Das waren noch Zeiten als man sich Briefe schrieb.

Rainer Maria Rilke lebt in Paris und schreibt seiner Frau Clara im Oktober 1907 täglich einen Brief nach Worpswede (sie wird sie viel später als „Briefe über Cézanne“ herausgeben). Er ist schon längere Zeit in der Seine Metropole. Im Jahr zuvor war er für einige Monate Sekretär Auguste Rodins. Jetzt arbeitet er an Gedichten und dem Laurids Brigge, seinem einzigen Roman. Im Oktober gibt es in Paris eine Gedächtnisausstellung für den Maler Paul Cézanne, der ein Jahr zuvor verstorben war. Der Salon d’Automne im Grand Palais zeigte in zwei Sälen Werke des großen Malers.

In einem Brief berichtet er von einem (imaginiert er einen?) sonntäglichen Spaziergang durch den Faubourg Saint-Germain an den alten Adelsvillen entlang und der Lesende muss aufpassen, nicht in einen anderen Roman abzudriften, der zu dieser Zeit im Entstehen ist. Ich schweife jetzt ab und verlasse Proust sofort wieder. Rilke wird seinen Sonntagsspaziergang jedenfalls im Herbstsalon beenden.

Nun kehrt er häufig in den Salon zurück. Besichtigt die Gemälde mit Julius Meier-Graefe und Harry Graf Kessler. Und es lenken ihn die Besuchenden von den Bildern ab: „Du weißt, wie ich auf Ausstellungen immer die Menschen, die herumgehen, so viel merkwürdiger finde als die Malereien. Das ist auch in diesem Salon d’Automne so, mit Ausnahme des Cézanne-Raumes. Da ist alle Wirklichkeit auf seiner Seite: bei diesem dichten wattierten Blau, das er hat, bei seinem Rot und seinem schattenlosen Grün und dem rötlichen Schwarz seiner Weinflaschen. Von welcher Dürftigkeit sind auch bei ihm alle Gegenstände: die Äpfel sind alle Kochäpfel und die Weinflaschen gehören in rund ausgeweitete alte Rocktaschen.“

Apropos Lebensmittel in den Stillleben: „Bei Cézanne hört ihre Essbarkeit überhaupt auf, so sehr dinghaft wirklich werden sie, so einfach unvertilgbar in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit.“

Und von nun an schreibt er in den nächsten Briefen immer über den alten Mann aus Aix; und über sich. So verabschiedet er sich in einem Brief: „Draußen regnet es verschwenderisch, nach wie vor. Leb wohl … morgen spreche ich wieder von mir. Aber Du wirst wissen, wie sehr ichs auch heute getan habe …“

Wie wundervoll diese Briefe trotz oder gerade auch wegen ihrer Ichbezogenheit sind, müssen die Lesenden selbst herausfinden. Heute wird niemand mehr in einer Nachricht auf Signal so ins Schwärmen geraten und dabei von den Gemälden Cézannes inspiriert zu sein: „Eine große, fächerförmige Pappel spielte blätternd vor dem nirgends aufliegenden Blau, vor den unvollendeten, übertriebenen Entwürfen einer Weite, die der liebe Gott ohne alle Kenntnis von Perspektive vor sich hinhält. … Es weht, es verwandelt sich, und es hat Augenblicke glücklicher Vergeudung ab und zu.“

In den folgenden Tagen beschreibt er Gemälde Cézannes. Meine kleine Taschenbuchausgabe enthält Farbtafeln und man kann so das Gemälde mit der Beschreibung vergleichen: Wundervoll!

Der Herbstsalon wird geschlossen und Rilke geht auf Reisen. Er erinnert sich an ein Stillleben und will das „Bild nochmals durchsehen“. – „Doch der Salon besteht nicht mehr; in wenigen Tagen folgt ihm eine Ausstellung von Automobilen, die, jedes mit seiner fixen Idee von Schnelligkeit, lang und dumm dastehen werden. Leb wohl für heute …“

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