Ich war nach der Lektüre des ersten Teils der „Karlmann Renn Trilogie“ von Michael Kleeberg außerordentlich fasziniert von dem Können dieses Schriftstellers.

Nach der Lektüre des zweiten Teils „Vaterjahre“, besteht für mich kein Zweifel, dass der größte lebende Romancier deutscher Sprache dieser Autor ist. Mir ist rätselhaft, wie er keine Nominierung zum Deutschen Buchpreis bisher erhalten konnte, weshalb man ihm im Feuilleton keine Kränze flicht, sondern nahezu vollständig verschweigt.

In diesem Teil zwei erleben wir einen gereiften Charly, er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Am Anfang dieses Romans steht eine lange Diskussion mit seiner knapp sechsjährigen Tochter Luisa über den Tod, das Sterben, das nicht nur für ein Kind schwer verständliche Rätsel des Vergehens. Die Hündin muss eingeschläfert werden und Luisa versteht das nicht. Und Charly auch nicht so ganz: „Das Leben ist eine elende und ungerechte Schweinerei, und es kann jeden erwischen, zu jedem Zeitpunkt und nie, wenn man es erwartet, und Sinn macht es nie. Und er kann ihr auch nicht sagen: Du hast Grund, Angst zu haben. Ich habe sie auch.“

Und ihm schießt auch durch den Kopf: „Vielleicht ist es gar keine Angst. Vielleicht beginnt einfach, wenn man Kinder hat, die Vergänglichkeit sichtbar zu werden, und der feine Sand des Lebens rieselt aus der Schale deiner Hände, die doch fest verschränkt sind, hermetisch geschlossen scheinen.“ Er begreift auch, dass die Kinder nicht immer diese kleinen Wesen bleiben, sondern sich emanzipieren: „Das Göttliche, das Ehrfurchtgebietende, das Anbetungswürdige, die Unversehrtheit der Seele – von nun an wird das alles jeden Tag weniger werden, und irgendwann bist du ein Mensch, und wie fremd und ernüchtert und sehnsuchtskrank werden wir einander dann aus zunehmender Distanz anblicken.“ Bis man begreift, „…im Film des eigenen Lebens eine Nebenrolle zu spielen.“

Wir lernen Charlys Vorstadtidyll und den Lärm in diesem „Paradies“ kennen: „Das Getöse dieser Männerspielzeuge, das ohrenbetäubende Kreischen all der Geräte, die die Industrie den Hausbesitzern, all den Anwälten und Ärzten und Managern und Maklern, die nicht mehr jagen und töten und vernichten können und wollen, zur Sublimation ersonnen hat und damit wenigstens die Stille vergewaltigt werde, all dieser Kärchers und Stihls und Flexe, die bis zum Signal zur Attacke in ihren Geräteschuppen an den Häuserflanken ruhen und nach geschlagener Schlacht wieder in ihnen verschwinden – was bedeutet es? Was signalisiert es? Was teilt es uns mit?“

Wir erfahren über unseren „Helden“, wie er erkennt, dass es nicht nur um sein Leben geht, dass das Leben anderer auch existiert und gelebt wird, wenn wir nicht an diese anderen Menschen denken: „Und dann sind wir jedes Mal völlig verblüfft, dass ihr Leben ebenso wenig statisch ist wie das unsere, dass sie in unserer Abwesenheit (und während wir lediglich auf die Windböen des Lebens reagieren) Entscheidungen fällen, Veränderungen realisieren, dass sie Hoffmann’schen Puppen gleich ein nächtliches Eigenleben haben, während wir glauben, sie schlummern in ihrer Kiste, bis zu dem Moment, da wir sie herausnehmen.“

Wir erleben, wie er von einem Job zu einem anderen wechselt, wie er mit den Verwandten seiner Frau, sie stammt aus der ehemaligen DDR, nicht so richtig klarkommt. Wir erleben, wie er einen psychischen Zusammenbruch erleidet, aus dem er sich mit Hilfe seiner Frau und einer Therapeutin heraus lavieren wird.

