Was für wundervolle Wörter die deutsche Sprache doch bereithält: Mutmaßung ist so ein Wort. Es ist stärker als der Begriff Annahme und die nebulöse Umschreibung „etwas für wahrscheinlich halten“. „Mutmaßungen über Jakob“ hat Uwe Johnson seinen Roman überschrieben, der mit dem sehr einprägsamen Satz beginnt: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ Jakob Abs, der Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn, der im Stellwerk arbeitete, den Zugverkehr zu regeln hatte, wird Opfer eines Unfalls oder ist es ein Selbstmord? Das Leben Jakobs wird aufgeblättert. Das Leben in der frühen DDR geschildert. Der Tod Jakobs geschieht im Jahre 1956, der Ungarn-Aufstand ist gerade niedergeschlagen worden, Die Briten und Franzosen besetzen den Suezkanal.

Noch ist die Grenze von Ost nach West durchlässig. Jakobs Mutter geht in den Westen. Jakob wird sie besuchen, denkt aber nicht daran, ebenfalls im Westen zu bleiben, obwohl hier seine große Liebe inzwischen lebt und bei den Amerikanern arbeitet. Gesine ist mehr für ihn als die kleine Schwester, die er nie gehabt hat, aber auch diese Liebe kann ihn nicht an der Rückkehr hindern. Gesine weiß, „dass Freiheit nicht das Anderskönnen bedeutet, sondern das Andersmüssen.“ Daher konnte er nicht unverändert als der große Bruder die Zeit überdauern.

Das Wetter im Herbst wird immer als grau, als regnerisch und voller Nebel beschrieben. Sonnenstrahlen meiden offenbar die DDR.

Der Roman ist Vollkornbrot. Man muss sich durch den Text beißen, ihn zerkauen, um ihn verdauen zu können. Es treten viele Stimmen auf, die das Leben von Jakob beschreiben. Einige Stimmen lassen sich zuordnen, andere nicht. Der Text ist atemlos, keine Pausen, nichts zum Festhalten, zum Verschnaufen. Aber der Text vermag die Lesenden zu fesseln, auch heute, nachdem die DDR Geschichte ist und wir etwas aus einer Zeit lesen, die fast siebzig Jahre zurückliegt. Und dann stolpere ich über den in der Überschrift zitierten Begriff vom „menschlichen Glücksverlangen“ und mir erschließt sich der ganze Text neu. Vielleicht hätte die Führung der DDR, Romane „ihrer“ Schriftsteller doch lesen sollen, statt die Romane zu verbieten und die „Kulturschaffenden“ aus dem Land zu drängen.

Dies ist die eigentliche Erkenntnis, die sich nach der Lektüre bei mir einstellte.

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