womit beginnen? Vielleicht mit dem Umschlag meiner Buchausgabe.

Eine schwarz-weiße Fotografie zeigt einen einzelnen Mann mit Gepäck über der einen Schulter, einen Spazierstock in einer Hand, einen sehr hellen Weg zwischen zwei Feldern entlangwandern. Er wandert einer leicht hügeligen Landschaft entgegen. In dem Buch findet man dann Sebalds Beschreibung sehr knapp: „… das Bild der von dem Wanderer durchquerten, beinahe schon in Vergessenheit versunkenen Landschaft entstehen zu lassen.“ Aber diesen Halbsatz zitierend, bin ich schon mittendrin in dem Buch, in dem übrigens viele Fotografien den Text unterlegen.

Wie anfangen? Womit beginnen? Vielleicht von dem Buch erzählen.

„In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, von England aus wiederholt nach Belgien gefahren, manchmal bloß für ein, zwei Tage, manchmal für mehrere Wochen.“ So beginnt dieses Buch, das mich nicht mehr losließ. Es entfaltete einen ungeheuren Sog auf mich. Einem Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte, mich nicht entziehen wollte.

So kommt der Autor nach Antwerpen und entdeckt den überaus prächtigen Bahnhof dieser Stadt und den Mann, von dem er nun berichten wird: „Eine der in der Salle des pas perdu wartenden Personen war Austerlitz, ein damals im siebenundsechziger Jahr, beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm.“

Dabei beeindruckt Austerlitz zunächst durch seine profunde Architekturkenntnis, was sich tatsächlich einem Reiseführer ähnlich liest. „… in seiner vom römischen Pantheon inspirierten Konstruktion auf eine derart eindrucksvolle Weise verwirklicht wurde, dass es selbst wir Heutigen, sagte Austerlitz, ganz so, wie es in der Absicht des Erbauers lag, beim Betreten der Eingangshalle von dem Gefühl erfasst werden, als befänden wir uns, jenseits aller Profanität, in einer dem Welthandel und Weltverkehr geweihten Kathedrale.“

„…heraldische Motiv des Bienenkorbs übrigens nicht, wie man zunächst meinen möchte, die dem Menschen dienstbar gemachte Natur versinnbildlicht, auch nicht etwa den Fleiß als eine gemeinschaftliche Tugend, sondern das Prinzip der Kapitalakkumulation.“

Es entsteht eine besondere Art der Verbundenheit und so beginnt Jaques Austerlitz von seinem Leben zu erzählen. Immer wieder treffen die beiden Männer sich. Anfangs eher zufällig, später dann gezielt verabredet.

So entsteht für uns Lesende ein Leben, das scheinbar in Wales beginnt. Das von Menschen wie Alphonso, dem Onkel eines „Schulfreundes“ geprägt wird. Alphonso eröffnet dem jungen Austerlitz ganz neue Dimensionen.

„Es sei an solchen unwirklichen Erscheinungen, sagte Alphonso, am Aufblitzen des Irrealen in der realen Welt, an bestimmten Lichteffekten in der vor uns ausgebreiteten Landschaft oder im Auge einer geliebten Person, dass unsere tiefsten Gefühle sich entzündeten oder jedenfalls das, was wir dafür hielten.“

„Manchmal beim Anblick einer solchen in meiner Wohnung zugrunde gegangenen Motte frage ich mich, was für eine Art Angst und Schmerz sie in der Zeit ihrer Verirrung wohl verspüren. Wie er von Alphonso wisse, sagte Austerlitz, gebe es eigentlich keinen Grund, den geringeren Kreaturen ein Seelenleben abzusprechen.

„So sehr hatte sich Austerlitz in seiner walisischen Geschichte und ich mich im Zuhören verloren, dass wir nicht merkten, wie spät es geworden war.“ Und so verlieren sich auch die Lesenden!

Natürlich wird auch über die Zeit philosophiert und wieder verliere ich mich in dem Buch: „Die Zeit, so sagte Austerlitz in der Sternenkammer von Greenwich, sei von allen unseren Erfindungen weitaus die künstlichste und, in ihrer Gebundenheit an den um die eigene Achse sich drehenden Planeten, nicht weniger willkürlich als etwa eine Kalkulation es wäre, die ausginge vom Wachstum der Bäume oder von der Dauer, in der ein Kalkstein zerfällt, ganz abgesehen davon, dass der Sonnentag, nach dem wir uns richten, kein genaues Maß abgibt, weshalb wir auch zum Zweck der Zeitrechnung eine imaginäre Durchschnittssonne uns ausdenken mussten, deren Bewegungsgeschwindigkeit nicht variiert und die nicht in ihrer Umlaufbahn gegen den Äquator geneigt ist.“

Die große Bahnhofsuhr in Antwerpen bezeichnete Austerlitz als „… Statthalterin der neuen Omnipotenz …“.

Und an anderer Stelle sagt er: „Eine Uhr ist mir immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, wie etwas von Grund auf Verlogenes, vielleicht weil ich mich, aus einem mir selten nie verständlichen inneren Antrieb heraus, gegen die Macht der Zeit stets gesträubt und von dem sogenannten Zeitgeschehen mich ausgeschlossen habe, in der Hoffnung, wie ich heute denke, sagte Austerlitz, dass die Zeit nicht verginge, nicht vergangen sei, dass ich hinter sie zurücklaufen könne, dass dort alles so wäre wie vordem oder, genauer gesagt, dass sämtliche Zeitmomente gleichzeitig nebeneinander existierten, beziehungsweise dass nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre, das Geschehene noch gar nicht geschehen ist, sondern eben erst geschieht, in dem Augenblick, in dem wir an es denken, was natürlich andererseits den trostlosen Prospekt eröffne eines immerwährenden Elends und einer niemals zu Ende gehenden Pein.“

Und nun nähert sich dieses Buch, das von der Suche eines Menschen nach seinen Eltern erzählt, der vierjährig aus Prag nach England verschickt wird, um dem Regime der Nazis zu entgehen. Er wird seine Eltern nie mehr wiedersehen. Weder die schöne Mutter, eine Sängerin, eine Schauspielerin, noch den Vater, einen politisch engagierten Kämpfer gegen die faschistische Diktatur.

Später wird der Autor nach Theresienstadt/Terezin reisen und was er dem Lesenden schildert ist erschütternd: „… habe nicht meinen Augen getraut und habe verschiedentlich mich abwenden und durch eines der Fenster in den rückwärtigen Garten hinabsehen müssen, zum ersten Mal mit einer Vorstellung von der Geschichte der Verfolgung, die mein Vermeidungssystem so lange abgehalten hatte von mir und die mich nun, in diesem Haus, auf allen Seiten umgab.“

Und er schildert die ganze Bürokratie des Bösen: „Bilanzblätter sah ich, Totenregister, überhaupt Verzeichnisse jeder nur denkbaren Art und endlose Reihen von Zahlen und Ziffern, mit denen die Amtswalter sich darüber beruhigt haben müssen, dass nichts unter ihrer Aufsicht verloren ging.“

Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Werk von H. G. Adler „Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft“.

Die Lektüre kann niemanden unberührt zurücklassen.

Ein außerordentliches Buch! Und sollte es heute noch so etwas wie Schullektüre geben, dann wäre dieses Buch geradezu zwingend in einem solchen Kanon aufzunehmen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Jane Austen und ihr Gespür für Vernunft und Empfindung

Es ist so wohltuend, die Prosa der großen Jane Austen auf sich wirken zu lassen. Im Roman „Sense and Sensibility“ in meiner Buchversion als „Verstand und Gefühl“ von Angelika Beck übersetzt, genieße ich die feine Ironie, die die Autorin ihren Figuren mit auf dem Weg gibt.

Zum Inhalt nur so viel: Nach dem Tode ihres Vaters stehen drei junge Mädchen und deren Mutter vor einem großen finanziellen Problem. Denn: „…wie fast jedes andere Testament rief es ebenso viel Enttäuschung wie Freude hervor.“

Der Bruder erbte Haus und Hof, hatte zwar seinem Vater auf dem Totenbett noch das Versprechen gegeben, sich gegenüber der Stiefmutter und den drei Halbschwestern großzügig zu verhalten, aber vor allem durch seine Gattin beeinflusst, schmilzt die Großzügigkeit wie ein Eis in der Sonne.

„‘Du schuldest ihm weder besondere Dankbarkeit noch seinen Wünschen Gehorsam, denn wir wissen nur zu gut, dass er ihnen fast alles auf der Welt vererbt hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre.‘ Dieses Argument war zwingend. Es gab seinen Absichten all jene Entschiedenheit, die ihnen bis dahin gefehlt hatte, und er gelangte schließlich zu der Erkenntnis, dass es absolut unnötig, wenn nicht sogar höchst ungehörig wäre, für die Witwe und die Kinder seines Vaters mehr zu tun als ihnen diese Art von nachbarschaftlicher Hilfe angedeihen zu lassen, auf die seine Frau hingewiesen hatte.“

Die vier Frauen nehmen das Angebot eines Verwandten, in ein Cottage zu geringer Miete zu ziehen an. Man siedelt von Sussex nach Devonshire um. Die beiden älteren Mädchen Elinor und Marianne sind verliebt, beziehungsweise werden sich in der Folge verlieben und beide werden zunächst tief enttäuscht.

Aber zum Schluss kommt alles in Ordnung und es gibt, nachdem die handelnden Personen das rechte Maß an Vernunft und Empfindung erlernt haben, ein der großen Autorin gemäßes Happy End.

Zurück zu der Ironie. Hier gibt es einige wenige „Appetithappen“ als Anreiz, sich möglichst rasch der Lektüre dieses Romans hinzugeben.

„Elinor lachte: ‚Zweitausend im Jahr! Eintausend sind für mich schon ein Reichtum! Ich wusste doch, worauf es hinauslaufen würde.‘

‚Und dennoch sind zweitausend im Jahr ein sehr bescheidenes Einkommen‘, sagte Marianne. ‚Mit einem geringeren lässt sich der Unterhalt einer Familie nicht gut bestreiten. Ich habe gewiss keine übertriebenen Ansprüche. Eine ausreichende Dienerschaft, eine Kutsche, vielleicht auch zwei, und Jagdpferde kann man nicht von weniger unterhalten.‘“

„Lady Middleton war von Mrs Dashwood gleichermaßen angetan. Beiden war ein kaltherziger Egoismus zu eigen, der sie einander anziehend machte, und es gehörte auch zu ihren Gemeinsamkeiten, dass sie auf abgeschmackte Etikette hielten und sich durch einen umfassenden Mangel an Intelligenz auszeichneten.“

„Aber durch eine Stirnfalte wurde ihr Gesicht zum Glück vor der Schmach, dümmlich zu wirken, bewahrt, denn diese verlieh ihm die deutlichen Merkmale von Stolz und Bosheit. Sie war eher wortkarg, weil sie, anders als die meisten Leute, ihre Worte der Zahl ihrer Einfälle anpasste; und von den wenigen Silben, die ihr über die Lippen kamen, entfiel keine auf Miss Dashwood, die sie mit der festen Entschlossenheit, sie unter allen Umständen unsympathisch zu finden, ins Auge fasste.“

Und ein früh im Roman ausgesprochener Wunsch wird für unsere Heldinnen in Erfüllung gehen: „Wie jeder andere möchte ich ganz einfach rundherum glücklich sein; aber wie jeder andere kann ich nur auf meine Weise glücklich werden.“

Und so darf ich dem Roman viele weitere Lesende wünschen und empfehle ihn herzlich zur Lektüre.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Kriegsmärchen

Von Pierre Lemaitre habe ich mit großem Vergnügen den Roman „Wir sehen uns dort oben“ gelesen. Er war, das entging meiner Aufmerksamkeit, der erste Teil einer Trilogie. Jetzt las ich den letzten Teil: „Spiegel unseres Schmerzes“.

Einige kurze Bemerkungen zu den Hauptfiguren dieses Romans.

Louise, eine schöne Lehrerin, die in dem Restaurant von Monsieur Jules, kellnert. Die Mutter von Louise ist zum Zeitpunkt des Romanbeginns am 6. April 1940 bereits tot. Dennoch spielt sie eine bedeutende Rolle in dem Roman. Wir lernen zwei Soldaten Raoul und Gabriel kennen, die uns mit ihren Schicksalen ebenfalls durch den Roman begleiten werden. Fernand, ein Mobilgardist, dessen Gattin Alice, eine herzschwache, herzensgute Frau, und schließlich Desiré Migaud, auch mit anderen Namen unterwegs, ein Hochstapler, ein Schelm in dieser schweren Zeit. Die Nazis erobern Frankreich, alles bricht im Chaos zusammen.

Aus dem wundervollen Roman von Irène Némirovsky „Suite française“ kennen wir die Schilderung, wie Menschen panisch Paris verlassen, die Landstraßen verstopfen und ihren „wahren Charakter“ zeigen.

Auch Lemaitre zeigt uns solche Straßenszenen und führt alle Personen an einem kleinen Ort an der Loire zusammen.

Diese Zusammenführung trägt märchenhafte Züge, sie eignet sich als Weihnachtslektüre, obwohl sie im Juni 1940 spielt. Die Fäden werden verknüpft und trotz des leidvollen Hintergrunds schwebt eine Hoffnung über allem. Er beherrscht die Kunst, Cliffhanger einzusetzen und so die Spannung zu steigern.

Als Louise den Strom der Fliehenden wahrnimmt, denkt sie: „Ein gewaltiger Trauerzug, der zum Spiegel unseres Schmerzes und unserer Niederlage geworden war“. Womit ich den Titel dieses Romans erklärt habe.

Ein Wort zur gelungenen Übersetzung von Tobias Scheffel: Man sollte bitte auf „wegen“ den Genitiv folgen lassen!

Ich empfehle diesen Roman sehr gerne zur Lektüre.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ende der Sebastian Bergmann Krimi Reihe?

Teil sechs der Krimireihe von Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt: „Die Opfer, die man bringt“.

Immer mehr Zeit und Seiten nehmen die Geschichten der Romanfiguren ein. Allen voran, die des Kriminalpsychologen Bergmann, seiner Tochter Vanja, die der Ursula und deren Kollegen Billy. Auch die Geschichte des Chefs der Reichsmordkommission Torkel Höglund nimmt mehr Volumen ein. Das ist alles perfekt inszeniert, die Lesenden kennen ja nun mittlerweile das Personal fünf dicke Bände lang. Es bindet die Lesenden, es führt zum binge reading. Die beiden Autoren wissen, wie man Spannung aufbaut, wie man mit Cliffhangern arbeitet.

Was allerdings zu kurz kommt, ist die Frage nach dem „who done it“. Sie kommt in diesem sechsten Band beinahe zu kurz und interessiert die Lesenden dann gar nicht mehr so sonderlich.

Dann folgt ein besorgniserregender Epilog. Kann es sein, dass diese Serie gar nicht endet? Vielleicht existiert schon Band sieben? Denn offene Fragen, die ich hier nicht einmal formulieren darf, denn dann wäre es Schluss mit der Spannung, gibt es reichlich.

Eine Frage aber stelle ich doch: muss ich diesen Band gelesen haben? Darf ich ihn zur Lektüre empfehlen?

Ich schreib jetzt mal nichts weiter.

Dickens in den Wirren der französischen Revolution

Im Jahre 1859 erscheint der Roman „Eine Geschichte aus zwei Städten“ von Charles Dickens. Im gleichen Jahre erscheinen Gontscharows Oblomow und Turgenjews Adelsnest. Und ich sage es lieber gleich, mit diesen beiden Romanen kann dieser Roman von Dickens nicht mithalten.

Aber sein Beginn verspricht eine große Erzählung: „Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts von uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, dass ihre geräuschvollsten Vertreter im Guten wie im Bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten.“

Der Roman beginnt im Jahre 1875 und wird 1892 ausklingen. Er spielt in London und in Paris.

Die Geschichte, ist konstruiert und kann hier nicht nacherzählt werden. Nur so viel: Eine junge Frau erhält zuerst ihren Vater zurück, der viele Jahre in der Bastille gefangen gehalten wurde; sie wird einen Mann heiraten; sehr glücklich sein und ihren Gatten zu verlieren drohen. Er wird zunächst von ihrem Vater gerettet, erneut verhaftet und nun zweifellos unter der Guillotine seinen Kopf verlieren. Wäre da nicht ein anderer junger Mann, der aus Liebe zu ihr und um der Liebe der beiden Eheleute willen, zu jedem Opfer bereit wäre.

Natürlich ist der Stoff von Dickens sehr kunstfertig komponiert und so liegt dann doch ein großer Roman in der Hand der Lesenden.

Die für Dickens typische Ironie kommt nicht zu kurz, wie die folgenden Zeilen beweisen mögen: „Es sei von Dichtern an verschiedenen Stellen, die, wie er wisse, die Geschworenen auswendig kennten (freilich war auf den Gesichtern der Geschworenen das Schuldbewusstsein ihres gründlichen Nichtwissens zu lesen), ausgesprochen worden, dass die Tugend in gewisser Art eine ansteckende Kraft besitze, …“

Und so ist die Lektüre dieses Romans für alle Freunde der Werke Dickens eine Pflicht und für alle anderen, eine Gelegenheit in die Romanwelt dieses großen Autors einzudringen.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Die Legende vom Fisch und vom Vogel

Es hat seine Zeit gebraucht, diesen Roman zu lesen.

Er handelt von Musik und Physik, von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, von der unfassbaren Gewalt, die Menschen sich zufügen und natürlich von der Liebe.

2003 wurde in den USA der Roman „The Time of our Singing“ von Richard Powers veröffentlicht, ein Jahr später folgte die deutsche Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié unter dem Titel „Der Klang der Zeit“.

Dieser Roman ist die Geschichte einer Familie, er umfasst eine Zeitspanne von etwa siebzig Jahren. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Brüder Jonah und Joseph Strom; die JoJo, wie ihre Mutter sie nennt. Joseph fungiert über weite Strecken als Erzähler der Geschichte. Sein ein Jahr älterer Bruder ist ein Sänger, ein ganz großer. Ein Ausnahmetalent, das seine Eltern fördern; Joseph im Schlepptau als Pianist und notwendigem Gehilfen seines Bruders. Wir verfolgen die Erziehung, zunächst im Hause der Eltern, sie unterrichten die Kinder daheim. Die Mutter ist selbst eine herausragende Sängerin, die allerdings nicht den Sprung an ein Institut schafft, der Vater ist Physiker, der, im Umfeld der aus aller Welt in den USA vor den Nazis Zuflucht suchenden Wissenschaftler, in den Kriegsjahren mit am Bau der Atombombe beteiligt ist.

