Kann man Leben und Werk eines nahezu neunzigjährigen Künstlers auf knapp 120 Seiten (Taschenbuchformat) adäquat würdigen?

Wilhelm Schlink in der C. H. Beck Wissen Reihe unternimmt diesen Versuch zumindest. Dabei orientiert sich der Kunsthistoriker mehr an die Werke des Malers Tizian als an Ereignisse im Leben dieses Künstlers. Die gemeinsame Lehrzeit mit Giorgione bei Bellini wird in einem Satz abgehandelt, dann allerdings schildert der Autor die Bedeutung Giorgiones für Tizians künstlerischer Entwicklung verhältnismäßig ausführlich: „Giorgione war als Künstlertyp das Gegenteil von Giovanni Bellini. Galt dieser schon den Zeitgenossen als eine Art Unternehmer, der sich mit Kirchen und Klöster, der Signoria und den großen Familien Venedigs in gutes Benehmen setzte, um seiner Werkstatt ein möglichst großes Auftragsvolumen zu sichern, charakterisieren die Vitenschreiber jenen als einen ungebundenen jungen Mann, der Lautenspiel und Liebschaften, Geselligkeit und Tanz ebenso zugetan war wie der Malerei. Seine Gemälde sind nicht groß, aber die neuen, oftmals rätselhaften Bildthemen, die verträumten und unnahbaren Mienen ihrer Gestalten, die unwirkliche Stillstellung der Figuren in der Landschaft und nicht zuletzt die Wiedergabe natürlicher weiblicher Schönheit hatten der mit Kirchenbildern alt und träge gewordenen Malerei Venedigs neuen Schwung gegeben; selbst der alte Giovanni Bellini konnte sich diesem nicht entziehen.

Wie nah sich Giorgione und Tizian in künstlerischer Hinsicht standen, zeigt sich schon daran, dass zahlreiche Gemälde bukolischer Thematik, aber auch Genrebilder und Porträts seit Jahrhunderten bald dem einen, bald dem anderen zugeschrieben werden.“ Es ist bedauerlich, dass diese Zusammenarbeit durch Giorgiones frühem Tode jäh beendet wurde.

Tizian war, so entnehmen die Lesenden dem Band, ein geschickter Kaufmann: „Tizians finanzielle Verhältnisse waren glänzend; allein die Renten, die er von der Serenissima, von Karl V. und schließlich Philipp II. bezog, lagen mit 700 Scudi jährlich über dem Einkommen der höchsten Regierungsbeamten der venezianischen Republik.“

Wir erfahren, dass sich Tizian eines Mittels bediente, „das schon Raphael mit großem Erfolg angewandt hatte: seine wichtigsten Bilderfindungen durch Reproduktionsstiche weithin bekannt zu machen.“

Wir lernen auch, dass Tizian „alla prima“ malte, also selten die Leinwand mit einem genauen Entwurf vorfertigte. Schlink unterteilt sein Buch dann in die Segmente, die das Werk des Meisters bestimmen: die Bilder mit religiösem Hintergrund, die mythologischen Gemälde, die Porträts und die Abbildungen der „Frauenschönheit“.

Ein herausragendes Beispiel für diese letzte Abteilung ist die „Flora“, die in den Uffizien zu bewundern ist und ich erinnere mich gern daran, wie ich staunend vor diesem gar nicht besonders großem Gemälde vor langer Zeit stand.

In der Berliner Gemäldegalerie schaute ich mir gerade wieder sein Selbstbildnis an, das ausschnittsweise auch den Umschlag des kleinen Bandes ziert. Da schaut ein alter, wohlsituierter Mann mit einem goldfarbenen Hemd zufrieden und ein wenig skeptisch in die Zukunft.

Die oben gestellte Frage bejahe ich; dieser schmale Band bringt den Lesenden das Werk eines großen europäischen Künstlers näher!

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