Für A.
Das Buch liegt schon einige Zeit auf meinem Stapel, ich hatte es geschenkt bekommen. Immer wieder zog ich ein anderes Buch ihm vor, weil ich wohl ahnte, dass es keine leichte Lektüre werden würde. Swetlana Alexijewitsch schrieb „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ in der Zeit zwischen 1986 und 2005.
2015 erhielt Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“. Die Vielstimmigkeit in ihrem Werk erzeugt sie insbesondere durch ihren literarischen Stil, in der Form einer Zusammenfassung individueller Stimmen als Collage des alltäglichen Lebens.
Beim Thema der Beschreibung der Katastrophe von Tschernobyl führt dies zwangsläufig zu ständigen Wiederholungen. Es sind die gleichen Bilder, die ihre Gesprächspartner:innen zeichnen. Häufig nahezu identische Formulierungen. Das macht die Lektüre so schmerzlich, weil immer wieder vom raschen Tod der „Helden“ von Tschernobyl die Rede ist.
Sie fragt sich: „Was dokumentiere ich da – die Vergangenheit oder die Zukunft?“
Ist es eine Chronik der Zukunft, die entsteht? Es ist eher eine Chronik für die Zukunft: „Am interessantesten waren an diesen Tagen nicht Gespräche mit Wissenschaftlern, Beamten oder ranghohen Militärs, sondern mit alten Bauern. Sie leben ohne Tolstoi und Dostojewski, ohne Internet, doch ihr Bewusstsein hat das neue Weltbild auf eigene Weise aufgenommen. Ist nicht zusammengebrochen. Vermutlich wären wir eher mit einer atomaren Kriegssituation wie in Hiroshima fertig geworden, darauf waren wir vorbereitet. Aber die Katastrophe geschah in einem nicht-militärischen Atomobjekt, und wir waren doch Kinder unserer Zeit und glaubten, wie wir es gelernt hatten, die sowjetischen Atomkraftwerke wären die sichersten der Welt, so sicher, dass man sie sogar auf den Roten Platz stellen könne. Das kriegerische Atom, das waren Hiroshima und Nagasaki, das friedliche Atom dagegen war die Glühbirne in jedem Haushalt. Niemand ahnte, dass das kriegerische und das friedliche Atom Zwillinge sind. Komplizen. Inzwischen sind wir klüger, die ganze Welt ist klüger geworden, aber erst nach Tschernobyl. Die Weißrussen sind heute lebendige „Blackboxes“: Sie zeichnen Informationen für die Zukunft auf. Für alle.“
Sie zeichnet Einzelschicksale auf, aber sie weiß: „Schicksal ist das Leben des einzelnen, Geschichte – das Leben von uns allen.“
Es gibt anrührende und es gibt sehr berührende Schilderungen, trotz oder gerade wegen der bereits erwähnten Redundanz. So berichtet ihr ein Imker: „Eine weitere Erinnerung … Ein alter Imker erzählte mir (später hörte ich ähnliches auch von anderen): ‚Ich komme am Morgen in den Garten, und irgendwas fehlt, ein vertrautes Geräusch. Keine einzige Biene … Keine einzige Biene war zu hören! Keine einzige! Was war das? Was war los? Auch am nächsten Tag flogen sie nicht aus. Und am übernächsten. Hinterher erfuhren wir von der Havarie im Atomkraftwerk, und das ist ganz in der Nähe. Aber lange wussten wir nichts. Die Bienen wussten Bescheid, aber wir nicht.‘“
Sie weiß auch, dass Erinnerungen immer schon in einer bestimmten Art und Weise gefiltert sind: „Dabei sind doch Erinnerungen eine brüchige, vergängliche Angelegenheit, kein präzises Wissen, sondern eine Ahnung des Menschen von sich selbst. Das ist noch kein Wissen, das sind nur Gefühle.“
Was wir wissen, sagen ihr Experten, die man 1986 nicht zu Wort hat kommen lassen: „Auf unserer Erde lagerten bereits Tausende Tonnen Cäsium, Jod, Blei, Zirkonium, Cadmium, Beryllium, Bor, eine unbekannte Menge Plutonium (in den Uran-Graphit-RBMK-Kraftwerken des Tschernobyl-Typs wurde waffenfähiges Plutonium hergestellt, mit dem Atombomben produziert werden), insgesamt 450 Typen Radionuklide. Ihre Menge entsprach 350 Bomben, die auf Hiroshima abgeworfen wurden. Man musste über Physik sprechen. Über die Gesetze der Physik. Aber man sprach über Feinde. Man suchte Feinde.“
Wie erklären sich die Menschen nach der Katastrophe das Verhalten der obersten Führung der Sowjetunion? Gorbatschow war gerade ein Jahr im Amt des Generalsekretärs. Glasnost war noch nicht auf der Agenda. „Denn in der Geschichte wird das für immer zusammenhängen – Zusammenbruch des Sozialismus und die Katastrophe von Tschernobyl.“ – „Tschernobyl ist vor dem Hintergrund eines unvorbereiteten Bewusstseins und eines absoluten Glaubens an die Technik explodiert.“ – „Wir hatten eine Heimat, die gibt es nicht mehr. Was bin ich? Meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater Russe. Ich bin in Kirgisien geboren und aufgewachsen und habe einen Tataren geheiratet. Was sind meine Kinder? Welche Nationalität haben sie? Wir haben uns doch alle vermischt, unser Blut hat sich gemischt. Im Ausweis steht bei mir und den Kindern: Russen, aber wir sind keine Russen. Wir sind sowjetisch! Aber das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr.“
Alexijewitsch lässt auch diejenigen zu Wort kommen, die das alles irgendwie schon wussten: „Schlagen wir die heiligen Seiten auf … Die Offenbarung des Johannes: ‚Und der dritte Engel posaunte: und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut; und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie waren so bitter geworden.‘
Ich erkenne diese Prophezeiung … Alles wurde vorhergesagt, es steht in den heiligen Büchern, aber wir können nicht lesen. Nicht verstehen. Wermut heißt auf Ukrainisch ‚tschernobyl‘. Die Worte waren ein Zeichen. Aber der Mensch ist hektisch … Eitel … Und klein…“
Sie gibt auch denjenigen Raum, die von ihren ersten Protesterfahrungen berichten: „Am nächsten Tag wurden wir, die Organisatoren der Demonstration, zur Miliz vorgeladen und bestraft, weil die vieltausend-köpfige Menge den Prospekt blockiert und den öffentlichen Nahverkehr behindert habe. Und wegen des Mitführens nicht genehmigter Transparente. Jeder von uns bekam 15 Tage wegen ‚böswilliger Störung der öffentlichen Ordnung‘. Der Richter, der das Urteil sprach, und die Milizionäre, die uns in die Zelle brachten, schämten sich. Sie alle schämten sich. Wir aber lachten … Ja … Ja! Denn wir waren glücklich …“
Nur, wenn sie Menschen zu Wort kommen lässt, die Licht am Ende des Tunnels zu sehen glauben, muss der Rezensent mit dem Abstand vom Geschehen widersprechen: „Nicht nur wir, nein, die ganze Menschheit ist nach Tschernobyl klüger geworden … Erwachsener. Reifer.“
Tschernobyl ist eine traurige Geschichte, die von der Hybris der Menschen handelt und deren Ende wir nicht kennen. Gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine heutzutage.
Und so hat einer der von Swetlana Alexijewitsch Befragten durchaus zutreffend formuliert: „Aber Tschernobyl… Das ist ‚Tschernaja byl‘ _ ‚Schwarze Geschichte‘ … Andere Farben gibt es nicht.“