Das besondere „Problem“ dieser Familie ist, dass Delia, die Mutter, eine Farbige, ihr zukünftiger Gatte ein aus Deutschland stammender weißer Mann jüdischen Glaubens ist. Schon die Heirat durchzusetzen ist ein gewaltiges Problem in den USA des Jahres 1939. Aber, sagt der weiße Mann, sagt David Strom: „Es gibt ein altes jüdisches Sprichwort. Das Sprichwort heißt: ‚Der Vogel und der Fisch können sich verlieben …‘“. Zu dieser Zeit ist die Ehe zwischen den beiden Menschen in zwei Dritteln der Vereinigten Staaten ein Verbrechen.

Die beiden JoJo haben unterschiedlich dunkle Hautfarbe; Jonah wird seinen Bruder ein Leben lang „Muli“ nennen.

Erst langsam dringt der Rassenkonflikt in das Bewusstsein der beiden Jungen. Egal, ob es um die „Little Rock Nine“ geht, wo ein Tausend Fallschirmjäger neun Farbigen den Zugang zu einer Schule freimachen oder um den Lynchmord an einem 14-jährigen Jungen durch weiße Farmer. Viele Jahre später wird der Ehemann der Schwester, Robert, der beiden sterben. Diese Geschichte liest sich, ähnlich der Schilderung des Todes von George Floyd aus dem Jahre 2020. Ruth, die Schwester, erzählt sie Joseph:

„Zwei Polizisten zwangen ihn zum Anhalten. Ein Weißer, ein Latino. Weil sein hinteres Nummernschild ein bisschen schief hing. … Er stieg aus. Er stieg immer aus, wenn die Polizei ihn anhielt. Er wollte auf gleicher Höhe mit ihnen sein. Er stieg aus und wollte ihnen sagen, dass er das mit dem Schild wusste. Aber die wussten längst alles über das Schild. Das kam bei der Verhandlung heraus. Als sie ihn anhielten, hatten sie schon die Anfrage losgeschickt. Die zwei Bullen sahen einen kräftigen, gefährlichen ehemaligen Panther aus dem Auto steigen und auf sie zukommen. Robert hatte seine Brieftasche immer vorn in der Jacke. Sagte, er wolle nicht auf seinem Vermögen sitzen. Er steckte die Hand in die Jacke, um seine Papiere herauszuholen, und die Bullen sprangen hinter ihre Türen in Deckung, Pistolen gezückt, brüllten ‚Keine Bewegung‘. Er zog die Hand heraus, weil er die Hände heben wollte.“ Robert wird nicht erschossen, sondern ein Gummigeschoss zertrümmert seine Kniescheibe; im Krankenhaus wird er operiert und stirbt an den Folgen dieser Operation. „Im Autopsiebericht heißt es, er sei an Komplikationen bei der Narkose gestorben.“

Die beiden Brüder leben in einer anderen Welt; erst als sich ihre Wege trennen, wird Joseph, „ein Opfer seiner Selbstlosigkeit“, in der Gegenwart ankommen. Seine Beziehung zu einer weißen Frau gibt er auf, weil er überzeugt ist, dass sich ein Fisch und ein Vogel zwar ineinander verlieben, aber kein gemeinsames Nest bauen können.

Wie alles weitergeht, wie die Erzählstränge miteinander verbunden werden, kann hier nicht berichtet werden. Ich habe, um Joseph zu zitieren, nur den Grundrhythmus skizzieren können, „auf dem alles andere aufbaute – das was mein Vater früher immer den ‚Klang der Zeit‘ genannt hat“.

Nichts konnte ich darstellen über die Aspekte der Raumzeit, über die Idee der Zeitreisen, die einen Menschen wieder zu einem anderen Menschen zurückführen würde. Doch der Roman versucht dies. Damit hebt er sich heraus und wird zu einem Meisterwerk.

Bei der Lektüre dieses Romans habe ich ganz viele Aufnahmen mit Opernarien, die von bedeutenden Tenören gesungen wurden, als Hintergrundmusik gehört. Auch eine Aufnahme des Hilliard Ensembles kam „zum Einsatz“. Es war mein Soundtrack zu diesem großartigen Roman.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Buchstabe in scharlachrot

Der Inhalt des Romans „Der scharlachrote Buchstabe“ von Nathaniel Hawthorne ist schnell berichtet.

Im Amerika (Neu-England) des 17. Jahrhunderts bekommt Hester Prynne ein Kind. Eine uneheliche Tochter, Pearl. Hester verweigert die Angabe über den Vater des Kindes und wird verurteilt, fürderhin ein Oberteil mit einem roten A für Adultress zu tragen. Hester war verheiratet, der Gatte aber schon einige Zeit verschollen. Als Hester, ihr Baby im Arm, auf der Schandbühne steht, entdeckt sie ihren Ehemann im Publikum, der ihr das Versprechen abnötigt, niemandem von seiner Identität in Kenntnis zu setzen.