Apropos DDR: Wir Lesenden nehmen an einem Besuch eines Teils der Familie bei Charly und seiner Frau teil. Charly bricht aus; er macht mit seiner Tochter einen Ausflug und weiß, wenn er zurückgekehrt sein wird, sind Schwiegermutter und ein Schwager nebst Familie wieder auf dem Weg nach Neubrandenburg. Durch seinen Bewusstseinsstrom können wir an seinen Gedanken teilnehmen, zum Beispiel über den spezifischen Geruch, auch über die weit verbreitete Larmoyanz und Kleeberg liefert nebenbei auch eine Erklärung, die in der aktuellen Debatte über die „Rechtslastigkeit“ der ehemaligen DDR-Menschen durchaus hilfreich erscheint:

  1. „Und es ist genau dieser Phenolgeruch, der in jener Wohnung aus den Wänden und dem Boden schwitzt und den man zunächst einfach für DDR-Muff hält. Es sind aber die Bodenbelagskleber auf Phenolbasis, die mit Phenolharzen gebundenen Spanplatten, die Teeröle auf Braunkohlebasis in der Fußbodenisolierung. All diese schleichenden, langsam austretenden giftigen Ausdünstungen chemischer Verbindungen, die länger gehalten haben als das System und ihm jetzt langsam hinterherkriechen.“
  2. „Wozu? Dass die dann gleich wieder kaputtgeht. Ist doch alles auf Bruch konstruiert heutzutage. Das kam ja alles mit der Einheit.“
  3. „Und wie passgenau und umstandslos, dachte er, war doch so manches Nazierbe in die DDR übergegangen. Sechzig Jahre lang keine Demokratie, spätestens die zweite Generation wusste nicht mehr, was das überhaupt ist, was erwartest du von den Leuten?“

Seine Tochter lässt sich gern zu dem Ausflug mit ihrem Vater überreden und der Autor denkt: „Glückliche Zeit, auch für Charly, glückliche Jahre, in denen zwischen Manipulation und Vertrauen, zwischen Natur und Steuerung, zwischen Glaube und Wissen, zwischen Ehrlichkeit und Flunkerei, zwischen Paradies und Erbsünde noch nicht unterschieden wird und auch nicht unterschieden zu werden braucht.“

Der Autor übrigens spielt mit uns Lesenden und wir lassen es uns gern gefallen: „Unterbrechen wir hier ganz kurz diesen Bewusstseinsstrom, bevor er so richtig zu strömen beginnt.“ Wir lächeln und lesen weiter, weil wir gar nicht genug bekommen von diesem erzählerischen Meisterwerk!

Charly und sein Freund Kai spielen Golf und ich möchte diese Seiten über das Spiel nicht missen; Kai und Charly besuchen Ines, eine alte Freundin von Charly, aber dazu müsste man den ersten Teil noch einmal in die Hand nehmen. Ines war mit Jobst verheiratet, nun lebt sie in Potsdam an der Seite ihres zweiten (sehr wohlhabenden) Gatten mit ihren zwei Kindern in einer geräumigen Villa. Jobst ist abgestürzt, am unteren Ende angelangt und sucht immer wieder die Hilfe seiner früheren Frau. Mehr verrate ich hier nicht, aber allein diese „Jobst-Novelle“ ist ein literarisches Meisterstück!

Der zweite Teil dieser Trilogie endet mit dem elften September 2001 und Charly stellt seine beruflichen Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis. Und da Michael Kleeberg ein ganz großer Autor ist, kommt er zurück auf die Hündin Bella, die eingeschläfert werden soll. An diesem Tage, abends, im Beisein der Familie und Charly beweist große pädagogische Fähigkeiten, er ist ein guter Vater.

Und wir Lesenden freuen uns auf den letzten Teil der Trilogie und behalten im Gedächtnis: „Da das Leben, wie irgendein kluger Geist bemerkt hat, eine Generalprobe ist, der keine Aufführung folgt, muss man natürlich alles spielen und improvisieren, und hinterher ist es dann das Leben gewesen.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert