Warum beginne ich die Romane von Michael Kleeberg erst jetzt kennenzulernen?

Weil ich erst jetzt von deren Existenz erfahren habe.

Kleebergs Roman „Dämmerung“ wurde in der Presse besprochen, ja gefeiert. Ich erfuhr, dass dieser Roman der letzte Teil einer Trilogie sei, die mit dem Roman „Karlmann“ ihren Anfang genommen habe.

In diesem Roman wird der bundesdeutsche Alltag zwischen Juli 1985 und November 1989 (!) beschrieben. Im Mittelpunkt steht Karlmann Renn, der Jahre benötigt hat, bis alle Welt ihn Charly nennt. Wir kennen sogar den Tag genau an dem die Romanhandlung einsetzt: Es ist der 7. Juli. An diesem Tag heiratet am Morgen Charly standesamtlich Christine; am späten Nachmittag wird die Hochzeitsfeier stattfinden. Dazwischen schauen sich Charly und seine Freunde im Fernsehen das Finale im Herreneinzel in Wimbledon an. Boris Becker wird am Ende mit 3:1 Sätzen Kevin Curren geschlagen haben.

Kleeberg schildert auf den ersten sechzig Seiten dieses Match und verwebt es mit den Gedanken an die Hochzeitsfeier, an die Zukunft und zieht dich hinein in das Geschehen. Du liest es, du bist Teil des Geschehens, zumal der Autor zwischen Ich-Erzähler, einem allwissenden Berichterstatter und einem Charly ansprechenden Autor changiert. Und du bleibst bei diesem Roman, kannst nicht loslassen, klebst wie eine Fliege am geleimten Fänger, willst auch gar nicht loskommen, weil es auch Teil deiner Geschichte ist, die vor dir ausgebreitet wird. Und nach 470 Seiten ist das Buch zu Ende, nicht aber die Geschichte.

Die Lesenden tauchen ein in die Familie Renn, werden sich Zeit nehmen, die einzelnen Figuren kennenzulernen. Vater Karl vorneweg. Die Lesenden erwartet nicht nur die Schilderung von Blümchensex, nein hier geht es anders zur Sache. Und der Roman verspricht sehr lustige Schilderungen, auch in diesen erkennst du dich teilweise wieder.

Der Roman verhandelt auch die „großen“ Themen, beispielsweise die Sehnsucht nach Herkommen und Fortgehen: Die Sehnsucht „des Eingesessenen nach Aufbruch, seine unerklärliche, selbstzerstörerische Lust darauf, die Nabelschnur zu durchschneiden, um die Chimäre Freiheit zu gewinnen. Denn ist es nicht so, dass alle fortwollen, obwohl sie wussten, das Glück, das sie zurückließen, wäre auf immer verloren, und was immer sie gewinnen würden, ließe sie dennoch untröstlich? Wollten Adam und Eva nicht hinaus aus dem Garten Eden? Wollte Odysseus nicht fort aus Ithaka? Und du erinnerst dich selbst an solch eine mystische Reise durch diese Gefilde, die zugleich ein Hinein und ein Hinaus war, eine Sehnsucht nach Herkommen und Fortgehen.“

Wir sehen uns mit Weisheiten konfrontiert: „Die Zeit der Arbeit ist der gigantische weiße Fleck im Zentrum der Lebenslandkarte.“ Und wir sehen uns mit den beiden Ich konfrontiert, wo „ein permanenter Konflikt herrscht zwischen dem Denken, Handeln und Sprechen, das der Arbeit dient und dessen Zweck ihre Erledigung ist, und dem sein Recht einfordernden Ich, das sich viel stärker dafür interessiert, wie diese Arbeit es beeinträchtigt.“

Und wenn der Autor eine Gesellschaft beschreibt, die vermeintliche Notwendigkeit, von Gruppe zu Gruppe sich zu bewegen und mit allen oder zumindest vielen einmal gesprochen zu haben, dann nennt er dies: „ein Schmetterlingstanz von Konversationsblüte zu Konversationsblüte“.

Und wenn man nach der Bedeutung des Jungen auf dem Sprungbrett für diesen Roman fragt, muss man einen langen Atem haben und wird feststellen, dass selbst dieses „Titelbild“ genial ausgesucht wurde.

Ein grandioser Text erwartet die Lesenden auch fast schon am Ende dieses Romans, wenn es um die Seele geht, was „kein Organ wie die anderen und physisch nicht zu greifen ist“. Und das ganze Lamento kulminiert augenzwinkernd in dem Satz: „Die absolute Gleichgültigkeit des Kosmos gegenüber deiner Misere ist schon eine Unverschämtheit.“

Dieser Roman ist ein riesiges Stück Literatur. Vergesst alle diese Fitzeks, Rossmanns und Zehs.

Lest diesen fulminanten Roman; ich freue mich schon auf die Lektüre des zweiten und dritten Teils.

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