Pearls Vater ist einer der Geistlichen des Ortes. Nun entwickelt sich eine „Dreiecksgeschichte“. Der alte Gatte will den Kindsvater aufspüren, Hester kann dem Prediger nicht die wahre Identität des als Arzt tätigen Gatten enthüllen.

Später gibt es im Roman eine Stelle, an der über Hester gesagt wird, dass sie die Not des Geistlichen verstehen würde. „Sie las jetzt besser in seinem Herzen.“

Und im Herzen anderer Menschen lesen zu können, ist ein nicht unwesentlicher Teil der Kunstfertigkeit des Autors. Eine psychologische Studie in Scharlachrot.

Der Gatte, der den Untergang des Predigers, als Freund getarnt, betreibt, ist ebenso wenig nur schlecht, wie der Gottesmann eine bigotte Figur ist.

„Man muss zur Ehre der menschlichen Natur sagen, dass sie, mit Ausnahme der Fälle, wo ihre Selbstsucht ins Spiel kommt, eher liebt als hasst.“, schreibt Hawthorne und so sind seine Charaktere eben vielschichtig angelegt. Er schreibt aber auch: „Es gibt wenige hässlichere Züge der menschlichen Natur als diese Neigung, grausam zu werden, nur deswegen, weil man die Macht hat, Schaden zuzufügen.“ Der Roman entstand in den Jahren 1849/50. Unser Autor hatte tiefe Einblicke in die menschliche Seele.

Seine Botschaft lautet: „Die Zukunft ist noch voller Versuche und Erfolge. Es gibt Glück, das du genießen, Gutes, das du tun kannst! Vertausche dein falsches Leben mit einem wahren.“

Anlässlich der Amtseinführung eines neuen Gouverneurs wird der Geistliche eine große Predigt halten, es wird seine letzte sein. Über die Amtseinführung lesen wir: „… denn heute fängt ein neuer Mann an, über sie zu regieren, und so freuen sie sich und jubeln jedesmal seit unvordenklichen Zeiten, als ob die arme alte Welt endlich ein gutes goldenes Jahr erleben sollte.“

Auch im Roman findet sich eine Schilderung, wie der Geistliche, Arthur Dimmesdale, vor einem geöffneten Folianten entschlummert: „Das Werk musste ein Beispiel hohen Talentes in der einschläfernden Schule der Literatur sein.“

Ich versichere hiermit allen Lesenden, dass dieser Roman nicht in diese Kategorie fällt.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Auf Dostojewskis Spuren

Am 9. Februar 1881 starb Fjodor Dostojewski in Petersburg, dem späteren Leningrad und heutigen St. Petersburg.

Der Arzt und Schriftsteller Leonid Zypkin hat über den Tod des großen russischen Literaten ein Buch geschrieben, einen Roman. In diesem Werk, „Ein Sommer in Baden-Baden“, verwebt der Autor einen Teil des Lebens von Dostojewski mit seinem eigenen Leben.

Während Dostojewski 1867 mit seiner jungen zweiten Frau Anna Grigorjewna von Petersburg mit dem Zug über Moskau ins Ausland reist, fährt Zypkin Jahre nach dem zweiten Weltkrieg von Moskau nach Leningrad. Dort besucht er die Freundin seiner Mutter und wird Stationen seines Idols und einiger Romanfiguren in der Stadt aufsuchen. Er fotografiert die Häuser, die er zu einem St. Petersburg Album zusammenfassen wird. Höhepunkt der Ortsbesichtigung wird das Dostojewski Museum sein, in dem Haus befand sich des Dichters letzte Wohnung auf Erden, hier auf einem Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer unter dem Foto der Sixtinischen Madonna lässt er seinen toten Körper zurück.

Rafaels Madonna haben die Eheleute Dostojewski in der Gemäldegalerie Dresden besichtigt. Der kleine Dostojewski steigt auf einen Museumsstuhl, um das von einer Besucherschar umringte Gemälde sehen zu können. Man wird ihn sehr schnell von diesem Stuhl herunterbitten. Die hier nur angedeutete Szene zeigt, wie der unsichere, stets in Geldsorgen befindliche Mann, mit seiner Umgebung ringt. Da sind die vermeintlich viel berühmteren Dichterkollegen Turgenjew oder Gonscharow. Da sind die Schulden seines verstorbenen Bruders und so zieht das junge Paar einen längeren Auslandsaufenthalt vor.

Da ist schließlich Baden-Baden, das Spielcasino. Die Sucht, spielen zu müssen, den erzielten Gewinn noch einmal zu setzen, um „richtig“ reich zu Anja, wie er Anna nennt, zurückzukehren. Doch „Zero“ kommt nicht, das Geld ist futsch. Man muss die wenigen Habseligkeiten versetzen. Die Reise hat sowieso seine Schwiegermutter finanziert. Mit frischem Geld geht es zurück ins Casino und so weiter und so weiter.

