Julian Barnes hat über viele Jahre Artikel für Zeitschriften über Künstler und deren Kunst geschrieben. Sie sind in einem Band, hervorragend ins Deutsche übersetzt (Gertraude Krueger und Thomas Bodmer), unter dem Titel „Kunst sehen“ veröffentlicht.

Den Auftakt macht ein literarisches Meisterwerk, das in seinem Buch „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ enthalten ist und mich vor geraumer Zeit bereits begeisterte (Géricault: Le Radeau de la Méduse).

Barnes schreibt über viele französische Maler, insbesondere des Impressionismus, und der sich anschließenden Strömungen. Er „feiert“ am Ende dieses Buches dann auch zwei Briten, auch wenn ich finde, dass diese in diese Sammlung der großen Meister des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht hineinpassen.

Er schreibt über Courbet, allerdings ohne dessen Bild „L’Origine du monde“ zu erwähnen. Er schildert verdienstvoller Weise das Leben und Werk von Berthe Morisot, die man vielleicht eher als Modell von Manet (B. M. mit Veilchenstrauß) kennt. Diese Schilderung macht Appetit auf mehr von dieser großen Impressionistin auf deren Totenschein sie als „ohne Beruf“ gekennzeichnet wurde. Die Lektüre dieses sehr gelungenen Buches ist allerdings nur möglich, wenn man sich immer wieder die Bilder der besprochenen Künstler:innen im Netz anschaut. Das Buch enthält zwar eine große Auswahl an Abbildungen der Gemälde, aber bei weitem nicht aller angesprochenen Kunstwerke.

In seinem Aufsatz über Edgar Degas zitiert Barnes Jules Renard mit einem grandiosen Satz über die Malerei: „Wenn ich vor einem Bild stehe, spricht es besser als ich.“ Und Barnes fährt fort: „Diese Bemerkung sollte uns eine Mahnung sein, denn meistens lassen wir, wenn wir vor einem Bild stehen, das Bild gar nicht zu Wort kommen. Wir reden auf das Bild ein, wir reden zu ihm, über es; wir wollen es mit aller Gewalt verstehen, einschätzen, vereinnahmen, uns mit ihm ‚befreunden‘. Wir vergleichen es mit anderen Bildern, an die es uns erinnert; wir lesen das Schild an der Wand, bestätigen, dass es sich z. B. um Pastell auf Monotypie handelt, und schauen nach, im Besitz welches Plutokraten es sich befindet. Doch wenn wir nicht ausgesprochen gut geschult sind, reicht unser Wissen höchstens zu einem groben Verständnis dafür, wie sich das Bild in die Geschichte der Malerei einordnen lässt (denn einordnen lässt es sich immer, wenn auch negativ). Stattdessen überschütten wir es mit Worten und gehen weiter.“

Die Lektüre dieses Buches lehrt mich, dass es „in den 1870er-Jahren Frauen unter keinen Umständen erlaubt war, in der Pariser Opéra im orchestre zu sitzen. Sie konnten im parterre, also den hinteren Reihen des Parketts sitzen, sofern sie einen männlichen Begleiter hatten. Eine unbegleitete Frau durfte nur eine matinée besuchen.“ Das ist der Grund, weshalb Mary Cassatt ihr Gemälde „In the Loge“ malte und nicht das Geschehen auf der Bühne (sie stellt das in dem Bild gar nicht dar) aus dem Parkett wiedergab.

Dieses Buch von Julian Barnes bringt uns aber nicht nur Maler:innen näher, sondern auch scharfe Beobachter: neben anderen die Goncourts und Huysman. Großartige Zitate, die durchaus den Tatbestand der Beleidigung erfüllen, zeigen, dass Kunstkritik zur damaligen Zeit nicht zimperlich war. „Der Salon von 1879 war ‚ein Haufen hirnrissigen Unsinns‘: Von seinen 3040 Bildern waren ‚keine hundert sehenswert‘ und die übrigen 2940 ‚auf jeden Fall schlechter als die Werbeplakate an den Mauern unserer Straßen und den Pissoirs unserer Boulevards‘“ (Huysman).

Ein Kapitel befasst sich mit zwei russischen Sammlern vor dem ersten Weltkrieg und deren gewaltige Sammlungen. Barnes schildert das „Schicksal“ der Sammlungen bis in die jüngste Vergangenheit. Da lese ich dann: „Und 2016 kehrte dann eine weitere Auswahl ‚absoluter Spitzenwerke‘ aus Schtschukins Kollektion in die neu eröffnete Fondation Louis Vuitton zurück. Das sollte auch ein Beitrag zur Normalisierung der Beziehungen zu Russland sein: Der Ausstellungskatalog wurde von warmherzigen Bekundungen französisch-russischer Eintracht der Präsidenten Hollande und Putin eingeleitet. Als die Ausstellung eröffnet wurde, klangen diese Erklärungen schon ziemlich hohl. Putin hatte seltsamerweise an Präsident Hollandes Vorschlag, ihn wegen Kriegsverbrechen anzuklagen, Anstoß genommen und seine Reise nach Paris abgesagt …“

Am Ende dieses grandiosen Buches, im Aufsatz über Howard Hodgkin finde ich den Satz: „Kunst entsteht aus der Spannung zwischen Liebe und Furcht.“

Über diesen Satz, aber auch über viele andere, die sich in diesem Buch befinden, muss ich nachdenken.

Was für ein großartiges Buch!

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