Wieder einmal war das Vergnügen ganz auf meiner Seite. Wieder einmal hatte ich eines der Bücher aus dem Regal genommen, das schon sehr lange meiner Lektüre harrte, fast vierzig Jahre. Der Berliner Schriftsteller Dieter Hildebrandt, nein, nicht der Kabarettist, sondern der frühere Lektor bei Suhrkamp, der im hohen Alter jetzt im Spessart lebt, hat „Die Leute vom Kurfürstendamm. Roman einer Straße“ in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben. Und um das Gesamturteil vorwegzunehmen: Es ist ein großartiger Roman!

Er beginnt mit einem Paukenschlag und steigert sich kontinuierlich. Er beginnt mit der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser in Versailles. Er beschreibt diesen Schacher um die Proklamation und die Rolle des Kanzlers Bismarck. Bismarck, der die Idee der Kolonie Grunewald hat und der der Vater des Kurfürstendamms ist.

In den weiteren Kapiteln lernen wir Menschen kennen, die mit dem Aufbau der Straße verknüpft sind. Diese Menschen sind fiktiv, ihre Geschichten lehnen sich an historische Begebenheiten und teilweise noch heute bekannte Menschen an.

Die Menschen beziehungsweise deren Nachkommen begleiten uns durch mehr als ein Jahrhundert Kurfürstendamm-Geschichte.

Der Roman ist bis in die Spitzen fein ausgearbeitet; er ist ein pures Lesevergnügen. Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg wird unter anderem so knapp wie zutreffend charakterisiert: „…das Etikett ersetzt die Etikette …“.

Der Autor spielt mit der Sprache und fordert die Lesenden zum Mitdenken auf. Etwa wenn es um den Namen eines „feinen Restaurants“ geht: „ ‘Palais du Palais‘ war das Wort, und wer nicht wusste, dass es sich um ein Bonmot handelte, da Palais eben auch Gaumen hieß, der mochte sich ungekänkt mit einem doppelten Palast abfinden.“

Das Jahr 1888, das sogenannte „drei Kaiser Jahr“ und was daraus folgte beschreibt Hildebrandt in einer Unterüberschrift: „Kaiser, Krebs und Katastrophe“.

Der Antisemitismus wird am Beispiel eines vermögenden Bankiers, der finanziell ins Straucheln gerät, so zusammengefasst: „Und als Jude kauft man sich keine Rittergüter und Schlösser und Gestüte-…“.

Hier und da eine zarte erotische Andeutung: „…ach Scham! Du zweideutiges, doppellippiges Wort!“

Die aufkommenden Nazis werden in Zusammenhang mit einem damals bekannten Magier wie folgt dargestellt: „Sie aktivieren den okkultistischen Komplex eines ganzen Volkes für ihre Politik.“ Und der Lesende denkt sich, ja, das trifft auf diese heutigen Neonazis in gewisser Weise auch wieder zu!

Und der Autor spricht dem Rezensenten aus der Seele, wenn er feststellt: „Der Untergang begann, als zum ersten Mal dieser scheußliche Name Kudamm aufkam, manche schreiben sogar Kuhdamm oder Qdamm.“

Ein großartiger Lesestoff, dem ich heute viele Lesende wünsche!

Am Ende zitiere ich Hildebrandt noch einmal, der Alfred de Musset zitiert: „En te perdant, je sens que je t’aimais“

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