Wie bist du auf die Idee gekommen „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“ von Fernando Pessoa zu lesen?
Ich habe bei der Lektüre anderer Romane Hinweise auf diesen Autor gefunden. Ich bin immer auf Autoren aufmerksam gemacht worden, die mir vorher unbekannt waren. Nur ein Beispiel: Bei Claudio Magris fand ich den Hinweis auf den großartigen Roman „Small World“ von David Lodge.
Okay. Was hat dich denn nun an Pessoas Roman besonders beeindruckt? Die Handlung? Die Sprache?
Es gibt streng genommen keine Handlung im üblichen literarischen Sinne. Der Hilfsbuchhalter geht zur Arbeit, geht Essen und in sein möbliertes Zimmer zum Schlafen. Die Sprache ist grandios. Die Gedanken sind geschliffene Edelsteine.
Aber? Ich höre doch ein Aber heraus?
Ich möchte mit einigen Zitaten aus dem Buch antworten. Beispiel eins: …Roman ohne Handlung… – Dieses Buch ist eine einzige Wehklage. – … dessen Bücher so ermüdend sind wie ein Treppenhaus ohne Aufzug … – Ich lebte äußerlich, und mein Anzug war sauber und neu. Was kann einer mehr verlangen, der an der Hand seiner Mutter geht, sterben muss und es nicht weiß?
Das klingt sehr depressiv, wenig erheiternd. Gibt es denn auch „helle“ Momente in dieser Prosa?
Vielleicht Beispiel zwei? „Es ist so schwer zu beschreiben, was man fühlt, wenn man fühlt, dass man wirklich existiert und die Seele eine wirkliche Wesenheit ist; ich weiß nicht, welche menschlichen Worte dies überhaupt könnten.“
Nun ja, ist das schon ein heller Moment dieser Prosa?
Vielleicht mein Beispiel drei? „Ein leidenschaftsloses, kultiviertes Leben leben, im Freien der Ideen, lesend, träumend und ans Schreiben denkend, ein Leben, so hinlänglich langsam, dass es stets dem Überdruss nahe kommt, doch hinreichend überlegt, um ihm nicht zu nahe zu kommen.“
Ich finde das, was du mir hier präsentierst alles sehr wenig aufmunternd. Gibt es nicht etwas, an dem sich die Lesenden orientieren könnten?
„Man kann einen Kuchen nicht essen und gleichzeitig bewahren.“
Der Satz erheitert mich auch nicht gerade.
„Die Schönheit eines nackten Körpers wissen nur Kulturen zu würdigen, in denen man Kleider trägt.“
Na, vielen Dank. Soll das heißen, dass ich intellektuell diesem Werk nicht gewachsen bin?
„Einem überlegen intelligenten Menschen bleibt heute nur noch der Weg des Verzichts.“
Des Verzichts auf diese Lektüre? Gibt es nicht wenigstens etwas über die Liebe, was die Lektüre dieses Buches rechtfertigen würde?
Erstens: „Wir lieben niemanden, nie. Wir lieben allein die Vorstellung, die wir von jemandem haben. Unsere eigene Idee – uns selbst also – lieben wir.“ Und zweitens: „Für den Ästheten einzig wegen der Empfindungen, die solches bei ihm auslöst, von Interesse. Weiterzugehen hieße den Bereich von Eifersucht, Leid und Erregung betreten. In diesem Vorzimmer der Gefühle findet man die ganze Süße der Liebe ohne ihre Tiefe – einen leichten Genuss mithin, ein vages Aroma von Wünschen…“
Warum also, sollte ich das Buch lesen?
„Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren.“
Geht es auch ohne Ironie?
„Die Ironie ist das erste Anzeichen dafür, dass unser Bewusstsein bewusst geworden ist und zwei Stadien durchläuft: das durch Sokrates geprägte Stadium, als es sagte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, und das durch Sanches geprägte Stadium, als es sagte: „Ich weiß nicht einmal, ob ich nichts weiß.““
Das klingt sehr selbstgefällig!
„Im heutigen Leben gehört die Welt einzig den Dummen, den Selbstgefälligen und den Umtriebigen. Das Recht, zu leben und zu triumphieren, erwirbt man heute mehr oder minder mit den gleichen Mitteln, mit denen man die Einweisung in ein Irrenhaus erreicht: die Unfähigkeit zu denken, die Unmoral und die Übererregtheit.“
Ich wiederhole meine Frage nach der Liebe in diesem Buch?
„Wie ermüdend, geliebt zu werden, wahrhaft geliebt zu werden!“ –
„Mir bleibt nur ein Gefühl der Dankbarkeit dem Menschen gegenüber, der mich liebte. Doch ist es eine abstrakte, erstaunte Dankbarkeit, mehr rationaler als emotionaler Art. Es tut mir leid, dass ich jemanden habe leiden lassen – es tut mir leid, nicht mehr und nicht weniger.“
Also alles nur ein Traum?
„Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.“
Alles nur ein unbewusstes Dasein?
„Sich der Unbewusstheit des Lebens bewusst sein ist der älteste Tribut an die Intelligenz.“
Vielen Dank für das Gespräch!