W. G. Sebald schildert in dem Band „Die Ausgewanderten“ das Schicksal von vier Menschen, die aus Deutschland ausgewandert sind. In den vier langen Erzählungen, wie er sein Werk im Untertitel nennt, beleuchtet er das Leben von Menschen jüdischen Glaubens, die in England oder den USA sich zurechtfinden mussten.
Der Arzt, dem es in einer Beziehung zunächst sehr gut ging. Dann aber lebt man sich auseinander. War es „das Geld oder das schließlich doch entdeckte Geheimnis meiner Abstammung oder einfach das Wenigerwerden der Liebe“? Als er für einige Zeit der Vermieter der Seebalds wird, hatte er seine Praxis bereits aufgegeben und sich zurückgezogen. „Seither habe ich in den Pflanzen und in den Tieren fast meine einzige Ansprache.“
Seebalds Grundschullehrer wurde von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen. Er wird sich viele Jahre später das Leben nehmen, weil er das Gefühl hatte, nicht mehr dazuzugehören. Über die dritte Geschichte, die eines Verwandten in den USA, will ich hier nichts weiter erzählen, außer dass auch diese Geschichte von der überragenden erzählerischen Meisterschaft des Autor Zeugnis ablegt.
In der vierten Geschichte greift er den Lebensweg des Malers Max Ferber auf. Seebald bekommt von ihm eine Lebensaufzeichnung von Ferbers Mutter in die Hand. Hierin berichtet die Mutter von ihren Kinder- und Jugendjahren, von ihren Liebschaften. Sie zeichnet das Leben einer deutschen Jüdin auf. Das ist großartige Literatur. In einem kleinen Absatz berichtet sie von einem Ausflug mit „ihrem“ Fritz am Ortsrand von Bad Kissingen. Sie holen zwei sehr vornehme russischen Herren ein, „von denen der eine, der ein besonders majestätisches Ansehen hatte, gerade ein ernstes Wort sprach mit einem vielleicht zehnjährigen Knaben, der, mit der Schmetterlingsjagd beschäftigt, so weit zurückgeblieben war, dass man auf ihn hatte warten müssen“. Es ist eine der kleinen Geschichten, die der Autor so mühelos in den Text hineinwebt. Der kleine Schmetterlingsjäger ist Vladimir Nabokov.
Und mutlos und geradezu deprimiert lese ich Sätze, die die Enttäuschung des Autors über die Haltung der Deutschen in Bezug auf die „jüngste deutsche Geschichte“ zum Inhalt haben: „spürte ich doch in zunehmendem Maß, dass die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugreifen begann“.
Dieses Buch ist ein Meisterwerk!