Zypkin fragt sich auch, warum Dostojewski ein Antisemit war, er fragt sich wahrscheinlich auch, warum er, der Jude Zypkin, diesen Antisemiten dennoch so verehren (lieben – siehe unten, wenn ich zum Originaltitel des Romans komme) konnte.

Das alles erzählt Zypkin, ohne Atem zu schöpfen. Punkte oder Absätze kommen in diesem Roman so selten vor, wie die Null beim Roulette. Mit einem Gedankenstrich wechselt die Erzählebene von Dostojewski zu Zypkin und später wieder zurück.

Und die Lesenden machen diese Wechsel mühelos mit, die Erzählung ist viel zu aufgeladen, um das Buch zur Seite zu legen. Übrigens: ich beendete die Lektüre des Romans zufälligerweise gerade am 9. Februar 2021.

Zypkin hat nie etwas veröffentlicht, von den rühmenden Kritiken, beispielsweise derjenigen Susan Sontags, hat er nichts mitbekommen. Ich empfehle, ihr Vorwort erst nach beendeter Lektüre des Romans zu lesen.

Schön, dass uns Lesenden dieser Roman nun in der Übersetzung von Alfred Frank zugänglich ist.

Ein Wort zum Titel der deutschen Fassung des Romans, der im Original „Ljubit‘ Dostoevskogo“ heißt, also „Dostojewski lieben“. Zypkin muss seinen Schriftstellerkollegen tatsächlich sehr verehrt, ja vielleicht sogar geliebt haben. Anja liebte ihren Mann mit Sicherheit. Der deutsche Titel soll wohl mehr Lesende ansprechen, dabei war es Zypkin ziemlich egal, ob Baden-Baden nun näher am Schwarzwald oder näher an Thüringen lag. Aber von solchen „Kleinigkeiten“ wird die Leselust und -freude an diesem Roman nicht beeinträchtigt!

Natürlich macht der Roman Lust, wieder zu den Werken Dostojewskis zu greifen, natürlich reizt er, nach St. Petersburg zu reisen, natürlich weckt er das Verlangen mehr von Leonid Zypkin zu lesen.

Die Lektüre dieses Romans kann ich uneingeschränkt empfehlen!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Eine Kurbadgeschichte

Dieser Tage hätte Thomas Bernhard seinen 90. Geburtstag gefeiert. Falls der Autor sich überhaupt über etwas hätte freuen können, wäre es vielleicht der Roman „Bad Regina“ von David Schalko gewesen.

Zumindest zieht er im schönsten „Bernhardgehabe“ über Österreich und die dort Sesshaften her.

„Wenn das Provinzielle wahnsinnig wird, heißt das Österreich!“

„Dem Österreicher fehlt ein Gen. Er hat kein Unrechtsbewusstsein. Es handelt sich um einen von Grund auf verdorbenen Menschen. Für den Österreicher kann überhaupt nie die Unschuldsvermutung gelten. Man muss beim Österreicher immer davon ausgehen, dass er schuldig ist.“ Oder an anderer früherer Stelle: „In Österreich ist alles vermodert. Selbst der Humor. Der ja keiner ist. Selbst der viel gerühmte Humor ist nichts als Verdunkelung.“

Und das letzte Zitat als Beleg für das Nacheifern des Alpengrantlers Bernhard: „Wie jede unaufgeklärte Gesellschaft sei auch die österreichische eine einzige Glaubensgemeinschaft. Wenn es darum gehe, an etwas oder jemanden zu glauben, sei der Österreicher stets als Erster zur Stelle. Nicht zuletzt deshalb sei der Österreicher der herausragendste Nationalsozialist, der herausragendste Katholik, der herausragendste Monarchist, aber auch der herausragendste Sozialist gewesen. Solange es einen Heiland gebe, vor dem sich der Österreicher in den Staub werfen könne, sei er ein durch und durch glaubensbesessener Mensch und damit durch und durch unaufgeklärt.“

Liest man diese Auszüge, könnte man der Meinung sein, der Roman müsste „Österreichbeschimpfung“ heißen. Er trägt aber den Titel eines fiktiven österreichischen Kurbads durchaus aus gutem Grund. Der Ort leidet an Einwohnerschwund. Die Anlagen, die großen Hotels, all das, was ein Bad ausmacht sind heruntergekommen. Gäste kommen so gut wie keine mehr und die Bahnstation sieht im Wesentlichen die Züge nur Durchrauschen.

Der Chinese Chen kauft zu guten Preisen alle Häuser auf und so leben nur noch knapp fünfzig Menschen in dem Ort. Ganz unterschiedliche Gründe halten sie in dem Ort fest und doch fürchten sie, dass weitere den Lockungen Chens nicht widerstehen werden. Es muss etwas geschehen, man muss sich wehren. Und an einer Stelle lesen wir: „Der Weg in die Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.“

Aber haben alle in diesem Roman gute Absichten?

