Achtung Triggerwarnung: Die Lektüre des nachfolgend besprochenen Buches könnte bei Neonazis Schäden hinterlassen! Möglicherweise stellen sie ihr eher schlichtes Menschenbild danach infrage.

Dieses Buch ist ein Sachbuch und dennoch kann man es auch als Roman lesen. Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Arbeit einer Reihe von Menschen, die im Jahre 1940 und Folgejahr erfolgreich viele politisch oder rassistisch verfolgte Menschen aus dem „unbesetzten“ Frankreich über die Pyrenäen durch Spanien nach Portugal schleusten und sie von dort in die USA und andere aufnahmewillige Staaten leiteten.

Uwe Wittstock, von dem ich hier vor einiger Zeit schon das Buch „Februar 33“ vorstellte, schildert nunmehr in „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“ das Schicksal vieler Menschen, der Verfolgung und dem sicheren Tod durch die Nazis zu entgehen. Er weist allerdings darauf hin: „Wer davon erzählen will, muss sich auf das Beispiel Einzelner beschränken. Doch das verfälscht das historische Bild. Neben jeder Person, die in diesem Buch erwähnt wird, standen Hunderte oder Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden. Mehr noch, manche der Schicksale, von denen hier erzählt wird, waren dicht verflochten mit Schicksalen, die nicht geschildert werden konnten, damit das Buch nicht ins Uferlose wuchs.“

Die Hauptrolle in diesem Buch  spielt der amerikanische Journalist Varian Fry. Es ist Wittstocks großer Verdienst, dass diesem Mann endlich ein würdiges Denkmal errichtet wurde. Fry leitete das Büro des Emergency Rescue Committee. In Marseille angekommen wird er ein Hilfskomitee gründen, das offiziell Flüchtlinge mit Geld und Sachspenden unterstützen wird, inoffiziell sich um die Schleusung bedrohter Flüchtlinge kümmert. Das Centre Américain de Secours wird bald zur letzten Hoffnung vieler Menschen. Offiziell sollten nur einige wenige berühmte Menschen, die auf Listen standen, die von Washington erarbeitet worden waren, aus der Lebensgefahr gerettet werden. Die Feuchtwangers sind hierfür ein Beispiel. Und ja, sie werden ebenso, wie Heinrich Mann und sein Neffe Golo gerettet. Wobei es spannend ist, zu lesen, wie unterschiedlich sich die Geretteten verhalten: „Natürlich war sich Feuchtwanger klar darüber, dass er Frys Organisation in größte Gefahr bringt, wenn er in der Zeitung Details über seine Flucht ausplaudert. Also hat er sehr geheimnisvoll getan, war aber dennoch unvorsichtig, von <amerikanischen Freunden> zu sprechen, die ihm falsche Papiere besorgt und ihn auf <einem Schmugglerpfad in den Pyrenäen> aus Frankreich herausgebracht haben.“

Für andere, wie Heinrich Mann. „ist die Vorstellung entsetzlich, Europa zu verlassen, den Kontinent der Kultur, der Vernunft und Aufklärung.“ In den USA angelangt, wird er jedoch kein Wort über die Flucht verlieren und andere in Gefahr bringen.

Alma Mahler-Werfel und ihr Mann Franz Werfel schaffen es ebenfalls, den Nazis zu entkommen. Sogar das zwischenzeitlich verloren gegangene Startkapital für die USA in Form von Originalpartituren von Mahler und Bruckner taucht wieder auf. Die Schilderung der Werfels, vor allem diejenige von Alma macht sie den Lesenden nicht sympathischer.

Andere Menschen auf der Flucht haben nicht das Glück der Rettung. Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid werden von den Nazis gefangen genommen und sterben beide in Konzerntrationslagern. Walter Benjamin nimmt sich das Leben ebenso wie Ernst Weiß.

Wittstock öffnet sein Konzept, nur über Literaten schreiben zu wollen, weil er im Wohnumfeld von Fry eine kleine Künstlerkolonie um André Breton und Max Ernst beschreiben muss. Die unglückliche Geschichte des Varian Fry, der sich mit zu vielen Menschen zerstreitet, dessen Abneigung gegenüber Autoritäten sympathisch ausgeprägt geschildert wird, muss schließlich mangels Rückhalts des amerikanischen Außenministeriums Frankreich verlassen. Seine Ehe scheitert, seine berufliche Laufbahn geht steil bergab. Mehr als 25 Jahre nach seinem Tod wird ihm von Yad Vashem der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen.

Der Kampf, den die Frauen und Männer um Fry ausgefochten haben, war auch einer gegen die „Herrschaft des Niemand“, wie Hannah Arendt, deren Weg in diesem Buch ebenfalls nachgezeichnet wird, die Bürokratie umschrieb.

Uwe Wittstock ist mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen.

Nachbemerkung: Seit einigen Jahren gibt es in Berlin eine „Varian-Fry-Straße“, die auf wenigen hundert Metern die Alte Potsdamer Straße mit der Potsdamer Straße verbindet. Nach wie vor gibt es in einem anderen Bezirk einen kilometerlangen „Hindenburgdamm“!

Eine Antwort

  1. Danke für die Rezension. Das Buch ist wirklich bewegend, auch verstörend, wenn man sich zu sehr „mitnehmen“ läßt. Harte Schicksale. Irrsinnige Bürokratie, z.B.: Auf den deutschen Überfall auf die Sowjetunion reagieren due USA damit, für deutsche Staatsangehörige die Einreise praktisch unmöglich zu machen. Ende selbst der wenigen „rescue visa“ für ausgewählte Prominente… Und – viele Menschen, die, gegen den Mainstream, helfen.

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