Ich bin die sogenannte autofiktionale Literatur leid. Da wird über die schlimme Jugendzeit der Autor:innen berichtet oder über deren Tagesverrichtungen. Ich bin es auch leid, dass eine „Short List“ für den Deutschen Buchpreis heute ganz offensichtlich gewissen selbst auferlegten Zwängen folgen muss: etwas Autofiktionalität, etwas Herkunft und Identität und natürlich auch noch die Diversität nicht zu vergessen. Dann bleiben schon einmal hoch spannende und literarisch eindrucksvolle Werke außen vor. Damit ich nicht missverstanden werde: ich möchte eine Ausgewogenheit in aller literarischen Vielheit und keinen aufoktroyierten, aber politisch korrekten Kanon.

Warum schreibe ich das mir gerade von der Seele?

Weil ich einen sehr unterhaltsamen Roman gelesen habe, der mich zutiefst berührt hat. Er stellt ein Sittengemälde einer längst vergangenen Zeit dar und unterhielt mich gleichsam auf hohem Niveau. Der Roman las sich teilweise, als ob Theodor Fontane eine Geschichte skizziert hätte, aber er ist ein doch so eigenständiges, so intelligentes kleines Werk, dass man niemand heranziehen, sondern die Autorin schlicht loben muss!

Der Roman erschien erstmals 1913 und stammt von Alice Berend. Es ist Arnt Cobbers, der ein sehr lesenswertes Nachwort lieferte, zu verdanken, dass im Jaron Verlag dieser Roman, „Frau Hempels Tochter“, nun erneut erscheint.

Familie Hempel besteht aus der Hauswartsfrau Lina, die sich um das Haus der Familie Bombach kümmert und sich überall gern ein paar Pfennige hinzuverdient, die sie für ihre Tochter Laura spart. Herr Hempel ist Schuster und sie leben zu Beginn des Romans alle in der Kellerwohnung des Bombach-Hauses.

Laura soll es einmal besser haben. Und so schaffen es die Hempels tatsächlich, sich ein kleines Häuschen auf dem Lande an einem See zu erwerben, so wird es weiter aufwärts gehen und am Ende ist Linas Traum für ihre Tochter in Erfüllung gegangen. Mehr verrate ich hier natürlich nicht, die Geschichte hält einige Wendungen bereit und verläuft nicht so glatt, wie die kurze Zusammenfassung es vermuten ließe.

Was den Roman nun aber völlig aus der Sparte „Trivialliteratur“ heraushebt ist die Kunst der Autorin, die Geschichte immer wieder durch Kurzkommentare zu brechen: Sprichwörter oder eigene Gedankensplitter. Und dann hat Frau Berend über dies hinaus die Fähigkeit, mit nur wenigen Zeilen das Wetter oder die Situation zu beschreiben. Für beides gebe ich einige kurze Beispiele:

„Alles muss vorwärts auf dieser drehbaren Erde. Wenn wir nicht selbst bestimmen, dann werden wir bestimmt.“

„Kalte, graue Tage kamen, die gar nicht zu erwachen schienen und in Dämmerung hinschmolzen, bis sie die Nacht in den Sack steckte.“

„Laura musste die gnädige Frau häufig begleiten. Sie lernte mit Verwunderung, dass die Leute, die gar nichts zu tun haben, am wenigsten freie Zeit übrig hatten.“

„Gewohnheit war stets die Feindin des Fortschritts.“

„Gutmütigkeit ist eine unserer angenehmsten Dummheiten.“

„Aber auch Gedanken haben Hände. Sie greifen, fassen, zerren und zupfen uns. Wir wissen oft gar nichts mehr von ihnen, aber sie sind da.“

„In der Nacht hatte es wieder zu regnen begonnen. Die nächsten Tage brachten kühlen und feuchten Wind, und Blumen wie Menschen wussten nicht mehr, ob sie den schönen Sommertag erträumt oder erlebt hatten.“

„Werden und müssen sind die treuen Hilfsverben der Hoffnung.“

„Herr und Frau Bombach saßen in neuen hellen Sommerkleidern, aus denen ihre Gesichter verblichen und abgenutzt lächelten…“

„Wir täuschen uns selbst leichter als andere.“

„Zwei fremde Münder stießen plötzlich zusammen und konnten sich nicht mehr ausweichen. Es war unmöglich. Aber nichts ist schlimm, wenn man will, was man muss. _ Unabwendbarer Zufall aber wird auch im Bürgerlichen Gesetzbuch als höhere Gewalt angesehen und entschuldigt.“

So könnte ich weiter und weiter zitieren. Am besten ist allerdings, man lese diesen Roman selbst!

Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich Ihnen empfehle.

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