Die Geschichte dehnt sich an einigen Stellen und die Lesenden würden dann gern, wie einer der Protagonisten, „im Bier verschwinden“. Man fragt sich, wie will der Autor die vielen Fäden zusammenbinden, den Mord, der geschieht, aufklären und vor allem glaubhaft das Rätsel um den Ausverkauf des Dorfes erklären. Denn dem Lesenden geht es zumindest an einigen, wenigen Stellen, wie dem schon zitierten Protagonisten: „Er fühlte sich erschöpft. Von Worten erstickt.“

Und so nimmt David Schalko eine Anleihe bei Friedrich Dürrenmatt, um zu einem Ende zu gelangen, aber mehr verrate ich hier natürlich nicht.

Trotz einiger Einschränkungen empfehle ich die Lektüre, auch wenn der Roman nicht, wie der Klappentext verspricht, „eine … Allegorie auf einen sterbenden Kontinent“ ist.

Die schönsten Sätze habe ich mir für den Schluss aufgehoben: „In der Kargheit liegt die Dankbarkeit. Im Ziergarten der Hochmut.“

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Eine Kurzgeschichte

Ich fand den schmalen Band in meinem Bücherregal, las den kurzen Klappentext und verschlang die Erzählung.

Im Text finden die Lesenden einen Satz, der sich auf einen fiktiven Roman des Helden der Geschichte bezieht, der allerdings vorgibt, dass diese von einem anderen Autor stamme und er nur derjenige sei, der den Roman abzuschreiben habe.

„In Bonsai passiert praktisch nichts, die Handlung reicht für eine zweiseitige Erzählung, womöglich nicht mal eine gute.“

Der Autor dieses fiktiven Romans trifft sich mit dem Helden dieser Geschichte, Julio, in einem Café, um sich ein Bild von demjenigen zu machen, der seinen Roman abschreiben soll. Und er fragt Julio: „Du schreibst Romane, diese Romane mit den kurzen Kapiteln, vierzig Seiten lang, die gerade in Mode sind?“

Julio bekommt den Job nicht, seine Preisvorstellung war dem Schriftsteller schlicht zu hoch. Nun verfasst er einen Roman, eben „Bonsai“.

Die Geschichte, die wir lesen, handelt von Emilia und Julio. Die kurze Geschichte einer Beziehung. Sie wird wenige Jahre später bereits tot sein, er bleibt am Leben.

„In Emilias und Julios Geschichte wird aber mehr verschwiegen als gelogen und weniger verschwiegen als die Wahrheit gesagt, Wahrheiten von denen, die man grundlegend nennt und die gewöhnlich unbequem sind.“

Diese Erzählung wurde im Jahre 2006 in Chile veröffentlicht, sie erschien im Suhrkamp Verlag 2015 in der Übersetzung von Susanne Lange. Ein einziger Vorwurf an den Verlag: Eine großzügig gedruckte, knapp siebzigseitige Veröffentlichung sollte man nicht als Roman bezeichnen.

Diese Erzählung ist allerdings dem Autor meisterhaft gelungen, sein Debut als Schriftsteller übrigens. Der Autor ist Alejandro Zambra!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

Ein Schwedenkrimi der etwas anderen Art

Der Roman „1793“ des schwedischen Autors Niklas Natt och Dag spielt genau in dem Titeljahr. Vier Kapitel nach den Jahreszeiten geordnet hat der Roman; allerdings ist die Reihenfolge der Jahreszeiten hier die folgende: Herbst, Sommer, Frühling und schließlich Winter. Die beiden Protagonisten könnten unterschiedlicher kaum sein. Der Jurist Winge, schwindsüchtig, vom Tode bereits gezeichnet, mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet und der „Stadtangestellte“ Cardell, Kriegsveteran, einarmig, dem Alkohol sehr zugetan.

Dieses Paar klärt den Mord an einem Mann auf, der verstümmelt in einem Teich gefunden wurde.

Der Roman zeichnet sich durch schnelle Schnitte aus. Eben noch verfolgen die beiden eine Spur, stoßen auf eine andere, dann ein Cliffhanger und schon befinden die Lesenden sich an einem anderen Ort. Das Puzzle wird vor den Lesenden geschickt zusammengesetzt.

Die Zweifel, die mich zwischendrin beschlichen, schließlich ist Lesezeit auch immer Lebenszeit, heben sich dann wieder auf und am Ende fügt sich alles zusammen.

Ein weiterer Fall ist auch schon publiziert, der den Titel „1794“ trägt.

Aber dessen Lektüre kann warten. Es warten viele andere, wichtigere Werke auf den Lesenden.

Jeder, der allerdings einmal bei einem Kriminalroman, der etwas anderen Art, Entspannung erwartet, wird von diesem Roman nicht enttäuscht.

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

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